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Aktuelles Heft

INHALT #195

Titelbild
Editorial
• das erste: Selbstüberschätzung at its best
• das erste: Idealisten am Zügel der Kulturindustrie
Dritte Wahl
Infoveranstaltung zum Antifacamp in Dortmund
Sleep, A Storm of Light
„Many Faces“
Leipzig lebt HipHop
Was kostet die Welt
Rosen für den Staatsanwalt
Blood Red Shoes
Mythos der Stadt
Summerclosing Party
• teaser: Mai 2012 im Conne Island
Editors welcome!
• sport: Flucht vor dem Boykott
Ausstellung: Was damals Recht war
• doku: In Halle werden die Dummen nicht alle!
• review-corner buch: „Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist“(1)
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• neues vom: Neues… von der Straße

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„Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist“(1)

Buchbesprechung und Meinung zum Sammelband „Nie wieder Kommunismus?“

Wer vom Kommunismus redet, darf von Realsozialismus und Stalinismus nicht schweigen. So oder so ähnlich lautete der wohl häufigste Satz des Sammelbandes Nie wieder Kommunismus?, den die Gruppe INEX im Frühjahr 2012 im Unrast Verlag herausgegeben hat. In der Formulierung vom Reden und Schweigen findet sich die ganz offensichtliche Intention der Leipziger Initiative gegen jeden Extremismus-Begriff, sich kritisch mit der Vergangenheit der Linken auseinanderzusetzen. Die Antriebskraft für diese politische Fokussierung auf den historischen Kommunismus stellt vermutlich nicht nur für die INEX eine einfache wie komplizierte Formel dar: Positioniere dich gegen den real existierten Sozialismus und Stalinismus, denn nur so kannst du dich eventuell positiv auf ein kommunistisch geprägtes Utopiebild beziehen. Oder etwas weniger platt und mit den Worten der Herausgeberinnen(2) formuliert „bekommt die Abgrenzung gegenüber Stalinismus und Realsozialismus [auf der Suche nach einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation] eine neue Relevanz.“ Dass diese Abgrenzung nicht nur eine symbolische, sondern eine ganz grundsätzliche und inhaltliche sein muss, ist den Herausgebern wichtig. Dies bedeutet auch, dass es mit einer vereinfachten Gegenüberstellung gute Idee – schlechte Umsetzung, sprich der traditionellen Linken liebster Argumentation zum Kommunismus, nicht getan ist. Kommunismus als utopische Beschreibung einer menschenfreundlichen Gesellschaft und Kommunismus als real gewordener Terror sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille und die von Linken immer wieder versuchte inhaltliche Doppelbesetzung des Begriffes ist nichts weiter als der bequeme Versuch sich der politischen Vergangenheit zu entledigen. Vor diesem Hintergrund kommt dem Sammelband Nie wieder Kommunismus? der Gruppe INEX also eine schwere Aufgabe zu, die da wäre, einerseits den Realsozialismus zu kritisieren ohne dabei andererseits in die verführerische Falle zu treten, die Kritik des historischen Sozialismus als wild card für sozialistische Revolutionsträumereien zu nutzen. Denn auch wenn die Kritik des real da gewesenen Sozialismus essentiell für jede weitere Beschäftigung mit Kommunismus ist, so kommt man damit allein noch keinen Schritt näher an eine von Gewalt und Unterdrückung emanzipierte Gesellschaftsform. Dass die umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit des Kommunismus nicht nur die Aufarbeitung des Realsozialismus und Stalinismus beinhalten, sondern auch nach Blindstellen fragen muss, die schon in den zentralen Werken Marxs (so der Beitrag Die Politik des Kommunsimus von Christian Schmidt) sowie ebenso in den ersten Tagen nach der Oktoberrevolution 1917 liegen, kommt aus der Lektüre des Sammelbandes heraus.



Der gespenstische Schatten der historischen Realität

Mit ihrer Publikation folgt die INEX dem Trend der letzten Jahre, in denen sich linksradikale Kreise wieder verstärkt kritisch mit real existierenden sozialistischen Gesellschaftsmodellen beschäftigt haben und dabei oft nach dem Umschlagpunkt von politischer Emanzipation in politischen Terror gesucht haben, um unter Umständen aus den Erkenntnissen die richtigen Schlussfolgerungen für eine mögliche Gesellschaftsumformulierung zu ziehen. Auch hat die verstärkte Auseinandersetzung mit DDR-Sozialismus dazu geführt, die früher von Linken recht unkritische Bezugnahme auf Kommunismus basierend auf der bequemen Trennung von Realsozialismus und theoretischem Kommunismus zu korrigieren. Über die Sichtweise der traditionellen Linken, den Punkt des Umschlagens von Befreiung in erneute Verknechtung und Unterdrückung erst mit dem Aufkommen des Stalinismus zu verknüpfen, ist man heute hinweg. Die Etablierung einer kommunistischen Parteidiktatur und das Zermürben der Räte waren schon unter Lenin Teil der autokratischen Machtpolitik der Bolschewiki. Das stellvertretende Paradebeispiel dafür ist auch im Sammelband der INEX die gewaltsame Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands. Lenin und Trotzki beantworteten 1921 die Forderungen der Kronstädter Matrosen nach der Dezentralisierung der politischen Macht und Stärkung der Räte (Alle Macht den Räten – keine Macht der Partei) mit den Waffen der Roten Armee, um die Macht der Partei zu erhalten. Spätestens hier muss man das Scheitern des Kommunismus als Befreiungsversprechen von Unterjochung und machtpolitischer Willkür wie Gewalt verorten. Das Scheitern des Kommunismus wird aber auch 1917 schon deutlich. In einem seiner Kerntexte/referate deutete dies der Blogger Daniel Kulla mit der dialektischen Fragestellung 1917 Anfang und Ende des Kommunismus? an. Ganz sicher wäre Kulla mit seiner historischen Fokussierung auf das Jahr 1917, einem der Kristallisationspunkte vom Umschlagen der Idee in Ideologie, ebenfalls ein passender Autor für den Sammelband der INEX gewesen, was er etwas überraschend nicht ist. Dafür zeigt das Autoren- und Autorinnenkollektiv Che Buraska mit ihrem Debattenbeitrag In der Sackgasse anhand einer Diskussion um Nationalismus in der Sowjetunion, dass „das bolschewistische Projekt schon 1917 kein emanzipatorisches war.“ Che Buraska kritisiert den immanenten Nationalismus der bolschewikischen Vorstellung eines kommunistischen Russlands. Im Beitrag wird gezeigt, wie wichtig vor allem auch für Lenin, auf dessen Person sich Linke doch immer wieder gern beziehen, der Nationalismus als Antriebswelle für die Revolution war. Lenin hatte kein Problem mit einem nationalistischen Staatsgefüge und Herrschaft, „sondern nur mit falscher Herrschaft“, die in den Händen der KapitalistInnen lag, bzw. mit übersteigertem Nationalismus (Chauvinismus). Daran anknüpfend zieht Che Buraska Parallelen zur heutigen Sichtweise der bürgerlichen Gesellschaft, in der Patriotismus gut ist, Nationalismus als übersteigerte Form dessen aber schlecht. Auch die Diskriminierung zwischen Sowjetbürger und Ausländerin in der Sowjetunion wird von Che Buraska kritisiert – ein Umstand, der vielen deutschen Kommunisten nach 1939 das Leben kostete. Was den Text In der Sackgasse aber zum besten des ganzen Buches macht, ist nicht allein die gelungene inhaltliche Zusammenstellung zum Sowjetnationalismus sondern auch der sprachliche Charakter des Beitrages. Mit einer weniger steifen Sprache und teilweise rotzigen Formulierungen, verlassen die Autoren und Autorinnen des Textes den Sachbuchcharakter des Sammelbandes. Diese lockere Art und Weise der Schriftführung – man könnte sie überspitzt formuliert auch als jugendlich bezeichnen – tut dem Buch definitiv gut und bildet einen gelungen Gegenpart zu den meist sehr sachlich formulierten weiteren Beiträgen.
Dass allerspätestens der stalinistische Terror der 30er Jahre jeglichen Restfunken an emanzipatorischem Potential des Kommunismus erstickte, ist unumstritten. Dennoch gibt es nach wie vor Linke, die im Großen Terror der Ära Stalins nur einen Machtexzess sehen, oder gar Stalins Argumentation selbst folgend,behaupten, dass der Terror als episodisches Phänomen zur Stabilisierung und Durchsetzung des Kommunismus eine Notwendigkeit war. Dieser Auffassung widerspricht Christoph Jünke in seinem Buchbeitrag Schädelstätte des Sozialismus deutlich und zeigt mit einer Mischung aus Faktendarstellung sowie deren historischer Einordnung und Wertung, dass Terror in der stalinistischen Sowjetunion systemimmanent und keine fehlerhafte Übergangslösung (was die Sache ohnehin nicht besser machen würde) war.

Sozialismus heißt Maskulinisierung

Bezüglich der Geschlechterrollen wird der sozialistischen Revolution in Russland gern eine gewisse Fortschrittlichkeit und Emanzipation angedichtet. Und tatsächlich brachte die in der sozialistischen Theorie vorgesehene weibliche Lohnarbeit das kleinbürgerliche und patriarchale Familienmodell zumindest ins Wanken und mit ihm die männliche und weibliche Rollenzuschreibung bei der Organisation der Arbeit. Auch gab es im Fahrwasser der russischen Revolution eine gewisse liberale Stimmung, die gleichgeschlechtliche Zuneigung und das Überteten der Geschlechtergrenzen zuließ (besser gesagt: abhängig von der Region Russlands zumindest nicht verfolgte und bestrafte). Beiden Punkten stimmt Bini Adamczak in ihrer Abhandlung Hauptsache Nebenwiderspruch – Geschlechtliche Emanzipation und russische Revolution bis zu einem gewissen Punkt zu. Aber vor allem auf die Überschreitung der Geschlechtergrenzen und das verlassen klassischer Rollenbilder bezogen galt dies laut Adamczak nur unidirektional. Transmännlichkeit, die Einnahme männlich geprägter Verhaltensweisen durch Frauen, galt den Bolschewiki schon aus der Nützlichkeit für die sozialistische Gesellschaft und das Militär heraus als, sagen wir, tolerierbar und auch erwünscht. Transweiblichkeit hingegen wurde als „bürgerlich-dekadent“ und als „mentale Infektion“, die zur Schwächung (weil Feminisierung) der sozialistischen Gesellschaft führe, angesehen und abgelehnt. Daraus leitet die Autorin ab, dass die teilweise Auflösung klassischer Rollenbilder in der Sowjetunion nur akzeptiert war, wenn sie in Richtung Männlichkeit (definiert als Stärke, Fortschritt und Effizienz) ging. Die Anpassung aller Menschen an als männlich angesehene Eigenschaften war Teil der sozialistischen Geschlechterpolitik und die Losung der Französischen Revolution „Alle Menschen werden Brüder“ hätte wohl wortwörtlich auch auf die russische Revolution gepasst. Die kommunistische Gesellschaft, so das Fazit der Autorin, „war wesentlich keine Gesellschaft der Männer, sondern eine männliche Gesellschaft, eine Gesellschaft der Männlichkeit.“

Nie wieder Kommunismus?

Bildet man die Essenz aus der Diskussion um Realsozialismus, kommunistischer Gesellschaftsutopie und der Frage nach dem Ausweg aus der kapitalistischen Gesellschaft, so landet man wohl am Ende meist bei der Frage nach der Bezugnahme auf den Kommunismus. Vereinfacht formuliert bleibt dabei zu debattieren, welche Interpunktion bei der Bezugnahme auf den Kommunismus die richtige ist. Nie wieder Kommunismus? Nie wieder Kommunismus. oder Nie wieder Kommunismus!
Aus einer emanzipatorischen Perspektive und unter Berücksichtigung der real gewordenen sozialistischen Bestrebungen und des Stalinismus sind Antistalinismus und die Ablehnung der da gewesenen kommunistischen Projekte die Grundlage jeglicher weiteren Debatte. Dass dies auch zu einer dem Kommunismus konträren Sichtweise führen kann, die nicht reflexartig nach der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft schreit und mit McCarthy oder Joachim Gauck nichts zu tun hat, muss dabei als legitime Möglichkeit zur Diskussion stehen. Zu einer unaufgeregten Diskussion um die befreite Gesellschaft gehört zum einen den Kommunismus nicht zu verteufeln, so wie es ebenso dazu gehört eine grundsätzliche Kritik am Kommunismus nicht zu verunmöglichen. In diesem Kontext plädiert Sebastian Tränkle in seinem Text Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und die Debatte um revolutionäre Politik und Moral dafür, den Roman Sonnenfinsternis aus seiner falschen Kronzeugenposition zu befreien. In der klassisch linken Rezeption gilt Koestlers Buch, das die Moskauer Schauprozesse der 30er Jahre thematisiert, als antikommunistische Propaganda und Hirngespenst eines geläuterten Kommunisten. Tränkle aber möchte zeigen, dass Sonnenfinsternis „als eine differenzierte literarische Auseinandersetzung mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus und ihren stalinistischen Auswüchsen gelesen werden kann“ und dass es dem Roman „weniger um eine Dämonisierung etwa der Idee des Kommunismus als um die Suche nach einer Antwort auf die politische Frage danach [geht], warum das Projekt der bolschewistischen Revolution im eigenen Blut erstickt wurde.“ Mir gegenüber gelang dieses Vorhaben dem Autor dahingehend, dass ich seiner nicht ausformulierten Literaturempfehlung folgen werde und meinerseits den Beitrag Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und die Debatte um revolutionäre Politik und Moral zum Lesen empfehlen möchte. Der Text von Sebastian Tränkle gehört ganz sicher zu denjenigen Texten, die man sich nach einem kurzen Überblick über das Inhaltsverzeichnis eines Sammelbandes als erstes zur Lektüre vornimmt und der alleine schon im Buchladen die Entscheidung zum Erwerb beeinflussen kann.
Der Kommunismus war und ist eine Utopie. Wie schnell und derb Utopie in Ideologie, Terror und in das Gegenteil ihrer Anspruches umschlug und umschlagen kann, lässt sich sowohl über den ganzen Sammelband der INEX verfolgen, oder aber kann partiell am DDR-Sozialismus nachvollzogen werden. So zeigt Ulrike Breitensprecher im Beitrag mit der besten Überschrift des Sammelbandes (Vom Faustkeil zum Atomkraftwerk), wie sich das Utopie-Versprechen der DDR in Arbeitsethos und kultureller Unfreiheit auflöste.
Die Massakrierung des Utopiebegriffes, die historische Realität und der Terror (im Namen?) des Kommunismus lassen vielleicht den Punkt zum passenden Satzzeichen hinter Nie wieder Kommunismus. werden. Warum dennoch auch ein Fragezeichen hinter Kommunismus stehen kann, ist einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass der Kapitalismus ein Problem darstellt. Vielleicht nicht für die meisten hier Lesenden, wohl aber für die Mehrheit der Menschen. Die These vom Feindes-Feind und der Dualismus Kommunismus-Kapitalismus scheinen in der Diskussion um eine bessere Gesellschaft aber in eine Sackgasse zu führen. Über die Utopie des ganz Anderen wird viel zu selten nachgedacht. Seien wir also realistisch wie mutig und fordern das Unmögliche, das vielleicht das ganz Andere ist.

Bruno

Anmerkungen

(1) Formulierung aus Sebastian Tränkles Beitrag Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens des zu besprechenden Buches geklaut. Das Zitat entstammt original aus Heiner Müllers Revolutionsdrama Mauser.

(2) Jenseits der im Text alternierend gewählten männlichen oder weiblichen Formen der Substantive, sind jeweils meist alle Geschlechter gemeint.

01.05.2012
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