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Aktuelles Heft

INHALT #176

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Editorial
• das erste: Am Anfang war die Tat
Rockwell
The Chariot, I Wrestled A Bear Once, The Eyes of a Traitor
Im zweiten Anlauf…
TRASH – A never ending Story
Motorcitydubs
These Boots Are Made For Stomping...
Turbostaat
Die Welt ist sehr chaotisch geworden
Johnossi
la familia y amigos festival
Nichts Neues im Westen? Doch!
The Casting Out
Alkaline Trio
The Sonic Boom Foundation
The Bronx & Mariachi El Bronx
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• doku: Mit der Rolle in der Wolle
• doku: In Bewegung – know your feminist history
• doku: And we're running down the backstreets – Oi! Oi! Oi!
• ABC: S wie Surrealismus
• review-corner film: Dreamworks statt teamWorx!!!
• kulturreport: Deutlich auf der Seite des Guten
Die verkürzte Deutschlandkritik
• doku: Eskalation in Sachsen
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Deutlich auf der Seite des Guten

Über den neuen und ersten Gedichtband von Georg Kreisler

In Deutschland und Österreich wurde er lange auf seine satirisch-sarkastischen Chansons reduziert, doch dieses Bild von Georg Kreisler müsste sich spätestens seit dem Ende seiner öffentlichen Interpretationen dieser Lieder gewandelt haben. Nach zahlreichen Romanen, Essays, Satiren und Inszenierungen eigener Theaterstücke und Opern ist nun erstmals ein Gedichtband von ihm beim Verbrecher Verlag erschienen. Ernst genommen mit der Trennung der Kunstformen und der Spaltung von Kunst und kompromissloser Kritik hat es Kreisler hingegen nie. Kaum jemand vermag es, diese Distanzlosigkeit so zum Ausdruck zu bringen wie eben Georg Kreisler – aus den richtigen Gründen. Zusammen mit seiner Frau Barbara Peters stellte er am 21. März diesen Jahres sein neuestes Buch, den Gedichtband „Zufällig in San Fransisco – Unbeabsichtigte Gedichte“, im Centraltheater in Leipzig vor. Eine Auseinandersetzung mit dem Autor und seinem neusten Werk.

Georg Kreisler gibt es gar nicht. So zumindest der Titel einer Biographie von 2007 über den vermeintlichen Grantler mit den bösen Liedern, der sich in Interviews oft lediglich als Schriftsteller bezeichnet, eigentlich aber Musiker, Kabarettist, Komponist, Satiriker, Intellektueller und vieles mehr ist. Er hat meines Erachtens heutzutage noch eine andere Relevanz für den deutschsprachigen Kulturbetrieb, als dass er lediglich die soeben genannten Professionen ausübt. Er ist ein Humanist und in gewisser Weise ein Zeitzeuge, der den Finger in die nationale und ja, spießbürgerliche Wunde legt.

Georg Kreisler wurde als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts und dessen Frau Hilde 1922 in Wien geboren. 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, wurde ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt und er musste mit seiner Familie über Genua und Marseille in die USA emigrieren. So entkam er jedoch glücklicherweise den Vernichtungslagern der Nazis. Georg Kreisler hätte es also eigentlich schon gar nicht mehr geben sollen. Unberufen, er hat bis heute die österreichische Staatsbürgerschaft nicht wiedererlangt, gibt es ihn noch, er ist jetzt 88 Jahre alt und in seinem Schaffen frappierend aktuell. Er thematisiert wie kein zweiter deutschsprachiger Künstler eine Vielzahl von Missständen der Einrichtung der Welt, die im Kulturbetrieb längst in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Um Georg Kreisler zu verstehen, muss man die Erfahrungen seiner frühen Lebensjahre betrachten. Die Alltäglichkeit des Antisemitismus im Wien seiner Kindheit und Jugend und der dann folgende, tödliche Judenhass der Nazis („Das war eine ganz andere Art von Antisemitismus, als wir ihn vorher erlebt hatten“(2)), prägten und prägen bis heute das Schaffen Georg Kreislers. Sie sind unter anderem Motiv seiner Kunst und finden auf vielfältige Weise darin Ausdruck. Nicht nur in seinem neuen Buch, dem Gedichtband mit Vor-, Zwischen- und Nachwort, spricht er in den Versen und den Texten über diese Erlebnisse, wie z.B. in Vergangenheit und Gegenwart oder Bismarcks Geheimnis. Auch schon in seinen Liedern, z.B. in Schlag sie tot oder in Nur kein Jud, thematisiert er sehr direkt, jedoch niemals platt, den Antisemitismus, die Sündenbocksuche, die Entgrenzung, die Gewalt gegen Minderheiten, den Nationalsozialismus, den Nationalstolz und die Verdrängung der deutschen und österreichischen Vergangenheit durch die Deutschen und Österreicher. Ist er heute gefragt, redet er in nahezu jedem Interview über die Gründe für seine Emigration – auch ohne direkte Vorlagen – und begründet so sein Schaffen und sich selbst u.a. mit dem Bruch, den der NS in der Zivilisationsgeschichte und seinem Leben hinterließ. Kreisler beharrt z.B. im Zwischenwort seines Gedichtbandes auf diesen plötzlichen Turn, auf der Massenpsychose und ihren Rätseln. Rätsel, die sich auftun und bleiben, wenn etwas sehr Großes, Übermächtiges und Schlimmes über Einen kommt, wenn dieses Hereinbrechen aber an vielen Stellen unverständlich bleibt und die Gründe dafür im Verborgenen liegen. Er führt zum Beispiel die Rätsel an, welche die wichtigsten politischen Ereignisse der Jahre 1914 und 1938 für ihn aufgeben und welche für ihn vor allem auf der Ebene des Individuellen liegen. Selbst Intellektuelle befürworten 1914 den Krieg, der von Deutschland und Österreich ausgeht, sie feiern die Nation und loben den Größenwahn. Personen wie Thomas Mann, Georg Hauptmann, Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern, Max Planck und Max Reinhardt und selbst Sigmund Freud – der spätere Begründer der Massenpsychologie, die er wohl aus einer ähnlichen Fragestellung heraus entwickelte, wie es Kreisler jetzt tut – alle waren sie kriegsbegeistert. Das konstatiert Kreisler desillusioniert.
Selbst 1938 „wurden“ in Österreich, so Kreisler weiter, „plötzlich die nettesten Leute überzeugte Nationalsozialisten“ und das ohne Not und offensichtliche Gründe, den Leuten ging es nicht schlecht. Für diese Phänomene fehlt ihm bis heute eine ausreichend begründete Erklärung. Er spricht an dieser Stelle gar von Mythos. Eines dieser Gedichte, das dem Buch wohl seinem Titel gab, ist In Verbindung mit seinen Gedanken über den Mythos kommen wir an dieser Stelle der Unabsichtlichkeit auf die Schliche, die Kreisler im Untertitel des Bandes andeutet. Denn unbeabsichtigt bedeutet demnach auch ein Verweis auf die Einrichtung der Welt, der das Individuum ohnmächtig gegenübersteht, in der es so gut wie keinen Einfluss auf das hat, was passiert bzw. zu haben scheint. Und zwar indem es sich seinen Platz in der Welt nicht einfach aussuchen kann, sondern ihn durch schwer zu beeinflussende Prozesse zugewiesen bekommt, in denen es verloren scheint. Eine Erfahrung, die er auch später durch fehlende Anerkennung als Künstler in Amerika und bei seiner Rückkehr nach Europa machen musste. Gedichte helfen Kreisler dabei, die Welt abzubilden, sie sind da, weil die Welt da ist. Das heißt, die Gedichte, die er schreibt, seine Texte allgemein, fallen ihm quasi zu, er hält die Welt um ihn herum in seiner Wahrnehmung künstlerisch fest. Es sind dabei nicht Kreislers Texte, die bitterböse sind, sondern es ist die Realität – und im Fokus stehen oft Deutschland und Österreich, denn darüber hat er das meiste geschrieben, das sind die Orte, an denen seine Kunst passiert. Und hier singt und schreibt er über die Kleinbürgerlichkeit, über Spießigkeit und Kurzsichtigkeit der Menschen und der Politik und darüber, dass sich Geschichte wiederholen kann. Kreisler sagt, er habe einmal das Kapital von Marx durchgearbeitet, und auch das ist ganz stark zu spüren. In vielen Gedichten im vorliegenden Band findet sich der kapitalismuskritische Zug, den das Lied Meine Freiheit – Deine Freiheit so gekonnt zum Ausdruck bringt. Beispielsweise Ein Geschäftsmann weiß Rat, in dem er zwar sehr klassisch kapitalistisch die Skrupellosigkeit des Marktes und seiner Akteure anprangert, aber eben auch das Spiel thematisiert, in dem dies stattfindet. Hier ein paar Auszüge: Auch wenn diese Auszüge sehr direkt erscheinen, direkt in der Botschaft, der Beschreibung und in der Positionierung, gilt es noch zu verstehen, woher Kreisler die Legitimation für seinen Standpunkt bezieht. Dazu dieses Zitat: Das Darüberstehen, oder das Danebenstehen ist für Kreisler essentiell, denn das Fremdsein sei ein Wesen seiner Kunst genau so wie die Überspitzung. Fremd sei den Menschen auch die Möglichkeit der Einflussnahme, zumindest denen, die nicht das unmenschliche Zahn um Zahn, das Du oder Ich mitspielen. Er zählt sich nicht zu diesen Menschen, er steht auf der richtigen, der (scheinbar) ausweglosen Seite und das ist auch gut so, denn nur so kann er künstlerisch seinen Standpunkt vertreten, wie er es tut. Er sieht sich als Teil derer, die den Mythos anerkennen, sich mit ihm ‚wohlfühlen` und sich bemühen, die Rätsel durch Erkenntnis zu lösen, die er ihnen aufgibt. Aber er verabscheut dabei logisches Denken, er sagt gar, dass logisch denkende Menschen ihre Mitmenschen und die Kunst für überflüssig halten. In diesem Sinne sieht Kreisler Gedichte auch als Geheimnisse, deren Substanz nicht einfach offen liegt. „Gedichte werden im Dunkeln geboren, wo man sie nicht gleich sieht. Erst im Licht beginnen sie zu lächeln, wie die Menschen.“ Ganz im Gegenteil zu der Musik Richard Wagners. Kreisler schreibt dazu: „Jemand wie Richard Wagner, dessen Aufgabe es war, böse Menschen zu erzeugen, war schon da, bevor er anfing zu komponieren. Seine Musik ist ein gutes Beispiel für ein verratenes Geheimnis, das zu einem Feind geworden ist, einem Feind alles Guten. Seine Opern sind bis heute nichts als ein gutes Geschäft, rational, berechnend, langweilig und patriotisch. Aus Irrationalem wie der Kunst kann man nichts Rationales machen und schon gar nichts Nationales.“ Hier schlägt also für Kreisler Vernunft in Irrationalität um. Womit Kreisler indirekt benennt, wofür er steht und mit welchen Formen er dies zum Ausdruck bringt. Formen des ästhetischen und rhetorischen Widerstands. Er meint die Subversion, die Provokation und den Tabuverstoß, die er aber im heutigen Kulturbetrieb aus Aufmerksamkeitserzeugung und Selbstwillen ins Absichtslose gedriftet sieht. Absurdität und Naivität, eine wohltuend vortheoretische Neugier fallen mir ein, wenn ich Kreislers Gedichte lese. Oft groteske, entworrene Konstruktionen, die ihren Sinn zwischen scheinbarer Flapsigkeit und Infantilität verstecken. Gedichte, die aufreizen und sich mit Albernheit verdecken. Ihr Ziel ist der Aufschrei und die Erkenntnis, nicht der Trost und nicht die einfachen Lösungen. Kreisler konstatiert eher eine Art Beklemmung und Ausweglosigkeit – mit den vielen kleinen und großen Ausweglosigkeiten und paradoxen Enttäuschungen. Fast schon so, als ob es keinen Punkt gibt auf den man sich zurückziehen und ausruhen kann, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart oder Zukunft. Weder mit irgendeiner Heimat noch der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst, nirgends. Nicht einmal in Israel, wohin der nach eigenen Worten ständig auf gepackten Koffern sitzende einst fuhr, um sich auch dort nicht wohl zu fühlen – was nicht heißt, dass er es nicht politisch verteidigen würde. Georg Kreisler kann sich noch immer nicht vorstellen, etwas zu schreiben, was ohne Protest ist. Gegen das Gegenwärtige, gegen Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten. Exemplarisch dafür das Gedicht Der heimatlose Kunstvagabund, die Wanderniere, der Narr, der weiß, dass er einer ist, der Anarchist ist in der Kunst zu Hause, die für ihn immer politisch ist. Insofern ist er auch noch immer leidenschaftlich und im Vergleich mit ähnlichen Künstlern seines Genres kann er als radikal bezeichnet werden. Wobei er so feinsinnig übertreibt, dass gleichzeitig die Grenzen zwischen Ernst und Humor verschwimmen, sich aber der kritische Gehalt dabei nicht auflöst, sondern durch diese Mischung verstärkt. Gut zu sehen in Gedichten wie Kreisler fühlt sich noch immer unverstanden und das ist er auch, zumindest in den Breiten des deutschsprachigen Mainstream. Innerhalb dessen bleibt er noch immer die Ausnahme. Er wird noch immer auf sein berühmtes Taubenvergiften reduziert und gilt den großen Institutionen noch immer als verquer. Wenn das in diesem Zusammenhang bedeutet, dass er subversiv sei, nimmt er das sicher auch im hohen Alter noch als Kompliment. Seine Gedichte jedenfalls sind so vielfältig wie sein Leben, wie die Anekdoten, die es noch über ihn zu erzählen gäbe. Sie sind so kompromisslos kritisch wie humanistisch und von der Einsicht geprägt, dass die Ideen seiner Kunst kaum auf die Sphären von Politik und Alltag übertragbar sind. Sie sind dabei aber nicht mutlos und verzweifelt, ebenso wenig wie Georg Kreisler es ist. Das Buch ist voller Beweise.

Norma Tief

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Georg Kreisler: Zufällig in San Francisco – Unbeabsichtigte Gedichte, erschienen 2010 im Verbrecher Verlag. 128 Seiten, 19 Euro.

Anmerkungen

(1) Alle vor einem Absatz gestellten kursiven Zitate und in diesem Text angeführten Gedichte stammen aus dem zu besprechenden Buch.

(2) Kreisler im Interview mit konkret: http://www.georgkreisler.de/gk_02c_e02.html.

 

22.04.2010
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