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Aktuelles Heft

INHALT #171

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Editorial
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A MOUNTAIN OF ONE
THE GIFT
Oi! The Meeting 2010 – warm up show
Oh my „SIR“ Rodigan – can't wait to see you rock again ...
Ohrbooten
When the bass gets connected...
Hot Christmas Hip Hop Lounge
Edge - the movie
Mr. Symarip (aka Roy Ellis)
New Moon over Europe Tour 2009
Muff Potter
The Adicts
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Conne Island NYE clash
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• review-corner buch: „Nur nicht heute Abend lass uns die Worte finden“
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• cyber-report: Offene Springquellen des Reichtums
• interview: „Revolutionen haben den Vorteil, daß man sie nicht prognostizieren kann“
• ABC: K wie Klassenkampf
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Den Deutschen ins Stammbuch geschrieben...

Zum Werk Gisela Elsners und einem jüngst wiederveröffentlichten Roman

Christine Künzel (Hrsg.): Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner. Hamburg: KVV Konkret, 2009.

Gisela Elsner: Fliegeralarm. Herausgegeben und am Manuskript letzter Hand überprüft von Christine Künzel. Mit einem Nachwort von Kai Köhler. Berlin: Verbrecher Verlag, 2009.

I.

Im September 2003 besuchte ich eine Freundin in Hamburg und mit ihr eine Lesung im Rahmen des ‚Ladyfestes`. Gegeben wurde ein Ausschnitt aus „Die Zähmung – Chronik einer Ehe“, verfasst von einer gewissen Gisela Elsner. Vorgetragen wurde die Gesellschaftssatire, in der eine karriereversessene Powerfrau ihren erfolglos schriftstellernden Ehemann an Kind, Heim und Herd ‚fesselt`, um zunächst als Filmemacherin, dann gar selbst als Autorin Erfolge zu feiern, vom vollbärtigen Jörg Sundermeier, der für seine über die Jahre etwas Moos ansetzende Jungle World-Kolumne ‚Der letzte linke Student` bekannt sein dürfte. Viel wichtiger aber ist, dass er 1995 – noch mehr im Scherz – mit einem Freund den Verbrecher-Verlag gründete, zunächst einen Roman des mittlerweile bei Suhrkamp und im Feuilleton zu Ehren gekommenen Dietmar Dath herausbrachte, den Verlag anschließend mehrere Jahre auf Eis legte, schließlich wiederbelebte und mittlerweile zu einem imposanten Imperium für Literatur, politische Essayistik und mehr gemacht hat. 2002 begann der Verlag, Elsners Romane – geschrieben v.a. in den Siebziger und Achtziger Jahren (und Anfang der Neunziger nach eigener Aussage von ihrem damaligen Verlag Rowohlt ‚totalverramscht`) – neu herauszugeben. Die Lesung in der Ex-Punk-Kneipe Marktstube verfehlte ihre Wirkung nicht. Die wie mit dem Seziermesser auseinander gelegte Tristesse der in Beziehungslosigkeit versinkenden Partnerschaft eines kleinbürgerlichen Pärchens im Zeitalter des rheinischen Kapitalismus überzeugte. Fortan bemühte ich mich, die Bücher mit den bitterbösen Schilderungen der BRD 1945ff. in Antiquariaten und auf Ebay-Auktionen zu ergattern, um sie anschließend zu verschlingen. Der Verbrecher-Verlag steuerte in der Folgezeit noch die bis dato unveröffentlichten Bände Heilig Blut und Otto der Großaktionär bei. Und so gelang es Gisela Elsner, mich in regelmäßigen Abständen mit ihrer eindringlichen und weder Widergedanken noch -rede erlaubenden Schachtelsatzprosa davon zu überzeugen, dass das Leben und die Welt im allgemeinen und das Dasein in der bundesdeutschen Wirtschaftswunderlandschaft im speziellen trostlos, schlecht und kaum auszuhalten war und ist.
Blieb die Qualität ihres Schreibens dem zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetrieb aus (sexual)politischen Gründen weitgehend verborgen – und dass, obwohl oder auch gerade weil sie schon 1964 für ihren ersten Roman „Die Riesenzwerge“ einen angesehenen Verlegerpreis verliehen bekam – bemühen sich neben dem Verbrecher Verlag einige verwegene LiteraturwissenschaftlerInnen derzeit, das Werk Gisela Elsners wieder zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck fand vor zwei Jahren ein Symposium in München statt. Einige der dort gehaltenen Vorträge versammelt nun ein in der Reihe konkret texte veröffentlichter Band unter dem Titel „Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner“. Neben textnahen oder auch vergleichenden Interpretationen zu einzelnen Aspekten ihrer Romane und Erzälungen, finden sich Beiträge zur Rezeption Elsners in ihrer Zeit, ihrem Verhältnis zu BRD und DDR und ihren politischen Abhandlungen. Schließlich erweist Elfriede Jelinek, mit der Elsner nicht nur von Ronald M. Schernikau gern in einem Atemzug genannt wurde und wird, in einem Essay der Autorin ihre Reverenz.
Die Herausgeberin Christine Künzel, sie arbeitet derzeit an einer Elsner-Biographie, eröffnet den Band mit einem Durchgang durch Leben, Werk und die Widerstände, auf die beides stieß. Nicht nur kämpfte Elsner lange gegen ihre großbürgerliche Herkunft aus der Familie eines Siemens-Managers, gegen die muffigen deutschen (Nachkriegs)Zustände – weswegen sie zeitweilig in Rom und London lebte, und gegen die starren Rollenzuschreibungen des Literaturbetriebs (so wurde sie z.B. in der Gruppe 47 v.a. als die hübsche Freundin ihres damaligen Mannes Klaus Roehler – und nicht als Autorin – wahrgenommen). Sie führte auch einen inneren Kampf, worüber neben den Werken selbst zum Beispiel ihre lange Zigaretten- und Medikamentabhängigkeit Auskunft gibt und der sich nicht zuletzt im Briefwechsel mit Klaus Roehler (Wespen im Schnee – 99 Briefe und ein Tagebuch) und in dem Film „Die Unberührbare“ (Regie führte ihr Sohn Oskar Roehler) dokumentiert findet. Folge davon war „ihr unerbittlicher ethnographischer Blick und der große Hass, mit dem sie die Rituale des Klein- und Großbürgertums betrachtete“ (8). Gegen diese Art des Schreibens wendete sich die Literaturkritik fast unisono: die Satire galt als männliche Domäne, Elsners Vivisektionen der bürgerlichen Gesellschaft wurden mit Bezug auf ihr Geschlecht trivialisiert (10) und noch nach ihrem Tod – sie nahm sich 1992 durch einen Sprung aus einem Krankenhauszimmer das Leben – wurde ihr Werk gnadenlos verrissen. (17) Werner Preuß arbeitet in seinem Text heraus, dass diese ablehnende Haltung sich v.a. gegen die „konkrete Gesellschaftskritik“ (32) in Elsners Büchern richtete. Künzel schließt ihre Einleitung mit der Hoffnung, der Band werde dazu beitragen, das Schaffen der Autorin „vor dem Hintergrund aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Debatten neu zu verorten und politische Motive [...] differenzierter zu untersuchen“ (20). Dies zu ermöglichen sind weitere Publikationen (auch bisher unveröffentlichen Materials) im Verbrecher-Verlag geplant, die mittlerweile auch vom ‚Deutschen Literaturfond e.V. Darmstadt` gefördert werden.
Der Text Elfriede Jelineks nimmt zwei (nicht nur) gegen Elsner in Anschlag gebrachte Abwertungsstrategien in den Blick: Ablehnung und Entwertung der schriftstellerisch tätigen Frau und der Kritik an traditionellen Machtverhältnissen. Sie zeigt aber auch, dass die Mittel der Herabsetzung oftmals ihr Ziel aus eigener Borniertheit verfehlten: „Man hat Gisela Elsner öfter vorgeworfen, dass man sich mit ihren Helden nicht identifizieren könne, dabei lehnte sie diese Identifikation doch ausdrücklich ab“ (25).
Neben der Herausgeberin selbst gehen Evelyne Polt-Heinzl, Bernhard Jahn und Carsten Mindt genauer auf die Konstruktion ihrer Romane ein. So wird die zentrale Elsnersche Methode der Wiederholung (sowohl innerhalb eines Buches, als auch – was bestimmte Motive anbelangt – über das Werk hinweg) als Versuch aufgezeigt, die triste Kleinbürgeridylle samt der ihr immanenten Gewaltverhältnisse darstellbar zu machen und überspitzt ad absurdum zu führen. Elsner beschreibt in ihrem Debütroman quälend ausführlich das sich tagtäglich wiederholende Abreißen eines Knopfes vom Hemd des Vaters des Ich-Erzählers und das darauf folgende Ritual: Die Ehefrau versucht, während der Hausherr fluchend und sich für den Schuldienst vorbereitend durch die Wohnung wirbelt, den Knopf anzunähen, scheitert aber schon am Einfädeln des Fadens, woraufhin ihr Mann sie mit Spott überzieht und auf die Nachbarin ‚zurückgreift', um diese nach getaner Näharbeit über den grünen Klee zu loben. Die Familie als Keim- und Schutzzelle privater Gewaltverhältnisse! Und auch in dem weiter unten zu besprechenden Roman „Fliegeralarm“ spielt eine u.a. mit Knöpfen gefüllte Nähkiste als Symbol femininer Rollenzuweisungen wiederholt eine Rolle: Hier ist es aber der ‚Hausmann', der sich bei jedem Bombenangriff des Nähkästchens bemächtigt, um es regelmäßig auf dem Weg in den Luftschutzkeller fallen zu lassen und den Inhalt anschließend, sich mühsam und angstpanisch auf dem Boden windend, akkurat wieder einzusortieren.
Zu den restaurativen Verhältnissen in der Nachkriegs-BRD trug nicht unerheblich die Kirche und ihre Vertreter bei, die einerseits trotz allwöchentlicher Dauerreflexion von der Kanzel herab die Vergangenheit beschweigen halfen und andererseits in den Erziehungs- und Disziplinierungsmethoden ungebrochen an altdeutsche Traditionen anknüpften. Als Schülerin eines katholischen Mädcheninternats kannte Gisela Elsner diese Techniken aus eigener Erfahrung. Den Roman „Heilig Blut“ konzipiert Elsner wohl nicht zuletzt deshalb in Form einer Passionsgeschichte, die aber, anders als die christliche, mit dem völlig sinnlosen Opfer des Protagonisten endet: Er wird von einer Gruppe Alt-Nazis, die ihn zuvor schon verbal als Versager und Schwächling brandmarkten, bei der Wolfsjagd aus Versehen erschossen und im Wald verscharrt. Gleichzeitig markiert die Handlung in dieser Weise, so Christine Künzel, die „Restauration des Väterregimes nationalsozialistischer Prägung“ (87), wie sie in der frühen BRD der aufmerksamen Beobachterin Gisela Elsner auf Schritt und Tritt begegnete.
Den m.E. interessantesten Beitrag liefert der mit Elsner befreundete ehemalige Lektor des DDR-Verlags ‚Volk und Welt` Chris Hirte. Er untersucht das durchaus ambivalente Verhältnis der „letzten Kommunistin“ zum einzigen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Anders als Ronald M. Schernikau (auf dessen im letzten Jahr erschienene Biographie von Matthias Frings ja der Buchtitel anspielt), der kurz vorm Mauerfall 1989 noch in die DDR übersiedelte, war es für Gisela Elsner nie eine Option, sich ganz dem Realsozialismus hinzugeben. Zwar trat sie 1990 aus Protest gegen die „Wiederverschweinigung“ (so Elsner in einem Text zur Wende, der in der Novemberausgabe von konkret dokumentiert ist) wiederholt der DKP bei, nachdem sie diese 1989 nach langjähriger Mitgliedschaft verlassen hatte, doch ihr Verhältnis zum „drübigen Volk“ (ebd.) war mehrfach gebrochen. Diese Ambivalenz fängt Hirte in seinem mehr erzählerischen denn literaturwissenschaftlichen Essay ein. So habe Elsners Werk, das zwischen Groteske und Satire changierte, auch nicht unbedingt in den sozialistischen Kanon gepasst, der nicht-realistischer Literatur skeptisch gegenüber stand. Dass doch drei Romane bei ‚Volk und Welt` erschienen, „[d]ahinter stand keine einhellige Begeisterung, sondern ein ganzes Bündel von Motiven, die Ausdruck einer zwiespältigen und auch routinehaften Sicht auf die Autorin waren“ (105). Daher attestiert er der Wirkung ihrer Romane denn auch einen Hang zur „Unterwanderung“ (109) des Realsozialismus – auch wenn sich dies natürlich nicht beweisen lässt. Aber auch das konkrete Verhältnis zur DDR als „kommunistische Wunschprojektion“ (110) war widersprüchlich. So meinte Elsner 1986 anlässlich einer Lesereise nach Leipzig, Dresden und Berlin in einem Publikumsgespräch: „Ich lasse mir aber die DDR nicht miesmachen“ (110). Gleichzeitig habe sie angesichts fehlenden Toilettenpapiers in einem Restaurant wutschnaubend geurteilt, in einem solchen Saustall könne man es ja keinen Tag aushalten (110). Tatsächlich scheiterte 1990 ihre Umsiedlung nach Ostberlin schon nach drei Tagen – die Wendetristesse, der „fanatische Bananismus“ des Ossis (so in konkret) machte ihr ebenso zu schaffen wie der graue Westalltag. Auch wenn Elsner offensichtlich keine originär undogmatische Linke war – das stellt auch Tjark Kunstreich in seinem Artikel fest (119); Hirte spricht von „leninistische[m] Jakobinertum“ (111) – und der Zusammenbruch des Realsozialismus sie selbst in eine wirtschaftliche Notlage brachte: In einem Brief an Hirte betonte sie, dass das Scheitern der DDR noch nicht den Beweis der Unmöglichkeit der Verwirklichung des Kommunismus erbracht habe (113).
Kunstreich verweist in seinem Versuch über „Gisela Elsners Kommunimsus“ auf eine „Stellungnahme“ der Autorin aus dem Jahr 1990. „Die aktuelle Niederlage weise seinen künftigen FreundInnen immerhin den Weg, der nicht zu beschreiten sei“, heißt es dort, ansonsten sei dem Kommunismus nur um so „todesverächtlicher“ (126) zuzustreben. „Aber noch ist uns die Hoffnung trotz unserer höchst hoffnungslosen Lage nicht abhanden gekommen.“ (126) Schon Preuß hatte auf eine Art Bilderverbot in Elsners Werk hingewiesen (41); und auch Kunstreich macht deutlich, dass es nicht Utopie, sondern Hass ist, der Gisela Elsner zum Schreiben bewegt, „Haß auf die Verhältnisse im Kapitalismus und jene, die sie tagtäglich reproduzieren“ (118). Ihr Werk ähnele in diesem Zug zur Ideologiekritik dem der Kritischen Theorie (119). Von dieser Ähnlichkeit ausgehend sucht Kunstreich die Erklärung für Elsners strikten Anti-Realismus: so untersuchte Elsner in einem Essay Autoren des bürgerlichen Realismus und wies z.B. Fontane nach, dass er an seinem eigenen Realismusanspruch scheiterte, als er die wahre Geschichte der Effi Briest nur unvollständig im Roman wiedergab (124f.). Statt also – wie Fontane – mittels noch dazu geschönter Darstellung die bürgerlichen Verhältnisse zu verdoppeln, setzte Gisela Elsner auf Bloßstellung durch Verfremdung.

II.

So zum Beispiel im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Fliegeralarm“. Dieser wurde Mitte des Jahres im Verbrecher-Verlag wiederveröffentlicht, was angesichts des nicht statt gefundenen oder verhunzten Lektorats der Originalausgabe (Zsolnay Verlag, 1989) auch dringend Not tat.
Erzählt wird von den „Abenteuern“ einer Gruppe Vorschulkinder in der Zeit der Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Weit entfernt vom Wehklagen über den „alliierten Terror“, wie es in den Debatten um Jörg Friedrichs „Der Brand“ und den „Neuen Deutschen Opferdiskurs“ (Samuel Salzborn) nach der Jahrtausendwende angestimmt wurde, begreifen die Kinder die Bomben als „Geschenke aus dem Himmel“ (6). Die elterliche Aufregung angesichts nächtlicher Alarmsirenen und Hastens in den Luftschutzkeller können die Kinder nicht verstehen, finden das Verhalten ihrer Eltern kindisch, wenn nicht gar politisch verurteilenswert (sie können sich nichts Schöneres vorstellen, als für den ‚Führer` zu sterben). Immerhin werden sie durch die Bomben mit Devisen (Bombensplitter), Unterkünften zum Spielen (Ruinen ausgebrannter Häuser) und diversen Einrichtungsgegenständen (teilzerstörter Hausrat) versorgt. Die Ich-Erzählerin gehört mit ihrem „MANN“ (wie er in Majuskeln bezeichnet wird; ebenso ist sie seine „FRAU“), der den Titel eines Oberscharführers trägt und später einmal Hitler als Führer beerben will, und einer Gruppe (selbsternannter) SS-Männer zu einem Mini-Racket, das, während die Eltern versuchen, den Lebensunterhalt im Ausnahmezustand zu besorgen, in den Ruinen u.a. „Pogrom“ (64) spielt. Später entführen sie einen Gleichaltrigen, „der, weil sein Vater Kommunist und gleichzeitig Jude war, ebenfalls ein Jude sein mußte“ (68). Da sie wissen, dass dieser Vater ins KZ verschleppt wurde, gründen sie kurzerhand ihr eigenes, in welches sie das Kind ‚einliefern`. Zwar lassen sie den Jungen nach einer Art Verhör wieder frei, kidnappen ihn wenig später jedoch erneut, fesseln und quälen ihn einerseits, sind gleichzeitig jedoch bemüht, ihn am Leben zu erhalten – alles muss seine deutsche Ordnung haben. Nachdem die Mitglieder der Clique wegen einer Erkältung einige Tage ihr KZ nicht aufsuchen konnten, finden sie schließlich den leblosen Körper ‚ihres` Juden. Der kleine Bruder der Ich-Erzählerin versucht zwar, diese Tatsache zu Haus zu „petzen“, jedoch wird ihm nicht geglaubt. Zum Ende des Buches verwischt ein neuerlicher Bombenangriff schließlich die Spuren des kindlichen Rassenkleinkrieges.
Zur Erstveröffentlichung warf die Kritik dem Roman (wie auch früheren Büchern Elsners) fehlende Authentizität, Anti-Realismus und das Scheitern psychologischer Einfühlung in die dramatis personae vor (Bernhard Jahn sieht darin einen Hinweis, dass die Rezensierenden emotional vom Roman gepackt wurden, was Abwehr hervorrief(1)). Aber nichts dergleichen beabsichtigte die Autorin: weder wollte sie zur Identifikation mit einer der Figuren einladen, noch das echte Kinderleben im NS nachzeichnen. Im Gegenteil ist der Rollentausch Eltern/Kinder ein wesentliches Verfremdungsmittel so wird ein Teil der Eltern der aufrechten Nazi-Kids, die sich selbst HART WIE KRUPPSTAHL, ZÄH WIE LEDER und FLINK WIE WINDHUNDE fühlen, als feige, RASSESCHANDE betreibende Verräter beschrieben; die Kinder denken, handeln und erzählen auch keinesfalls altersgerecht von ihren Erlebnissen. In anderer Hinsicht treten sie eben doch als Kinder auf: Die Ich-Erzählerin Lisa Welsner (ein Alter-Ego der Autorin) fühlt sich angesichts der Eröffnung des Banden-KZs an das Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ erinnert; die Spielkameraden würden gern wissen, was die ?NDLÖSUNG (96f.) ist – das Wort hat Gaby Glotterthal von ihrem Vater aufgeschnappt, aber sie haben keine Ahnung, was zum Beispiel die ENDLÖSUNG [...] lösen kann (97) – und von Seiten der Eltern müssen sie die Drohung erleiden, ins ?INDER-KZ AM WALDESRAIN eingeliefert zu werden, wenn sie nicht schön schlafen. Am letzten Beispiel wird deutlich, dass eine Ebene des Romans das auch aus anderen Elsner-Büchern bekannte Thema Familie als repressive Sozialstruktur bildet. Zwar sind die Kinder letztlich die Täter – das wird an der (wenn auch ungewollten) Tötung ihres angeblich jüdischen KZ-Insassen deutlich – doch ihre Bosheit entwickelt sich zweifelsfrei aus der Erfahrung elterlicher Autorität. So wünscht sich eines der Kinder, Manfred Schmer, Bandenmitglied und ?S-Mann nichts sehnlicher, als selbst in ein KZ eingeliefert zu werden, denn lieber möchte er ?Zler sein, als ein HUNDSKNOCHEN, wie ihn sein Vater, der Oberlehrer Schmer, regelmäßig schimpft. Der ?S-Mann Adolf Dittmeier wiederum bernimmt bei der notwendigen Knebelung des festgenommenen Kindes die psychisch entlastende Entschuldigung direkt von seinem Vater (einem echten SS-Mann), der in Auschwitz dient: Ich habe nichts als meine Pflicht getan. (134)
Eine zweite Erzählebene bildet der Nationalsozialismus und hier spiegelt sich in der Grausamkeit der absurden Kinderspiele die Monstrosität der erwachsenen Nazis. Waren es in den früheren Romanen Elsners vor allem die restaurativen Verhältnisse der BRD, die im Fokus standen, so sind es hier die Fundamente der Nachkriegsentwicklung selbst. Ohne es direkt anzusprechen, weist sie z.B. den Mythos des „Wir haben von all dem nichts gewusst!“ zurück: wie erwähnt sind die dargestellten Eltern des Buches kaum überzeugte Nationalsozialisten – der Vater Lisa Welsners verhöhnt den Führer und seinen Krieg; der Lebensmittelhändler Wätz nutzt die Kriegssituation für Extraprofite und spielt seine Macht als Nahrungsressource gegenüber seinen Kunden gnadenlos aus – aber an ihrem Wissen über Ziele und Mittel des NS kommen keine Zweifel auf. Wie in vielen Romanen Elsners bekommt auch die Kirche ihren Teil ab. Die Liturgie eines Gottesdienstes wird als sinnloser Hokuspokus entlarvt, wenn die Ich-Erzählerin sich die fremdsprachigen Verse einprägt und sie später als Zaubersprüche einsetzt, um den entführten Jungen in die Gestalt eines Untermenschen zu verwandeln. Als Jude muss er ja eine solche haben, sein aktuelles, allen Anschein von Normalität anzeigendes Äußeres, ist für die Nazi-Kinder nur magische Verwandlung, schöner Schein.
Das gesamte Buch ist durchzogen von der Parolenhaftigkeit der NS-Propaganda (Elsner schrieb in dem Essayband Gefahrensphären über Kriegslieder im Dritten Reich und ihre Wirkung), die aus den zarten Kindermündern wie Maschinensprache quillt. Mit dem gefährlichen Halbwissen verbinden sich Sprache und Handlung zu einer absurden Pseudorealität: So wäre den Kindern nichts unangenehmer als der Tod des einzigen Insassen, denn dies würde ja ihrem KZ „den Ruch, eine Kinderei zu sein“ (140) aufbürden. Zwar sind an der alleinigen Erklärungsmächtigkeit des Nationalsozialismus über Propaganda, die von den Romankindern unablässig reproduziert wird, berechtigte Zweifel anzumelden, da sie die Handelnden aus jeder Verantwortung entlässt; und der Judenmord im Roman geschieht ja tatsächlich aus Versehen und nicht etwa aus eliminatorischem Antisemitismus. Aber dies von der Autorin zu fordern wäre schon wieder ein realistischer Reflex, den ihr satirisches Schreiben, indem es z.B. jegliche Rasselehre als zweckbestimmte Konstruktion vorführt, ja gerade zurückweist. Abschließend kann nur die Empfehlung ausgesprochen werden, sich diesem wirklich gescheiten Beitrag zu NS und Luftkriegsdebatte einer tragischerweise gescheiterten deutschen Kommunistin selbst zu widmen.

M.M.

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Anmerkungen

(1) Vgl. den oben besprochenen Sammelband, S. 74.

23.11.2009
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