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Aktuelles Heft

INHALT #170

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Oaklands Seele
Codes in the Clouds, Pg.lost
Shuffle Me!
Prolls mit Verstand
Apoptygma Berzerk
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Dritte Wahl
Sechs Jahre ITS YOURS! Party
Vadim Imaginashun-Tour
The Living End
Miss Platnum
Friska Viljor
US Bombs
The Adicts
Jochen Distelmeyer
Fucked Up
Hot Water Music
Imperial Never Say Die! Club Tour 2009
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Masta Ace
Muff Potter
A Storm of Light, Minsk
Full Speed Ahead, Backfire
• ABC: E wie Emanzipation
• review-corner platte: Ja! Ich rede gern mit mir selbst!
• kulturreport: Like a virgin?
• doku: Post aus Honolulu
• doku: Über Fundamentalkritik und die feinen Unterschiede
• doku: Watch out for a new generation to push things forward!
• doku: Radio Blau von Abschaltung bedroht
• leserInnenbrief: Mit Schaum vor dem Mund
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Als Reaktion auf den in CEE IEH #169 erschienen Artikel „Bis auf die nackte Haut. Erbrochenes zur Kritik der Politik“ entspann sich ein reger privater Mailwechsel zwischen Roman und dem Autor besagten Artikels, Studienrat Groll. Wir hatten das Glück, davon Kenntnis zu nehmen und uns gefiel, was wir lasen. Die Mails sind in unseren Augen nicht nur aufgrund ihres unbezweifelbaren Erkenntnisgehalts, sondern auch dank ihres „literarischen“ Esprits eine bereichernde Lektüre. Für die Einwilligung in den Abdruck der Auseinandersetzung möchten wir uns daher bei den beiden Diskutanten bedanken.
Für die Druckversion wurden die zitierten Quellen in Fußnoten ergänzt.

Die Redaktion



Über Fundamentalkritik und die feinen Unterschiede

Ein Mailwechsel zwischen Roman und dem Studienrat Groll

1. Roman an Studienrat Groll, am 1. Oktober 2009.

Zitat:
„Anarchisten und Syndikalisten verwerfen prinzipiell jede parlamentarische Tätigkeit, weil sie der Ansicht sind, dass die Interessen der Bourgeoisie als Klasse den Interessen des Proletariats so diametral entgegengesetzt sind, dass jede Vermittlung auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus nicht nur zwecklos, sondern direkt schädlich für die Arbeiter ist, indem sie den Klassenkampf zur würdelosen Komödie gestaltet und lähmend auf die revolutionäre Energie und Initiative der Massen wirken muss. Das freieste Wahlrecht kann an dieser Tatsache nichts ändern und alles Gerede von der Demokratie ist nur eitle Schaumbläserei, denn politische Freiheit ohne ökonomische Gleichheit ist Lüge und Selbstbetrug.“(1)

Sehr geehrter Herr Studienrat,

wer seine Kritik der repräsentativen Parteiendemokratie – wie Sie – durch solch schlagkräftige und hier offensichtlich affirmative Zitatauswahl bebildert, muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern sich der eigene Anti-Parlamentarismus (hier offensichtlich mit Agnoli und mir unbekanntem Autor) nicht nur vom Antiparlamentarismus eines Gabriele D` Annunzio oder Georges Sorel unterscheidet, sondern auch von derjenigen Prägung, die in der Weimarer Republik als antiparlamentarische Rechte von sich Reden machte. Man vergleiche nur mal die folgende Kostprobe:

„Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlamentsrechtes (...) wirken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen. Die Parteien (...) treten heute nicht mehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen einander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Machtmöglichkeiten und schließen auf dieser faktischen Grundlage Kompromisse und Koalitionen. Die Massen werden durch einen Propaganda-Apparat gewonnen, dessen größte Wirkungen auf einem Appell an nächstliegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argument im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet. An seine Stelle tritt in den Verhandlungen der Parteien die zielbewußte Berechnung der Interessen und Machtchancen (...)“ usw. usf.(2)

Die Verachtung der parlamentarischen Demokratie ist übrigens etwas, was Schmitt an den Bolschewiki durchaus zu schätzen wusste, offenkundig auch am italienischen Faschismus. Anscheinend aber ist es für gelernte Linke gar nicht so leicht, dem von Schmitt Dargebotenem zu widersprechen. Die Schwierigkeit heute (insbesondere nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts) besteht nun darin, die eigene Kritik der Repräsentativdemokratie so zu formulieren, dass sie gerade nicht in die Falle marxistischer oder faschistischer Totalablehnung steuert. Das kann man z.B. von den alten Frankfurtern lernen. Warum wohl war Carl Schmitt der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre ein geistiger Patron? Warum ist er es heute für die Nouvelle Droite?

Freundlich nachfragend und grüßend
Ihr Roman

2. Studienrat Groll an Roman, am 2. Oktober 2009.

Werther Roman,
vielen Dank für Ihre interessante Zuschrift, die mich bedauerlicherweise just zu einem Zeitpunkt erreicht, da mein gesamtes Wesen vollends von anderer Seite eingenommen ist. Der Teufel selbst klopft an, wenn Sie verstehen.
Gestatten Sie mir, dass ich mich deshalb auf einige flüchtige Andeutungen beschränke.
Die Unterstellung, Agnoli stünde in einer Kontinuität mit der faschistischen Parlamentarismuskritik, wurde ja von Wolfgang Kraushaar prominent artikuliert – leider freilich erst einige Tage nach dem Tod des Beschuldigten, der sich also, sozusagen aus praktischen Gründen, nicht mehr gegen diese Infamie zu Wehr setzen konnte.(3)
Zu D`Annunzio, Sorel und Schmitt kann ich mich leider nicht sachkundig im Detail aussprechen. Was aber die faschistische Parlamentarismuskritik von einer Kritik der Politik, wie sie Marx oder Agnoli umrissen haben, unterscheidet, ist dies:
Die Faschisten verachteten den Parlamentarismus, weil er die Souveränität der Volksgemeinschaft nicht effektiv genug ausübte – er spaltete das Kollektiv in Fraktionen, statt es völkisch zu einen. Die Kritische Theorie aber zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie der Macht an sich negativ gegenübersteht: Agnolis Leitmotiv der Subversion belegt das auch für diesen Denker recht offen. Von der faschistischen Verkehrung grenzt man sich also dadurch ab, dass man die im Parlamentarismus vollstreckte Herrschaft eben nicht als zu zersetzend, sondern als zu effektiv wahrnimmt.
Nun plädieren Sie allerdings dafür, den bürgerlichen Parlamentarismus nicht total abzulehnen – man lande sonst im 20. Jahrhundert. Weil Sie von den alten Frankfurtern sprachen, muss ich Ihnen versichern, dass zumindest Adorno unmöglich zum Komplizen in dieser Angelegenheit gemacht werden kann: Sein Denken ist doch deshalb so unwiderstehlich, weil es so konsequent die unbedingte Negation der gesellschaftlichen Institutionen aufrecht erhielt. Auch nur ein „kleinesbißchen“ Zustimmung zur zentralen Leitstelle des falschen Ganzen wäre ihm übel aufgestoßen, ja, man muss vielmehr damit rechnen, dass es erneut Erbrochenes gegeben hätte.
Vielleicht aber war der alte Horkheimer gemeint? Dass dieser sich angesichts der Vernichtung zunehmend positiver auf die bürgerliche Gesellschaft bezog, als das kleinere Übel wohlgemerkt, ist nicht umstritten. Das spricht eigentlich nur für Adorno.
Dass viele Idioten im SDS Carl Schmitt so freudig lasen, lag meines Erachtens zunächst einmal daran, dass sie schon damals Nazis waren. Mahler und Rabehl beteuern das ja auch in jedem Interview. Selbstverständlich – und an dieser Stelle möchte ich Ihnen noch einmal danken, dass Sie mich mit Ihrem Schreiben daran erinnern – wäre ich selbst sehr interessiert, endlich einmal genauer bei Schmitt und den Faschisten zu lesen, um die übelriechenden Tendenzen der Volksmacht im SDS einordnen zu können.
Abschließend nur noch die Frage, wo in Ihrem Entwurf einer (teilweisen) Rehabilitierung des Parteienstaates die Kritik der politischen Ökonomie aufbewahrt ist? Diese, also die Ökonomie am Laufen zu halten ist ja der Beruf der Verwaltung. Das erfrischende an Rudolf Rocker (wohl der andere noch unbekannte Freiheitsbarde) ist nun, dass er nicht wie so viele andere Anarchisten und Kommunisten in den Irrglauben verfällt, man könne die politische Herrschaft isoliert von der Kapitalzirkulation betrachten, und anders herum. Marx` „Zur Judenfrage“ enthält die Grundlagen zum Verständnis des Zusammenspiels von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Die ideologische Verdopplung des Subjekts in citoyen und bourgeois dient genau dazu, die Bürger in ihrer irdischen Realität der kapitalistischen Produktion ruhig wirtschaften zu lassen. Das gleiche gilt auch noch heute, daher kein Ja zum Parlament. Wie gesagt: Der Versuch, die Unterdrückung akzeptabel zu machen. Es ist ja doch eine teuflische Welt.
Natürlich, Leviathan ist immer noch besser als Behemoth. Aber das macht ihn nicht gut. Stimmt man dem zu, so darf theoretische Reflektion hier keinen Unterschlupf nehmen, um sich positiv auszuleben.

Stets der Ihre,
Studienrat Groll

3. Roman an Studienrat Groll, am 2. Oktober 2009.

Verehrter Herr Studienrat,

ich danke Ihnen für Ihre aufschlussreiche und wohlgesonnene Antwort. Vielen Dank auch für die Hinweise in Sachen Anarchosyndikalismus, welcher mir bisher wahrlich fremd geblieben ist. Ich verspüre trotzdessen nicht allzu viel Dissens, was die von Ihnen geäußerten Gedanken angeht. Gleichwohl möchte ich doch auf die von mir bemerkten feinen Unterschiede eingehen, die ich freilich nicht in der gebührenden Weise behandeln kann. Auch mich plagt – Sie sprachen es selbst an – das Joch tagtäglicher Verpflichtung. Sie werden daher entschuldigen, dass ich die Gepflogenheiten akademischer Federführung einstweilen zurückstellen muss und ab und an in Kurzform verfalle:

Leider habe ich bisher zu wenig Agnoli gelesen, um mir ein dezidiertes Urteil zu erlauben. Deshalb habe ich in meiner Anfrage auch nicht behaupten wollen, dass Ihre Kritik (oder die Agnolis) am Parlamentarismus in „Kontinuität“ zur konservativen deutschen Parlamentarismuskritik im Sinne einer Identität besteht. Das haben Sie ja selbst in Ihrer Antwort sehr deutlich ausgeräumt. Meine Frage – wenn ich daran erinnern darf – war: Worin besteht der Unterschied? Und nicht: Worin besteht die Kontinuität? Freilich unterstellte ich damit zugleich, dass es Gemeinsamkeiten geben könnte, quasi Identität in der Nichtidentität. Darauf sind Sie ja in ihrer Antwort auch eingegangen.

Meine Verständnisschwierigkeiten beginnen jedoch woanders. Sie, verehrter Studienrat, führen Agnoli ja als Protagonisten Kritischer Theorie ein, für die Sie ja zuallererst auch Adorno und Horkheimer ins Felde führen. Sie schrieben folgendes:

„Die Kritische Theorie aber zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie der Macht an sich negativ gegenübersteht: Agnolis Leitmotiv der Subversion belegt das auch für diesen Denker recht offen.“

Nun ist es ja mit der Macht so eine Sache. „An sich“ kann man ihr zwar – wie ich Ihnen sowie der von Ihnen angeführten Kritischen Theorie zugeben würde – negativ gegenüberstehen. Nur ist es leider so, dass der Alltag uns sehr viele Situationen beschert, in denen uns Macht (ein sehr schwieriger Begriff, wie Sie zugeben werden) nicht in dieser reinen Form begegnet. Manchmal müssen wir uns, ähnlich wie etwa Adorno oder Horkheimer, für konkrete Erscheinungsformen der Macht entscheiden bzw. abwägen, wo wir uns unserer individuellen Freiheit am wenigsten beraubt sehen. Für solch eine Situation dürfte insbesondere die amerikanische Erfahrung der alten Frankfurter stehen, denen Deutschland ab 1933 zuwider war.

Sie sehen, es ist gar nicht so einfach mit der „unbedingte[n] Negation der gesellschaftlichen Institutionen“. Auch Adorno hat, da sehe ich einen Dissens, so ernst in der Praxis nicht machen können, wie es an manchen Stellen seines Werkes klingen mag. Ich möchte Sie daher – in Übereinstimmung mit diesem Werk – darauf hinweisen, dass es vielmehr die „bestimmte Negation“ ist, nicht eine etwaige „unbedingte“, die Adornos an Hegel geschultes Denken anleitet. Seine „Negative Dialektik“ ist daher auch nicht mit Fundamentalkritik zu verwechseln, die ihm als Antipoden Heideggers – wie Sie wissen – gar nicht behagte. Selbst sein Kollege Herbert Marcuse wusste, was er mit Hegel seinem ehemaligen Lehrer Heidegger voraus hatte.

Nun stellen Sie Agnoli als einen Nachfolger der alten Frankfurter hin, oder zumindest stellen Sie ihn in diese Linie. Dies hat mich doch zugegebener Maßen etwas verwirrt. Denn abgesehen davon, dass dies durch die Sekundärliteratur kaum personell belegbar ist (bitte berichtigen Sie mich, wenn ich hier falsch liege), ist es doch erstaunlich, dass Agnoli in seiner Kritik der Demokratie eher in einer Kontinuität mit dem frühen Jürgen Habermas steht. Hierfür glaube ich indes auch Belege angeben zu können, weshalb ich Sie gern auf die Werke „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und „Student und Politik“ hinweisen möchte. Wie Sie ebenfalls wissen werden, waren es diese Studien, die den damaligen Institutsdirektor Horkheimer gegen den zu forschen Jungakademiker aufbrachten, weshalb dieser dann nach Marburg zu Herrn Abendroth (auch eine interessante Gestalt in Sachen Parlamentarismuskritik) wechselte. Dies feststellend, muss ich Ihnen leider ihre Einordnung des Herrn Agnoli in den Zusammenhang der Kritischen Theorie absprechen, es sei denn Sie würden den Zusammenhang Kritischer Theorie auf die von mir genannten Abendroth und Habermas ausweiten, deren personelle Nähe zu den alten Frankfurtern zweifellos mehr gegeben scheint als bei Agnoli (wie gesagt: berichtigen Sie mich hierin, falls notwendig). Wer oder was Kritische Theorie ist, wer dazugehört und wer nicht bzw. wer (evtl. mit Abstrichen) für welche Zeiträume, ist eine sehr schwere Frage. Sie werden aufgrund meiner bisherigen Ausführungen jedoch verstehen, dass ich Ihrem Urteil über Adorno nicht in der Weise zustimmen kann, wie es in dem folgendem von Ihnen geschriebenen Satz über ihn zum Ausdruck kommt:

„Auch nur ein kleines bißchen Zustimmung zur zentralen Leitstelle des falschen Ganzen wäre ihm übel aufgestoßen, ja, man muss vielmehr damit rechnen, dass es erneut Erbrochenes gegeben hätte.“

Ihrem Urteil über den späten Horkheimer, das an ihm – ähnlich wie die einschlägige Literatur – nicht viel mehr übrig lässt als die Servilität eines alten Mannes, kann ich leider ebenfalls nicht zustimmen. Aber lassen Sie mich lieber abschließend auf Ihre konkrete Frage eingehen, die Sie wie folgt an mich richten:

„Abschließend nur noch die Frage, wo in ihrem Entwurf einer (teilweisen) Rehabilitierung des Parteienstaates die Kritik der politischen Ökonomie aufbewahrt ist?“

Darauf antwortend, kann ich Ihnen versichern, dass ich die Kritik der politischen Ökonomie für absolut notwendig erachte und auch nicht zu vernachlässigen gedenke. Was ich aber einräumen muss, ist, dass sie bei mir nicht die Rolle spielt, die ihr bei Marx aber auch im Marxismus zukam. Ihr muss nicht die ganze Bürde einer Kritik aufgeladen werden, die an einen Punkt einsetzt und am Ende wieder in diesen Punkt einmündet – weder historisch (spiral- oder stufenartig) noch irgendwie dialektisch (logisch) – und damit die Bürgerliche Gesellschaft als ganze schon auf den Punkt gebracht zu haben glaubt. Ich glaube vielmehr, dass sich ein solcher Hegelianismus angesichts der Komplexität der Gesellschaft, hoffnungslos überfordert. Und ja – ich misstraue jedem Ableiten – wer ableitet (was auch immer: Staat, Kultur, Bewusstsein, Geschlechterverhältnis, Religion etc.) oder auch nur glaubt, dies alles aufs Ökonomische draufsetzen zu können wie eine zweite Etage, der hat implizit auch eingestanden, dass die Begriffe des Werts, Kapitals, Geldes (diese hegelianisch gesetzten Großsubjekte) all dies gar nicht in ihrer immanenten Bewegung einzuholen in der Lage sind – in der Theorie oder Kritik sowenig wie in der dieser vorausliegenden Realität. Da haben Sie nun eine sehr defensive Antwort von mir bekommen. Nicht wahr?
Dies Letzte bitte ich Sie allerdings nicht so streng zu nehmen, da die Frage, die Sie stellen, doch keine gar so leichte ist. Das Übrige können Sie hingegen für bare Münze nehmen.

Hochachtungsvoll, Ihr R.

4. Studienrat Groll an Roman, am 5. Oktober 2009.

Sehr geschätzter R.,
seien Sie mir gegrüßt, wie geht es Ihrer Frau, was macht das Büro? Verzeihung, nur ein kleiner Spaß.

„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“(4)

Vorweg erneut eine Enttäuschung: Auf den spannendsten Teil Ihrer Überlegungen, nach Sinn und Mangel der Ableitungen, werde ich nicht eingehen. Marx' „Ableitungen“ (siehe oben) der himmlischen, scheinhaften gesellschaftlichen Institutionen (Politik und Religion) aus der materiellen Wirklichkeit der Produktion sind für mich wohl allerdings reinste Offenbarungen. Ein klarer Quell der Aufklärung, in dem man sich den Kopf waschen will! Die geheimnisvolle Auseinandersetzung mit jenen „hegelianischen Großsubjekten“ scheint mir von außerordentlichem Reize, und Marx' Geschichtsphilosophie gehört für mich nicht auf den Sperrmüll, sondern ist Gegenstand der Inspiration, der sinnvollsten Spekulation sogar! Aus dem Stand kann ich meine Gedanken jedoch nicht mit einer Ernsthaftigkeit vortragen, die der Ihren gebührte. Doch wie sagt der Volksmund, seinerseits ganz hegelianisch? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ihre Ausführungen zu Adorno, Hegel und der „bestimmten Negation“ habe ich ebenfalls mit Interesse zur Kenntnis genommen. Ich möchte mich auch hier zunächst einer Einschätzung enthalten, die Angelegenheit aber durchaus weiter verfolgen. Im Vertrauen: Mein akademischer Titel schützt mich nicht vor mangelndem Studium. Schreiben Sie mir in fünf Jahren wieder, ich werde mich dann „Wissenschaftlicher Oberrat“ taufen, und wie die anderen Kartoffelphilister souverän auch zu mir noch so fremden Angelegenheiten Konversation machen. Einstweilen aber überschätzen Sie bitte keinesfalls meine bescheidenen Möglichkeiten.
Was ich freilich zur Sache sagen kann, ist, dass sich folgender Satz von Rolf Tiedemann mit meiner bisherigen Lektüre gründlich deckt: „Kritik der Herrschaft ist das Movens jeden Gedankens, den Adorno gedacht hat.“(5) Das skeptische Festhalten an einer natürlich durch die Erfahrung geläuterten Idee der Aufklärung, der unbeirrbare Traum des mündigen, frei sich entfaltenden Menschen, so ließe sich andersherum formulieren, verleiht Adornos Schriften ihre Strahlkraft. Der Parteiapparat, jenes nach militärischem Gehorsam sich aufbauende Zentralkommando mit dem General(sekretär) an der Spitze, ist eine zu offene Beleidigung der menschlichen Selbstbestimmung, als dass Adorno es sich in ihm gemütlich gemacht hätte. Generell beobachte ich die Tendenz, Adorno für alle möglichen positiven, identitären Unternehmungen vor den Karren zu spannen, mit großem Widerwillen. Sei es drum, Staatskritik kommt bei den Frankfurten (das klingt so nach Würstchen, finden Sie nicht?) zu kurz – und damit möchte ich mein unbedarftes Geplauder über ein Werk, das meinen Horizont eindeutig übersteigt, nun abschließen.

Agnoli habe ich zwar in meinem letzten Schreiben durchaus nicht in die großgeschriebene „Kritische Theorie“ (in Frankfurt in die Schule) gesteckt – eine elementare Gemeinsamkeit wurde und wird aber von mir vermutet: leidenschaftliche Negativität. Heilige Flamme der Freiheit! Und auf Abendroth, der ja glaubte, man könne die parlamentarische Realität kritisieren, und trotzdem dem Grundgesetz treu bleiben, war Agnoli besonders schlecht zu sprechen.(6) All diese ausufernden Diskussionen führen uns allerdings weit weg vom ursprünglichen Gegenstand unserer Unterhaltung, und ich möchte – schon um eine gemeinsame Grundlage zu haben (es ist ja nun geschehen, dass der eine Quellen beschreibt, von denen der andere noch nie gekostet) – das Kernproblem noch einmal konkretisieren. Auf meinen Versuch, den Berliner Machtbetrieb ins lächerliche zu ziehen, reagierten Sie ja mit der Mahnung, die Heftigkeit der Ablehnung noch einmal zu überdenken. Es geht also grundlegend um die Frage, ob es möglich sei, innerhalb der Institutionen zu handeln oder nicht – denn im Parlamentarismus gibt es ja nur die zwei Optionen: entweder man wählt, oder man lässt es bleiben. Die Macht mag also ein kompliziertes Ding sein, ob man sich ihrer aber systematisch bedient, muss man sich dennoch in aller Allgemeinheit überlegen.
Insbesondere besorgte Sie eine etwaige Nähe radikaler Parlamentarismuskritik zu faschistischen Formen der Ablehnung. Dazu möchte ich noch ein paar Sätze vortragen, die womöglich zur Beruhigung beitragen werden.

Kraushaars Unterstellung, Agnoli knüpfe an die faschistische Parlamentskritik an, war deshalb so undankbar, weil Agnoli in der Tat sich ganz offen mit dem Faschismus beschäftigte – allerdings nur um zu zeigen, wie zentrale Verkehrungen aus dieser Richtung sich im bürgerlichen Parlamentarismus wiederfinden:

„Ideologisch freilich wird in der Volkspartei wie in der faschistischen Partei aus dem Ausgleich eine allgemeine Angleichung aller: beide zielen ungeachtet eines etwaigen klassenmäßigen Auftrags auf die Bildung einer großen Gemeinschaft, in der die Einzelnen der gleichen sittlichen Verpflichtung unterliegen, jedoch einen ungleichen materiellen Anteil an wirtschaftlicher und politischer Macht (und einen ungleichen Zugang zu den Partei-Machtzentralen) erhalten. Dabei lag es auch der ‚geschichtlichen Aufgabe' des Faschismus zugrunde, als erstes die ‚Proletarität' zu überwinden ohne den Kapitalismus anzutasten [Fußnote: Vgl. Mussolinis Kammerrede v. 21. Juni 1921 und seine Udiner Rede v. 20. September 1922.]. Diese von Leibholz übrigens schon 1928 angedeutete Nähe der (pluralen) Volkspartei zum faschistischen Typus wird auch an der politisch praktizierten Form des Ausgleichs ersichtlich. Sie geht der Tendenz nach auf eine Zusammenarbeit von Berufskategorien aus, in der die Polarität von Kapital und Arbeit aufgelöst werden soll. Sie orientiert sich also grundsätzlich an einer korporativen Lösung der Konflikte und an einer korporativen Friedensordnung.“(7)

„Volksparteien“ sind in der Substanz übrigens alle im Bundestag vertretenen Fraktionen: Jeder verkauft seine Dummheiten da als Balsam für die ganze Gesellschaft, und das, obwohl die Bürger ja gerade Repräsentanten abordern sollen, die IHRE privaten Interessen am besten vertreten. Ein recht dümmlicher Widerspruch, der allerdings verfassungsrechtlich angelegt ist: GG § 38 (1) Die Abgeordneten: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Die Verherrlichung von Einheit, Harmonie, Ausgleich und Kompromiss ist auf der Grundlage der antagonistischen Klassengesellschaft natürlich ideologischer Unfug – illusorische Gemeinschaft. Im Parlamentarismus, dem man nun seine Totalablehnung ersparen soll, werden genau diese fehlplatzierten Sehnsüchte jeden Tag geschürt. Das Parlament ist der Hohetempel des Kompromisses selbst! Hier wird debattiert und „engagiert gestritten“, damit am Ende das Beste – für wen? – für das Land herauskommt.
Es muss verwundern, dass gerade eine Position, die sich durch den Versuch verdient macht, die Vernichtung stets mitzudenken, noch ein Haar lassen sollte an diesem Apparat, dessen Integrationsmechanismus immer wieder auf die mörderische Scheiße der Nation zurückgreifen muss. Ja, ich muss doch sehr bitten, lieber Roman, wie könnte man jemals ein freundliches Wort verlieren über die hier schaltende und waltende Staatlichkeit, die den Kreis der in ihr Geduldeten noch immer rein völkisch definiert! Dieses Parlament wird von Deutschen gewählt – nicht von Menschen! Der Parteienstaat: schon im Moment der Konstituierung eine Nationalversammlung im germanischen Sinne. Die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgericht besagt nach wie vor: Das Volk ist „die Gesamtheit der im Wahlgebiet ansässigen Deutschen“. Nicht: Menschen. Das ius sanguinis ist die Grundlage des Geschehens. Die Negativität, die dieses schreckliche Wesen der Volkssouveränität also verdient hätte, ist in Worten überhaupt nicht zu fassen! „Totalablehnung“ oder von mir aus „Fundamentalkritik“, sind noch reichlich milde Ausdrücke – das „Hohe Haus“, dieses mystifizierte Paulskirchentheater, dieser vollends verselbständigte Machtapparat, der sich als demokratisches Orakel geriert, gehört entweiht – ähnlich einem Stück Toilettenpapier, immer mal wieder. Sehen Sie, diese unglaublichen Perversionen des Alltags – dass jeden Tag viele Menschen an den Europäischen Grenzen ertrinken, weil sie leben wollen, am liebsten ein bisschen wie wir – sind gesellschaftliche Realitäten, die im parlamentarischen System nicht erfunden, wohl aber umgesetzt werden. Die Exekutive, der politische Apparat, sorgt schlicht dafür – ich betonte dies nun bereits mehrfach, weil ich hier den zentralen Verblendungszusammenhang vermute – dass die bürgerliche Gesellschaft sich frei entfalten kann. Der im Rahmen des parlamentarischen Gesetzesprozesses sich vollstreckende Geist, ist niemals einer, der seine Grundlagen in der Substanz reflektieren würde. Einschließlich der PDS bekennt sich „links“ und „rechts“ und alles dazwischen zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Selbst wenn dem nicht so wäre, wenn sozusagen eine „Fundamentalkritik“ eine „Fundamentalopposition“ in den Reichstag (welch traditionsreicher Name für unsere schöne Assoziation) entsandte, käme mir weiterhin stets das Kotzen, um es akademisch auszudrücken. Jede noch so gut gemeinte, konstruktive Teilhabe legitimiert notwendig die Produktionsordnung des Parlaments und die der Ökonomie überhaupt. Beides ist mir zuwider: dass machtwahnsinnige Berufspolitiker mein Leumund zu sein sich anmaßen und dass die Menschen unter Konkurrenzbedingungen nicht anders können, als sich gegenseitig unentwegt die Torte wegzufressen. Die Negativität wie gesagt, kennt in mir keine Grenzen, wenn man auf die alltägliche Herstellung dieser Verhältnisse unbedingt (hier passt es besser!) zu sprechen kommen muss. „Keine Kompromisse“: Die Verwaltung soll ein Ende nehmen.

In diesem Sinne empfehle ich mich Ihnen in aller Herzlichkeit,
Studienrat Groll

PS:
Zwecks Austausch in Sachen Anarchosyndikalismus können Sie sich übrigens auch in Zukunft vertrauensvoll an mich wenden. Man sollte der Vielfalt, die sich hinter dieser Marke verbirgt, nicht voreilig spöttisch begegnen. Vielmehr würde es sich lohnen, die lange Geschichte der Organisationsfrage genauer zu studieren. Man könnte sich dadurch die ein oder andere schwätzerische „Grundsatzdiskussion“ ersparen. Sätze wie der Folgende von Bakunin deuten an, mit welch schlichter Allgemeinheit man es am Ende doch zu tun hat.

„Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft, ist gehalten, schon von jetzt an das treue Bild unserer Grundsätze von Freiheit und Föderation zu sein und jedes der Autorität, der Diktatur zustrebende Prinzip aus ihrer Mitte herauszuwerfen.“(8)

Das Verhältnis von Zweck und Mittel, die Idee der Avantgarde. Große Fragen, für jene, die alles gerne anders hätten.

Studienrat Groll, Roman

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Anmerkungen

(1) Rudolf Rocker: Parlamentarismus und Arbeiterbewegung, in: Gerhard Senft (Hrsg.): Essenz der Anarchie. Die Parlamentarismuskritik des libertären Sozialismus, Wien 2006, S. 131-146, hier: S. 131. Zitiert von Studienrat Groll, Bis auf die nackte Haut. Erbrochenes zur Kritik der Politik, CEE IEH #169.

(2) Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 10f.

(3) Vgl. Rainer Blasius: Seitenwechsel und Veränderung. 1968 bis 1973 im deutsch-italienischen Vergleich: Johannes Agnolis Parlamentarismuskritik, in: FAZ Nr. 289, 12.12.2006, S.12.

(4) Karl Marx: Zur Judenfrage, in: MEW Bd. 1, Berlin 1976, S. 370.

(5) Vgl. Theodor W. Adorno: Vorlesung über negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 270.

(6) Vgl. Verfassungskritik der Außerparlamentarischen Opposition. Diskussionsteilnehmer: Johannes Agnoli und Ulrich K. Preuß, Diskussionsleitung: Werner Süß (im Rahmen der Berliner Ringvorlesung „1968 – Vorgeschichte und Konsequenzen“), am 25. Mai 1988. http://www.glasnost.de/hist/apo/apo885.html

(7) Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main 1968, S. 41.

(8) Michail Bakunin: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1924, S. 169, kursiv von Studienrat Groll.

 

26.10.2009
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