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INHALT #173

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Von der Volksgemeinschaft zur Weltgemeinschaft
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Trübsal in der Krise?

Das „Volk der freundlichen Hedonisten“ zwischen Depression und Durchhalteparolen

In seinem Artikel für die Zeit fragte Ulrich Greiner im Mai 2009, was aus der German Angst geworden sei. Trotz Wirtschaftskrise könne bei weitem nicht von jener panisch-apokalyptischen Stimmung gesprochen werden, welche im vergangenen Jahrhundert als eine deutsche Besonderheit ausgemacht wurde. Aus Greiners Sicht sind die Deutschen schon lange nicht mehr neurotischer und hysterischer als andere Menschen, schafften es sogar, während der Fußball-WM 2006 sich als „Volk freundlicher Hedonisten“ zu präsentieren und bewiesen nicht zuletzt durch ihre Repräsentantin Angela Merkel vor allem spröde Normalisierung. So schwierig nicht nur Greiners Hedonismus-Verständnis ist, so richtig liegt er mit seiner Einschätzung der unaufgeregten deutschen Krisenstimmung.
Zwar konnte vereinzelt im Herbst 2008 Schadenfreude darüber und Hoffnung darauf, dass die Krise endlich mal die Richtigen treffen würde, ausgemacht werden. Einige Linke, die noch immer der Verelendungstheorie anhängen, sehnten massenhaften Unmut herbei. Unter diesen unternahmen manche zweifelsohne Versuche, klassischerweise in Form von Großdemonstrationen, „denen da oben“ klar zu machen, dass „wir“ nicht für „deren“ Krise zahlen, jedoch blieben die bspw. von Gesine Schwan und Michael Sommer befürchteten sozialen Unruhen aus. Die meisten machten schlicht irgendwie weiter und die CDU gab dazu die passenden pragmatischen Losungen aus, wie „Klug aus der Krise“. Die Arbeitsgemeinschaften No tears for Krauts und AG Antifa Halle kommen in ihrem Flugblatt „20 Jahre Antifa: Still not loving reality“ zu ähnlichen Ergebnissen wie Greiner in der Zeit, wenn sie, zu Recht erleichtert, den Deutschen eine „Weltuntergangsmüdigkeit“ attestieren. Warum es immer noch genug Gründe dafür gibt, that I can`t relax in Deutschland, sollen die nachfolgenden Fragmente zur Massenpsychologie veranschaulichen.

Kraut vergeht nicht

Selbst der deutsche Umgang mit der sogenannten Schweinegrippe, den die Hallenser AGs als Wiederschein der apokalyptischen Sehnsucht ausmachen, kann nicht als solcher bezeichnet werden. Auch wenn die Gefahr der Pandemie der Bild-Zeitung Stoff für etliche Titelseiten lieferte, die davon kündeten, dass nicht nur die einfachen Leute sondern auch die B-Prominenz – eben schlichtweg alle – betroffen sein könnten, blieb die im Flugblatt beschriebene „Mischung aus Weltuntergangsangst und freudiger Erwartung“ eine Randerscheinung. Zu stark waren die Gegenstimmen, die lieber die Skepsis gegenüber der Impfung befeuerten und damit ihrerseits ein Ressentiment bedienten, welches wirklich als ein in Deutschland besonders ausgeprägtes und traditionsreiches bezeichnet werden kann: das gegen die Schulmedizin.(1) So scheint wieder, getreu der „Kriegsschule des Lebens“ Friedrich Nietzsches, die Durchhalteparole „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ zu sein. Insofern lässt sich wahrlich kaum von einer German Angst sprechen, obgleich die zuvor umrissene stoische Schicksalsergebenheit ebenfalls Unbehagen bereiten kann.

Nationaltorwart der Herzen

Was weder Krise noch Pandemie vermochten, schaffte im Herbst die Trauer um Robert Enke. Für einen Moment war die Nation im Schmerz vereint. Menschen, die den Torhüter nicht persönlich kannten, vergossen Tränen bei der Nachricht von dessen Tod und seine Beerdigung hätte mit 40 000 Gästen zu keiner passenderen Gelegenheit als dem Volkstrauertag stattfinden können. Bestürzte die Tragik dieses Einzelschicksals vielleicht nur deshalb Tausende, weil es als Projektionsfläche für den Gemütszustand Vieler prädestiniert war? Viel länger schon und stärker als sämtliche Casting-Shows hält der deutsche Profifußball die Illusion aufrecht, wer lange und hart genug an sich arbeite, könne es irgendwann nach ganz oben schaffen. Sicherlich wird den Profis manchmal ihr Reichtum geneidet, aber der kollektiven Identifikation, welche während der WM 2006 ihren Höhepunkt erlebte, tut das keinen Abbruch: denn trotz allem waren es irgendwann einmal und sind es im besten Fall noch immer „Menschen wie du und ich“. Womöglich starb mit Robert Enke sinnbildlich der einfache Mann von nebenan, der sich ehrlich hochgearbeitet hatte, was ihm jedoch keine Sicherheit gewährte vor den Mucken eines undurchschaubaren tückischen Systems. In seinem Fall handelte es sich um die des Fußballbusiness, dessen Gesetzmäßigkeiten, wie die der kapitalistischen Produktionsweise, sich dem Verständnis der Normalsterblichen zu entziehen scheinen. Die anschließende großangelegte, wenn auch kurzlebige, öffentliche Diskussion über Depression, kann als weiterer Beleg für das Ausmaß der Identifizierung mit dem Nationaltorwart verstanden werden, die an eine linke Parole erinnerte: „Depression: Getroffen hat es einen. Gemeint sind wir alle!“. Kaum eine Zeitung ohne Schwermuts-Special, in denen Expertinnen und Experten für Aufklärung sorgen sollten, über das mitunter zur „Volkskrankheit“ der Deutschen erhobene Leiden. So wichtig es zweifelsfrei ist, psychisches Leiden zu enttabuisieren, so befremdlich wirkt es, wenn dafür erst ein „Volkstorwart“ sterben muss. Es scheint, als hätte es dieses Ventils bedurft, um dem individuellen Verzweifeln an den Verhältnissen einen kollektiven Ausdruck zu verleihen, so laut war mitunter das Seufzen der Erleichterung derer, die endlich Gehör dafür fanden, wie schlecht es ihnen eigentlich gerade geht.

Survival of the best equipped

Sonst scheinen die Einzelnen meist soweit auf sich selbst zurückgeworfen, dass man lediglich versuchen kann, kollektive Verhaltensmuster bspw. im Bereich der Konsumentscheidungen aufzuzeigen. Justus Wertmüller und Sören Pünjer sahen vor einiger Zeit in der Bahamas im Überlebenskampf der Okay-Verdienenden eine neue Form der deutschen Zivilisationsfeindschaft, auf welche im oben angeführten Flugblatt aus Halle ebenfalls Bezug genommen wird: in einschlägigen Outdoor-Produkten den widrigen Verhältnissen trotzend, feiern nicht wenige Okay-Verdienende einen „Kult der Funktionalität“ (Wertmüller/Pünjer) und warten scheinbar nur darauf, bis die Polkappen tatsächlich schmelzen und ihre eskapistischen Sehnsüchte endlich Wirklichkeit werden. Für diese muss der Schneesturm im Januar 2010 einer Verlängerung des Weihnachtsfests gleichgekommen sein, konnten sie ihre Geschenke zeitnah einem Härtetest unterziehen und dabei einmal nicht vollkommen albern aussehen. Selbst in einer Boutique der Modemarke „Esprit“, die lange nicht als dem Outdoor-Überlebenskampf verpflichtet galt, wurden die Waren der Kundschaft im vergangenen Herbst, als für das „City Survival“ geeignet, anempfohlen. Während die einen die Flucht und das Überleben in der Natur üben, sehen viele andere, die sich diesen Ausstieg schlicht nicht leisten können, so aus, als wenn sie sich frei vom Esprit des City Survival permanent im urbanen Gang Fight befänden. Der medialen Debatte um die Männlichkeit in der Krise halten sie knallhart einen Kult der Männlichkeit aus gestählten Körpern und Militärhaarschnitten, sowie einen Gewaltkitsch mit Schlagring-, Pitbull- und Totenkopfdrucken auf Jogginghosen und Trainingsjacken entgegen. Angryness als Selbstzweck.
Roger Cohen beobachtete im Frühjahr 2009 für die Süddeutsche Zeitung fasziniert, mit welcher Gelassenheit und Ausgeglichenheit in Deutschland auf die Krise reagiert werde. Einige der zuvor skizzierten Phänomene konnte Cohen gewiss nicht in seine Einschätzung einbeziehen, die sich jetzt nur zynisch lesen lässt: „Die Welt steht Kopf: Die Lage ist fürchterlich, aber die Deutschen sind glücklich!“ Ist es die verschwunden geglaubte German Angst, die mich bei der Frage befällt, was dann „unglücklich“ hieße?

Patrice Smith

Norma

Anmerkungen

(1) Im CEE IEH #172 hinterfragt t.tanus in „‚Konkret‘ inkonkret“ diese mediale Panikmache gegenüber der Impfung am Beispiel der Zeitschrift „Konkret“.

22.01.2010
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