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Aktuelles Heft

INHALT #170

Titelbild
Editorial
• das erste: Vereint im deutschen Geist der dialogbereiten Toleranz
Oaklands Seele
Codes in the Clouds, Pg.lost
Shuffle Me!
Prolls mit Verstand
Apoptygma Berzerk
Paradise Lost, Samael, Ghost Brigade
Dritte Wahl
Sechs Jahre ITS YOURS! Party
Vadim Imaginashun-Tour
The Living End
Miss Platnum
Friska Viljor
US Bombs
The Adicts
Jochen Distelmeyer
Fucked Up
Hot Water Music
Imperial Never Say Die! Club Tour 2009
electric island: KANN & friends
Masta Ace
Muff Potter
A Storm of Light, Minsk
Full Speed Ahead, Backfire
• ABC: E wie Emanzipation
• review-corner platte: Ja! Ich rede gern mit mir selbst!
• kulturreport: Like a virgin?
• doku: Post aus Honolulu
• doku: Über Fundamentalkritik und die feinen Unterschiede
• doku: Watch out for a new generation to push things forward!
• doku: Radio Blau von Abschaltung bedroht
• leserInnenbrief: Mit Schaum vor dem Mund
Anzeigen
• das letzte: 100 Zahnstocher inkl. Gebrauchsanweisung

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Ja! Ich rede gern mit mir selbst!

Jochen Distelmeyers neues Album „Heavy“ zwischen eskapistischem Zeitgeistdokument und Utopieentwurf

Über Sex kann man nur auf englisch singen, lehrte uns die „Hamburger Schule“. Und über Jochen Distelmeyer nur (noch) polemisch schreiben? Oder wie geht man mit diesem Songwriter und Sänger um, der seit Jahren – zumindest auf den ersten Blick – textlich und musikalisch darauf hinarbeitet, die zwischen Natur- und Liebeslyrik changierende Hintergrundmusik für dahinseiernde Vorabendserien zu liefern und den Begriff „Kitsch“ weder als musikalisches noch ethisches „No go“ anzusehen scheint?
Soweit zur vielfach medial breitgetretenen Polemik. Doch die Angelegenheit wäre kaum der Rede wert, handelte es sich bei Jochen Distelmeyer nicht um den Kopf von „Blumfeld“. Blumfeld galt bis zu ihrer Auflösung 2007 sowohl bei popkulturell sozialisierten Twentysomethings als auch beim Feuilleton als eine der interessantesten Bands in deutscher Sprache, wenngleich sie von Anfang an stark polarisierte. Somit waren die Spekulationen und Erwartungen groß im Vorfeld der Veröffentlichung von Distelmeyers erster Solo-Platte „Heavy“ Ende September diesen Jahres.
Schon zu Blumfeld-Zeiten hatte Distelmeyer als Person und durch seine Texte gegenüber den anderen, über die Jahre wechselnden Mitgliedern der Band eindeutig im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gestanden. Und auch weil „Heavy“ musikalisch und textlich da weitermacht, wo das Band-Projekt geendet hat, soll das Solo-Album hier im Zusammenhang mit den früheren Blumfeld-Platten besprochen und vor allem dem „Blumfeld“-Debut „Ich-Maschine“ gegenübergestellt werden, um die textliche Entwicklung in den Arbeiten Distelmeyers zu beschreiben.
Jochen Distelmeyer wehrt sich bis heute dagegen, für ein aufkeimendes deutsches Nationalgefühl im Pop und auch sonst vereinnahmt zu werden. So beteiligte sich Blumfeld 1992 bei den so genannten Wohlfahrtsausschüssen gegen das Erstarken deutschnationalen und rechtsradikalen Gedankenguts im Zuge der Wiedervereinigung. Auch gegen einen der leidigen Versuche, eine Radio-Deutschquote einzuführen, teilte die Band 2004 per Stellungnahme mit, dass sie „für derartigen Populismus und Vaterlandsliebe jedweder Art nach wie vor nicht zur Verfügung st(ünde)“(1). Dass nicht selten versucht wurde, Blumfeld als Vorreiter für die musikalische Affirmation einer „neuen Heimat“(2) zu missbrauchen, könnte jedoch nicht nur den Tatsachen zugeschrieben werden, dass sie eine der ersten deutschsprachigen Bands Anfang der Neunziger war und diese gemeinsam mit anderen wie „Tocotronic“ und „Die Sterne“ unter dem Label der„Hamburger Schule“ medial aufgeblasen wurde. Vielmehr ist zu fragen, in wieweit für diese Vereinnahmung und die teilweise massenmedial anmutende Popularität nicht auch die musikalische und textliche Entwicklung der Band selbst verantwortlich sein könnte.
Auf ihren ersten beiden Alben „Ich-Maschine“ und „L`etat et moi“ hatten sich Blumfeld durch die Verknüpfung von Post-Punk mit komplexen, vielfach verschlüsselten Text-Monumenten in die Herzen der (gefühlt) linken Jugend in der Provinz und in den Städten gespielt. In den Songs fragt ein textlich und stimmlich verzweifeltes Individuum nach den Möglichkeiten von wahrer Individualität in Zeiten der totalen kapitalistischen Vergesellschaftung. Einziger Fluchtweg vor dem gesellschaftlichen Dogma, „dass wir werden sollen wie sie“ („Ich-Maschine“/ „Ich-Maschine“) versprechen die paar vertrauten Du`s innerhalb der freundschaftlich verbundenen KünstlerInnenszene und in (Liebes-)Beziehungen zu sein. Zugleich aber wird gerade die eigene Freiheit der jugendlichen Künstlerrolle als wichtige Funktion für das gesamtgesellschaftliche Gefüge entlarvt: „Mach doch mal einer den Kulturkack aus. Ach geht ja nich, lass bloß an, bin ja selber drin“ („Dosis“/ „Ich-Maschine“). Als „soziale Randgruppe auf dem Weg zu sich selbst“ – so bezeichnet Distelmeyer selbstironisch das eigene Milieu in „Ich-Maschine“ – erfüllt man die gesellschaftliche Sehnsucht nach Provokation und Wildheit.
Und auch die eigenen Intim-Beziehungen sind politisch. Das sprechende Individuum ist hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, „dass Liebe wahr werden kann“ („Zeittotschläger“) und der schieren Unmöglichkeit, innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft als Mann nicht gewalttätig zu sein. Das Lied „Lass uns nicht von Sex reden“ ist meines Wissens bis heute das einzige – auf jeden Fall das einzige auf deutsch –, das aus männlicher Perspektive, aber ohne Eroberungsattitüde Vaginalsex und die damit reproduzierte Sonder-Stellung der Frau durch die Möglichkeit des Schwangerwerdens problematisiert:
„Brauchst du mich? Du brauchst mich! Wolltest du früher ein Junge sein? Jetzt gehörst du zum schwachen Geschlecht. Ich war im Fußballverein und piss im Stehen. (…) Wann hört Macht auf? Hier fängt Macht an. Lass uns nicht von Sex reden“.
Diese Radikalität, mit der textlich in den ersten beiden Alben die politische Durchdringung des Privaten seziert und bis auf die eigenen Knochen verdammt wird, machte Blumfeld zu einem unvergleichlichen und besonderen Musik-Projekt.
Das 1999 veröffentlichte Album „Old Nobody“ ist der Beginn einer Entwicklung, welche viele als Bruch zu den vorherigen Alben empfanden. Musikalisch und textlich hatte man sich zu einfacheren Schlager-, Soul- und Pop-Song-Strukturen hingewandt. Mit unverhohlener Emotionalität und Vibrato-verzierter Sing-Stimme sang da plötzlich einer von der Schönheit der romantischen Zweisamkeit, wie man das allenfalls aus den Radiosendern des verachteten Mainstream-Breis zu kennen meinte. Das Individuum, jetzt weniger zerrissen durch gesellschaftlich geformte und in sich widerstreitende Emotionen, bündelte diesmal sein Pathos, um mit „Tausend Tränen tief“ das Liebeslied aller Liebeslieder anzustimmen. Nicht wenige Blumfeld-HörerInnen der ersten Stunde waren mindestens verwirrt.
Die letzten drei Blumfeld-Alben und auch die jetzt erschienene Solo-Platte Distelmeyers lassen sich in diese Richtung einordnen. Weiterhin arbeitet er mit klassischer Band-Besetzung und mit Lars Precht ist sogar ein Mitglied der alten Band als begleitender Musiker vertreten.
Die gesellschaftliche Durchdringung des/ der Einzelnen ist an vielen Stellen textlich der Darstellung eines individuellen Rückzugs ins Private gewichen. Mindestens drei Lieder handeln vom gescheiterten oder unerfüllten Glück in der trauten Zweisamkeit („Bleiben oder gehen“, „Nur mit dir“, „Jenfeld Mädchen“), die auch musikalisch ohne Überraschungen dahinplätschern. Mit dem Refrain „Und jeder von uns fragt sich: Soll ich bleiben oder gehen?“ beschreibt Distelmeyer zwar treffend, wie das spätkapitalistische Individuum die gesellschaftlichen Zwänge durch die Never-Ending-Story des an sich selbst Arbeitens gerade in der behaupteten Intimität der Zweierbeziehung gegen sich selbst richtet. Allerdings kommt das so unkommentiert, unironisch und scheinbar objektiv daher, dass es nicht verwundert, wenn gleich noch psychologische Ratschläge mitgeliefert werden, wie der privaten Krise zu entkommen sei: „manchmal hilft`s, wenn man darüber spricht“ („Nur mit dir“). Nur weil Dissidenz und Jugendlichkeit meistens eher der popkulturellen Vermarktung verhelfen anstatt als politische Zeichen zu wirken, ist noch nicht nachvollziehbar, warum Distelmeyer unbedingt Pop für alle machen will.
Das jedoch scheint zumindest die derzeitige Vermarktungs-Strategie zu sein. So heißt es auf der Homepage, das Album verhandelte „die existentiell menschlichen Themen von Liebe und Glück, Verlust und Trauer, Freude und Wut – vor dem Hintergrund einer Welt im Wandel“(3). Man muss nicht über den Begriff „Gesellschaft“ nachgedacht haben, um mit diesen Allgemeinplätzen mitgehen zu können. Auch wies Distelmeyer im Interview mit der Jungle World die Vermutung zurück, beim letzten Song des Albums „Murmel“ handelte es sich um eine Beschreibung des linksliberalen Milieus(4). Die Wibkes, Toms und Leilas, die in diesem Song „gestern Geburtstag hatten“, „zurück aus Wien sind“ oder „einen Job in Berlin haben“ stünden für alle als Identifikationsfiguren zur Verfügung. Besteht in „Ich-Maschine“ der Wunsch „dass die anderen aufhör`n, mit sich selbst zu reden“ („Penismonolog“), um der eigenen Isolation zumindest für einen Augenblick zu entkommen, heißt es auf „Heavy“: „Ich sing mein Lied und lass die andern reden“ („Jenfeld Mädchen“). Soll das heißen: Man ist sich doch selbst der nächste? Und das gerne und ohne jugendlichen Groll? Die ehemaligen linken Wilden treffen sich dann vielleicht noch ab und zu auf dem Kinderspielplatz. Dass in den Songs die Gesellschaftlichkeit solcher Szenen nicht und schon gar nicht kritisch behandelt wird, ist schade. Riecht nach Zeitgeist und leichter Vermarktbarkeit, auch wenn sich Distelmeyer erklärtermaßen nach wie vor vom „Fühlen nach Vorschrift in den Straßen“ („Wohin mit dem Hass?“) zu distanzieren sucht.
Denn auch dieses Album lässt sich wie schon die Vorgänger nicht unter einem einzigen Thema oder einer einzigen auszumachenden Stimme subsumieren. Selbst die entschiedensten Kritiker werden zugeben müssen, dass Distselmeyers Texte nicht alle gleich „kitschig“ sind. Einige verbreiten auch diesmal wieder „ungestümen Wind“ („Hiob“) jenseits der Kleinfamilie. Auf „Heavy“ mag dies vor allem für „Wohin mit dem Hass?“ gelten, das sich aber sprachlich so undistanziert von einer Plattitüde zur nächsten hangelt, dass es kein argumentatives Gegengewicht zur überwiegend besungenen Privatheit zu sein vermag. Links sein wird hier zum medienwirksamen Aktivismus: „Kennst du die Reichen und Mächtigen? Lass ihre Wagen brennen!“ Das kann doch nicht so ernst gemeint sein, wie Distelmeyers Betroffenheitsmiene im Video simuliert. Und lass uns nicht von der grölenden Männerhorde reden! Die zelebriert im Video ihr Dagegen sein mit Bier und wildem Gehüpfe.
Statt dieser plumpen Gesellschaftsanalyse ist es mir dann doch noch lieber, wenn Distelmeyer nicht mehr sein will und kann als ein alters-weiser Lyriker und Sänger, der singt: „Am Ende ist es nur ein Song, und ich flieg davon“ („Murmel“). Hübsche Vorstellung, auch wenn ich mich mit der Brille des Blumfeld-Fans von einst frage, wie das inmitten der gesellschaftlichen Verhältnisse bitte gehen soll. Andererseits taucht der Moment des „vorübergehenden entrückt Seins“ an zu vielen Stellen des Albums auf, um ihn lediglich als zeitgeistige Affirmation des Privaten abtun zu können. Vielmehr erscheint er bewusst gesetzt: Das CD-Cover zeigt Distelmeyer mit einer riesigen rosa Kaugummiblase im Mund, kurz bevor sie zu platzen droht. Das Recht, zu träumen und sich Illusionen hinzugeben, taucht in der in „Heavy“ entfalteten Gedankenwelt immer wieder auf. Einerseits verweist dieses Motiv des Traums auf eine Utopie jenseits der existierenden Gesellschaft, wie sie Distelmeyer am offensichtlichsten und schönsten auf dem Blumfeld-Album „Jenseits von Jedem“ besang: „Komm sag es allen, wir sind frei, es gibt kein müssen und kein solln, wenn wir es wolln“ („Wir sind frei“). Als Pendant zu diesem Lied, ebenfalls mit Hymnencharakter, handelt „Lass uns Liebe sein“ auf „Heavy“ von der Möglichkeit, durch die Liebe zu einem Menschen den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen, auch wenn die romantische Zweierbeziehung natürlich immer auch gesellschaftliches Instrument der Einlullung ist. Der Satz „Komm und träum den Traum noch mal“ in „Lass uns Liebe sein“ als Zitat einer Illusionen erlegenen Schlager-Welt spricht einerseits die pathetische Künstlichkeit von Liebe an und schlägt sie trotzdem als individuelle Überlebensstrategie im falschen Ganzen vor. Dass diese individuellen Träume auch irgendwann platzen können oder gar platzen müssen, verbildlicht einmal mehr die CD-Rückseite: die Kaugummi-Blase der Frontseite bleibt als klebriger Rest auf Distelmeyers Gesicht zurück.
Wie schon bei den Vorgänger-Alben bleibt auch diesmal der Eindruck in mir zurück, die verschiedenen textlich und musikalisch entfalteten Tendenzen nicht ganz greifen zu können. Was bei den Einen den Verdacht eines beliebigen Pluralismus` wachrufen mag, würde Distelmeyer vielleicht freuen. Denn so bleibt er die in „Hinter der Musik“ besungene seltsame Erscheinung eines „Muttersohns mit Engelszungen auf dem Psychopfad“.

Theresa Leit

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Anmerkungen

(1) Nachzulesen auf der Fan-Seite http://skyeyeliner.endorphin.ch

(2) Diesen Titel trägt eine Compilation-Serie, die hier als Beispiel für die gruselige Vermarktung in Deutschland produzierter Popmusik auf Grund ihres Deutsch seins angeführt wird.

(3) www.jochendistelmeyer.de/bio.php?page=1&s_id=17 (15.10.09)

(4) Jungle World Nr. 40, 1. Oktober 2009.

26.10.2009
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