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1. Mai-Plakat, 33.5k

Alle Jahre wieder finden sich die verschiedenen Fraktionen der Linken an ihrem traditionellen Kampftag, dem Ersten Mai, ein, um gebührend zu feiern, sei‘s mit ordentlich Bratwurstessen oder mit einer zünftigen Straßenschlacht. Weil der Erste Mai dieses Jahr 75-jähriges Jubiläum als gesetzlicher Feiertag hat und wir finden, dass man wissen sollte, warum das kein Grund zur Freude ist, dokumentieren wir diesen bereits etwas älteren Text von Klaus Thörner aus der Phase 2.
dokumentation, 1.1k

Warum die Linke lieber
den Tag der Arbeit feiert

Über die Gründe der linken Ignoranz gegenüber dem Tag der deutschen Niederlage

Heraus, heraus zum 1. Mai, um gemeinsam mit den deutschen „Werktätigen“ auf der Straße zu marschieren und dann eine Woche später in den eigenen vier Wänden den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus verschlafen - diesem Motto folgt die deutsche Linke seit 1945. Eine solche Geschichtsvergessenheit ist nur möglich, indem die deutsche Linke den inneren Zusammenhang von deutschem Arbeitsverständnis, Antisemitismus und Massenvernichtung verdrängt.
Glorifizierung der Arbeit und die Shoa sind im Nationalsozialismus die zwei Seiten der gleichen Medaille. Arbeitsdienst, Autobahn und die Einführung des 1. Mai zum „Tag der Arbeit“ als Feiertag - hinter vorgehaltener Hand an deutschen Stammtischen gerne verteidigte Errungenschaften des Nationalsozialismus - entspringen dem gleichen Gedanken wie die Parole auf dem Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz: „Arbeit macht frei.“
Das deutsche Arbeitsverständnis wurde durch den Reformator Luther geprägt. Dieser definierte in seiner Bibelübersetzung Arbeit im Gegensatz zur bis dahin verbreiteten Auffassung nicht mehr als Last und Knechtschaft, sondern als göttliche Aufgabe und Pflichterfüllung an der Gemeinschaft. Es war ebenfalls Luther, der die in Deutschland verbreitete Überzeugung zu Papier brachte, dass Juden per se keiner produktiven und damit „ehrlichen“ Arbeit nachgehen. Er forderte, sie deshalb mittels Zwangsarbeit zu züchtigen und dann aus dem Land zu vertreiben.(1)

„Arbeit macht frei“

Spätestens seit Versailles und dem Beginn der Weimarer Republik war dieser Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft tief verankert. Der Diskurs über die „nationale deutsche Arbeit“ brachte Bevölkerung und Führung so nah wie nie zuvor im Deutschen Reich und muss als das zentrale Medium angesehen werden, durch welches sich die Volksgemeinschaft konstituierte. Das wesentliche Moment der Volksgemeinschaftsideologie bestand in dem Ziel, der gemeinsam erlittenen, vermeintlichen Ausbeutung der „deutschen Arbeit“ durch das so genannte „fremdvölkische bzw. jüdische Finanzkapital“ zu entgehen.
Die deutsche Arbeiterbewegung stand nicht in Opposition zu dieser Ideologie, sondern hatte ihr mit den Weg bereitet: Vom Gothaer Parteitag 1875 über August Bebels Plädoyer für die „Arbeitspflicht“ bis zu den zunehmend nationalistischen Vorstellungen der Gewerkschaften bezüglich einer staatlichen Organisation der Arbeit. Walter Benjamin schrieb dazu: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. [...] Die alte protestantische Werkmoral feierte in säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre Auferstehung.“(2) Eine ernste Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus führte die deutsche Linke vor und nach 1933 nie, wohl weil sie spürte, dass sie sich dadurch den Zugang zu den nationalistischen Massen versperren würde. Auf den Gedanken, dass zwischen dem hierzulande verbreiteten Antisemitismus und dem spezifisch deutschen Arbeitsverständnis und dessen am 1. Mai praktizierter Glorifizierung ein innerer Zusammenhang besteht, kam die deutsche Linke nie.
Der Erlösungsgehalt der Parole „Arbeit macht frei“ implizierte sowohl die bedingungslose Hingabe an die Arbeit wie auch die Vernichtung der vermeintlichen Nichtarbeit, die als Synonym für die abstrakte Seite des Kapitals stand. In Mein Kampf hatte Hitler das Symbol der deutschen Arbeit erläutert: „Im Hakenkreuz [sehen wir] die Mission des Kampfes für den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.“(3) Als der „erste Arbeiter“, wie Hitler gerne genannt wurde, ins Kanzleramt einzog, wurde die „nationale Arbeit“ und damit die Beseitigung der „Arbeitsscheuen“ endgültig zum volksgemeinschaftlichen Projekt. Bezeichnend waren militante Wortbildungen wie „Arbeitsfront“ und „Erzeugungsschlacht“ und die Ausrufung des 1. Mai zum Feiertag der „nationalen Arbeit“. Stürmischer Beifall kam auf, als Hitler am 1. Mai 1933 seine Hymne auf die „treue und redliche Handarbeit“ um die Drohung ergänzte, dass „wir jeden einmal in seinem Leben zur Handarbeit führen werden.“(4) Die sofortige Einrichtung von Arbeitslagern begründete Reichsarbeitsminister Hierl mit den Worten: „Unsere Arbeitslager sind Bollwerke gegen jene jüdisch-materialistische Arbeitsauffassung, die in der Arbeit nur ein Geldgeschäft, in der Arbeitskraft eine Ware sieht.“(5) Das hier formulierte wahnhafte deutsche Arbeitsverständnis kulminierte in die „Vernichtung durch Arbeit“, der vielfach deutsche Volksfeste vorangingen, währendderer Jüdinnen und Juden zur allgemeinen Belustigung zu sinnlosen Arbeiten gezwungen wurden.

Die Position der KPD

Diese Arbeitspropaganda und der Antisemitismus standen nie im Mittelpunkt der Kritik der deutschen Linken am Nationalsozialismus. Exemplarisch zeigen dies Maßnahmen und Stellungnahmen der KPD, der lange Zeit größten und bestimmenden Organisation der deutschen Linken. Die Ende 1918 gegründete KPD machte zwar keine theoretischen oder programmatischen Zugeständnisse an den Antisemitismus, sie fand es aber nicht für nötig, fortdauernd über den Antisemitismus aufzuklären und gegen ihn vorzugehen, denn sie sah in ihm bloß einen Auswuchs des von ihr bekämpften kapitalistischen Systems, der von selbst mit dem Untergang des Kapitalismus verschwinden würde. Gelegentlich erwähnte die kommunistische Presse die Gefahr, die seitens der Nationalsozialisten den „armen jüdischen Proleten“ (nicht aber den reichen Juden) drohte. Zumeist bezeichneten sie den Judenhass der Nazis jedoch als Ablenkungsmanöver und Schwindel.(6) Es war ein Axiom für die KPD, dass der Antisemitismus nie an erster Stelle auf die Juden selbst zielt, „er richtet sich immer in erster Linie gegen das revolutionäre Proletariat und seine kommunistische Avantgarde.“(7) Der Faschismus müsse sich zur Verschleierung des Klassengegensatzes und zur Spaltung der werktätigen Massen des Rassenhasses und des Antisemitismus bedienen. Statt dem in den zwanziger Jahren zunehmenden Antisemitismus entschlossen entgegenzutreten, versuchte die KPD aus rein taktischen Gründen ihre jüdischen Mitglieder aus repräsentativen Positionen herauszudrängen. Dies ist u.a. aus dem fallenden Anteil der Juden in den kommunistischen Parlamentsfraktionen zu ersehen. Im Reichstag waren im Mai 1924 unter den 62 kommunistischen Mitgliedern sechs Juden, in späteren Jahren waren es nur ein bis drei, in der letzten Legislaturperiode gab es unter 100 Kommunisten keinen einzigen Juden.(8) 1935 gab die Exilleitung der KPD 1935 die Weisung aus, dass sich jüdische und nichtjüdische Genossen in getrennten Zellen zu organisieren hätten.(9) Ein Jahr später propagierte die KPD die „Versöhnung der antifaschistischen und der nationalsozialistischen Massen“.(10) Dieser Aufruf des ZK der KPD stellt den Tiefpunkt kommunistischer Politik in Deutschland dar.(11) „Das deutsche Volk“ wurde darin aufgefordert, „zusammenzuhalten, die nationalsozialistischen Führer beim Wort zu nehmen und [...] Forderungen der NSDAP, die den Interessen des Volkes entsprechen, in treuer Kameradschaft durchzusetzen“. Dieser Politik lag nicht nur eine völlige Verkennung der Wirkungsmacht der Nazi-Ideologie und die Annahme zugrunde, dass „die unteren nationalsozialistischen Funktionäre [...] die gleichen sozialen Interessen haben wie die Kommunisten.“ Sie war zugleich mit Antisemitismen nur so gespickt. „Wir alle wollen Wohlstand und Frieden“, heißt es in dem Papier, „aber dunkle Kräfte sind am Werk, um Deutschland in einen neuen Krieg hineinzutreiben. Es sind dieselben Kräfte, die uns schon 1914 ins Unglück getrieben und die selber den Krieg gesund und reich überlebt haben.“ „Kameradschaft in den Kulturorganisationen“, forderte das ZK der KPD, „damit die wahre Kultur des Volkes sich durchsetzt gegen das Dunkelmännertum“. Als Antipode jener „dunklen Kräfte“ wird „der deutsche Arbeiter“ benannt, der „wegen seiner Qualitätsarbeit in der ganzen Welt bekannt“ sei. „Kann es einen Aufstieg Deutschlands geben“, fragt die Erklärung, die jenen Aufstieg selbstverständlich nicht in Frage stellt, „ohne daß die Arbeiter höhere Löhne bekommen? [...] Wie kann es einen Aufstieg Deutschlands geben, wenn der kleine Mann von schweren Steuern niedergedrückt wird?“ Die Situation der Jüdinnen und Juden und der Rassismus der Nazis war der KPD nicht der Erwähnung wert. Stattdessen wurden „der deutsche Arbeiter und das schaffende Volk“ aufgerufen, „den noch nationalsozialistischen Massen brüderlich die Hand zu reichen. [...] Für Deutschland – das heißt: für Ordnung, und Sauberkeit im Lande!“(12) Diese ZK-Erklärung erschien im Oktober 1936 in der Deutschen Volkszeitung, dem Zentralorgan der KPD, das seit März 1936 im Exil in Prag und Paris gedruckt wurde. Schon der Titel steht für ein deutliches Zugeständnis an den deutschen Zeitgeist, hatte die Zeitung doch zuvor noch Der Gegenangriff geheißen.(13)
Nach dem 8. Mai 1945 definierten sich die Deutschen wiederum nicht über die von den Alliierten eingeführte und nicht selbst gewählte und durchgesetzte Demokratie, sondern über ihre vorgebliche Arbeitsleistung des Wiederaufbaus. Es schien, als dass die Deutschen die ihnen von den Alliierten präsentierte Schuld durch Arbeit regelrecht abarbeiten, wegarbeiten oder zumindest zu verdrängen versuchten. An den von ihnen willig vollstreckten Massenmord wollten sie sich weder am 8. Mai noch an anderen Tagen des Jahres erinnern lassen. Hannah Arendt bekannte 1950 bei einem Besuch in Deutschland: einen „blinden Zwang [...] dauernd beschäftigt zu sein“, ein gieriges „Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und [...] wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die Ihr vergessen habt. Doch die Angesprochenen sind lebende Gespenster, die man mit den Worten und Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann.“(14)

Nichts zu feiern am 8. Mai

Diese Geschäftigkeit und dieses Verdrängen der begangenen Massenvernichtung war auch ein Merkmal der Nachkriegslinken. Da die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Parteien seit jeher selbst die Arbeitsleistung als Pflichterfüllung und Dienst an der Gemeinschaft predigten und glorifizierten, blieben sie immer ein Teil dieses Arbeitswahns. Nach 1945 wurden im deutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“ die „Helden der Arbeit“ gesucht. Währenddessen trieb es die APO-Linken nach dem Vorwurf des deutschen Proletariats „Geht doch erst einmal arbeiten“ massenhaft in die Fabrikhallen, wo sie den Werktätigen nebenbei in den Produktionspausen ihre Zeitschriften Arbeiterpolitik und Arbeiterkampf zu verkaufen suchten. Selbst Autonome, Anarchisten und andere undogmatische Linke, die zuweilen das Recht auf Faulheit propagieren und sich verbal vom Arbeitsfetischismus distanzieren, begehen den nationalsozialistischen Feiertag der Arbeit weiterhin unbeirrt als ihren höchsten, wenn nicht einzigen politischen Fest- und Aktionstag, den „Revolutionären 1. Mai“, an dem sie Straßenkämpfe simulieren, Reifen verbrennen, Schaufenster einwerfen oder deutsche Massen für ihren Kampf gegen die imaginäre Macht „Globalisierung“ zu mobilisieren versuchen. Eine Woche später regenerieren sich diese Linken dann lieber in ihren Volxküchen, als die deutsche Bevölkerung öffentlich an ihre Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen zu erinnern und auf das Fortwirken nationalsozialistischer Ideologie in der deutschen Gesellschaft hinzuweisen.
Der 8. Mai 1945 war der Tag, an dem die Linke notwendig den Bruch mit dem Konzept des Deutsch-Seins, das von jeher völkisch und antisemitisch war, hätte vollziehen müssen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die deutsche Linke vermochte den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht zu feiern, da sie nicht daran erinnert werden wollte, dass nicht sie, sondern die Alliierten unter maßgeblicher Beteiligung der von ihr verhassten kapitalistischen Staaten USA und Großbritannien diese Befreiung vollzogen hatten. Zum Dank verpflichtet fühlten sich Teile der Linken – wie die DKP – allein der Sowjetunion. Dieser schale Dank ging einher mit der Hoffnung von der Diktatur des (deutschen) Proletariats und der Missachtung der gewonnenen Freiheit und Demokratie als Voraussetzung jeglicher gesellschaftlicher Emanzipation.
Hätte die Linke den von Adorno 1966 formulierten neuen kategorischen Imperativ, das „Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“(15), beim Wort genommen und verinnerlicht, so hätte sie im 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, und im 8. Mai die wichtigsten Tage ihres Gedenkens und ihrer Mobilisierung im Jahr gesehen. Doch ihr war es wichtiger, weiter das Bündnis mit dem deutschen Volk zu suchen und an der „Arbeitsfrage“ und dem „Tag der Arbeit“ als Ausgangs- und Kulminationspunkte dieses Bündnisses festzuhalten. Auch an anderer Stelle hat die Linke Adorno, wenn sie ihn denn überhaupt gelesen hat, nicht ernst genommen: „Man will von der Vergangenheit loskommen: [...] mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. [...] Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“(16) Wäre die undogmatische Linke mit ihrer autonomen Antifa dieser Erkenntnis gefolgt, hätte sie sich in ihrem Antifaschismus-Konzept nicht auf den „Rechten Rand“ fixiert, sondern auf die Mitte der Gesellschaft konzentriert, d.h. auf die ganz normalen deutschen Familien und Arbeiter, die weiterhin die Taten ihrer Väter und Großväter gutheißen oder beschönigen, in ihren vier Wänden die „Errungenschaften“ des Nationalsozialismus preisen und deren Antisemitismus sich immer offener artikuliert. Hätte die Linke Adornos Erkenntnis verstanden, wäre der 8. Mai für sie zum Feiertag der von den Alliierten ermöglichten Demokratie geworden. Gleichzeitig hätte sie immer wieder darauf hinweisen müssen, dass die Deutschen diese Demokratie bis heute nicht verinnerlicht haben.
Die deutsche Linke empfindet den 8. Mai nicht primär als Tag der Befreiung, sondern als Tag der Besiegelung ihres Versagens, da sie selbst nichts zum Ende des Nationalsozialismus beigetragen hat. Daran möchte sie nicht erinnert werden. Nicht begriffen hat die Linke, dass die ohne ihr Zutun gewonnene Demokratie und Freiheit die Voraussetzung für jegliche potentielle Gesellschaftsveränderung ist.
Stattdessen nahm die Linke, streng Georgi Dimitroff folgend, den Nationalsozialismus ausschließlich als eine Verschwörung der Bourgeoisie gegen die revolutionären Massen wahr. Sie widmete dem Widerstand gegen die Nazis weit mehr Aufmerksamkeit, als der Geschichte des Nationalsozialismus selbst. Das Studium der Geschichte wurde zu einer Suche nach Identifikation – einer Suche, die angesichts der Nazivergangenheit besonders intensiv war. Eine historische Konfrontation mit dem „Dritten Reich“ wurde dadurch umgangen. Durch die Hervorhebung der revolutionären Bewegungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, wurde die Tatsache verdeckt, dass diese Geschichte spätestens 1933 zu Ende war und nicht länger eine lebendige historische Tradition darstellt. Das Bedürfnis nach Identifikation führte dazu, den Widerstand gegen Hitler über zu betonen. Dadurch wurde umgangen, sich mit der Popularität des Nazi-Regimes selbst auseinander zusetzen. Diese Art der Analyse wurde noch durch die kommunistische Angewohnheit, lieber vom Faschismus als vom Nationalsozialismus zu sprechen, verstärkt, womit die Linke „seine Klassenfunktion“ unter Ausschluss anderer Momente hervorhob. Mit anderen Worten: „Sowohl die nichtdogmatische Linke, als auch die orthodoxen Marxisten neigten dazu, den Antisemitismus als Randerscheinung des Nationalsoziaismus zu behandeln. [...] Theorie selbst wurde zu einer Form psychischer Verdrängung.“(17) Die populäre Parole „Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg“ implizierte in ihrer Vereinfachung geradezu die Ausklammerung von Auschwitz und die Versöhnung mit dem Volk, das nicht als Träger, sondern nur als Opfer des Faschismus wahrgenommen worden ist. „So unermüdlich die Politik jeder einzelnen Unterfraktion des Monopolkapitals nachverfolgt und jede Reichsmark-Spende der Industrie an die NSDAP akribisch aufgelistet“ wurde, erläutert Thomas Haury, so wenig wurde „Auschwitz wahrgenommen oder als Schlüssel zum Verständnis des NS auch nur in Betracht gezogen.“(18) Dies impliziert auch die Verdrängung des Schlüsselsatzes des spezifisch deutschen Antisemitismus: „Arbeit macht frei.“ Den von Adorno in Kritik an den deutschen Verhältnissen formulierten Satz „Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden, sonst hat man Ressentiment“(19), hat die Linke nicht als Aufforderung verstanden, eben diese Ressentiments herauszufordern und zu entlarven. Stattdessen hat sie es tatsächlich vorgezogen, vom Strick zu schweigen, um es sich nur nicht mit den deutschen ArbeiterInnen zu verscherzen. Deshalb zog sie es vor, am 1. Mai von Auschwitz zu schweigen und am 8. Mai gänzlich stumm zu bleiben.

Vom „Missbrauch“ der Arbeiterklasse

Der deutschen Linken ging es nicht um die historische Wahrheit, sondern um die halluzinatorische Züge annehmende Beschwörung einer Wiederkehr des deutschen Proletariats, an das sie sich klammern wollte. Wie ein rotes Tuch wirkte in diesem Kontext der Begriff „Schuld“. Die Nazi-Verbrechen seien „ein spezieller Trumpf des Zionismus bei der Beeinflussung der westdeutschen Massen“, behauptete 1973 etwa der Kommunistische Bund in seiner Zeitschrift Arbeiterkampf (ak), denn die Verbrechen ermöglichten „die Einimpfung des Schuldkomplexes gegenüber den Juden“, so dass jeder Deutsche schon vor Antritt einer Israelreise automatisch „mit einem schlechten Gewissen ausgerüstet“ sei.(20) Nicht nur die auf Israel und den Zionismus bezogenen Konnotationen sind hier der Skandal, schon allein „mit Hilfe des Wortes Komplex“, so Adorno, „wird der Anschein erweckt, daß die Schuld [...] gar keine Schuld wäre [...] Die furchtbar reale Vergangenheit wird verharmlost zur bloßen Einbildung jener, die sich davon betroffen fühlen.“(21)
Von Schuld wollte die Linke gar nicht sprechen, von Verantwortung nur bezogen auf die „Kapitalistenklasse“. So hieß es im ak weiter: „Seit 1945 hat man uns glauben machen wollen, daß das deutsche Volk am Naziregime und seinen Judenmassakern schuld sei und daß wir diese Schuld bis ins dritte und vierte Glied abtragen müßten. Aber nicht die deutschen Werktätigen, sondern die Kapitalistenklasse trägt die Verantwortung für den Faschismus und seine Verbrechen.“(22) Diese Sätze formulieren die Lebenslüge der deutschen Linken nach 1945, wenn nicht bereits seit 1933. Schon 1943 hatte sich Klaus Mann über derart patriotische Empfindsamkeit beschwert: „Diese Patrioten im Exil“, schrieb er in New York über die Politiker der deutschen Emigration, „werden sehr ungehalten und schlechtgelaunt, wenn jemand die Taktlosigkeit begeht, anzudeuten, das deutsche Volk könnte in gewissem Grade für die ungeheuerlichen Gewalttaten verantwortlich sein, die die Deutschen verübt haben. [...] Sie glauben allen Ernstes, daß Millionen von Deutschen sich unablässig wie Vandalen benehmen, nur weil Hitler sie dazu .zwingt.. [...] Auch wenn die Kommunisten und Sozialdemokraten, die Katholiken, Liberalen und Konservativen in fast allen wesentlichen Fragen uneinig sind“, bemerkte er resignativ, „so gibt es mindestens zwei Punkte, in denen sie sich ausnahmslos einig sind: daß die Nazis böse sind und die Deutschen gut.“(23) Diese Grundauffassung der „Patrioten im Exil“ hat die Politik der deutschen Linken seit 1945 maßgeblich bis in die Gegenwart geprägt. Die immer stärker werdende Symbiose von Volk und Führung im Nationalsozialismus wurde ignoriert. Der Mythos, demzufolge die Masse der Deutschen lediglich „missbraucht“ und eigentlich an der Bekämpfung des Faschismus interessiert sei, blieb ihnen heilig. Unter den ExilpolitikerInnen der KPD wie auch der SPD fand sich nur eine kleine, extrem isolierte Minderheit, die sich von den inneren Zuständen in Nazi-Deutschland eine realistische Vorstellung machte und darüber öffentlich sprach. Zu ihnen gehörte Wilhelm Koenen, der als Sprecher der Londoner KP-Gruppe für die Texte der britischen Exilzeitschrift Freie Tribüne verantwortlich war. Diese Texte stießen bei der übergroßen Mehrheit des deutschen Exils auf heftige Widersprüche. Zur Reaktion der Deutschen auf den Einmarsch der Alliierten hieß es in der Freien Tribüne: „Unbarmherzig zerstört der Ablauf der Ereignisse auch die letzten Illusionen [...] Nicht mit Blumensträußen – mit Handgranaten und Heckenschützen empfangen die Deutschen im Osten und Westen die einmarschierenden Freiheitsarmeen der Alliierten. [...] Statt Unterstützung der Alliierten – Widerstand oder zumindest tatenlose Gleichgültigkeit.“(24) Die KP-Zeitschrift klagte die „deutsche Arbeiterklasse“ an, „zu einer der wesentlichsten Stützen des Nationalsozialismus herabgesunken“ zu sein. Deshalb forderte sie, dass nach dem militärischen Sieg über den Nationalsozialismus sämtliche Entscheidungsbefugnisse bei den Alliierten bleiben sollten. Die Rolle der deutschen AntifaschistInnen sollte sich darauf beschränken, diese zu unterstützen.(25)
1945 war die Alternative für die deutsche Linke also völlig klar: Man konnte nur an den Prämissen wie „Arbeit macht frei“, die zu Auschwitz geführt hatten, anknüpfen, oder man musste mit ihnen brechen. Man konnte sich von den nationalsozialisierten Massen nur abgrenzen oder man musste sich mit ihnen versöhnen. Für welche dieser beiden Möglichkeiten sich die deutschen SozialistInnen, KommunistInnen und AnarchistInnen entschieden, ist bekannt. Ihr Buhlen um die deutschen ArbeiterInnen und deren antisemitisches Arbeitsverständnis blieb unerschütterlich und ungebrochen. Dies konnte nur mit einer Verharmlosung und Verdrängung der Shoa einhergehen. Die Linke wollte die führerlos gewordenen Massen an sich ziehen, wobei die praktizierte Parteilichkeit für die TäterInnen die Millionen ermordeten Opfer des Nationalsozialismus ein zweites Mal auslöschte, indem man sie einfach „vergaß“. Der Hass der Linken richtete sich nicht auf die willigen deutschen VollstreckerInnen, sondern auf die Befreier, insbesondere die Amerikaner und Briten. So klagte der Parteivorstand der KPD 1952 in einer Erklärung, dass der amerikanische Imperialismus „einen systematischen Krieg gegen die deutsche Nationalkultur“ führe. „Er möchte sie vernichten, damit die Deutschen vergessen, daß sie Deutsche sind, und daß sie eine große Vergangenheit als selbständige und begabte Nation besitzen.“ Die amerikanischen und englischen Machthaber wollten dem deutschen Volk das Recht auf eine selbständige nationale Existenz nehmen, „indem sie ihnen das ‚Europäertum‘, [...] den ‚Kosmopolitismus‘ usw. aufzwinge.“(26) Im selben Jahr setzte sich die KPD in einer Bundestagsdebatte dafür ein, „daß alle Kleinen, die unter (die Entnazifizierungskategorien) III, IV und V gruppiert sind, in Zukunft völlig in Ruhe gelassen werden“. Selbst als den NS-Offizieren und -Beamten nicht nur Pensionsansprüche zugesprochen, sondern auch ihre erneute Mitwirkung an Staatsgeschäften ermöglicht werden sollte, stimmte der KPD-Vertreter der neuen Gesetzgebung zu, „weil diese zehntausenden kleiner Leute, die an den Verbrechen des Hitler-Faschismus und an seinem Krieg schuldlos sind, ihren Rechtsanspruch wiedergibt.“(27)

Gestern wie heute

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem antisemitischen deutschen Arbeitsverständnis, das sich in der Parole „Arbeit macht frei“ manifestierte, hat in dieser Gesellschaft nach 1945 nie stattgefunden. So wird heute an eine vertraute Verschwörungstheorie angeknüpft: die Bedrohung der deutschen Arbeit durch das international agierende und spekulierende, globalisierte Finanzkapital und dessen angeblichen Agenten. Parallel dazu wird wieder zur Jagd auf „Arbeitscheue“ geblasen und der Arbeitszwang Stück für Stück reetabliert. Die Linke fordert derweil staatliche Interventionen gegen den Neoliberalismus. Die nationalsozialistische Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ erlebt eine Renaissance mit etwas aufgeputztem Anstrich. Diesmal wird sie von den Linken ins Feld geführt bei ihren Klagen gegen die Kapitalflucht ins Ausland und die Gehälter der Manager, mit ihrer „Raffke-Mentalität“, die die Fürsorge für „ihre Arbeiter“ und den „Standort Deutschland“ vergäßen und bei ihrer Forderung nach einer (Tobin-)Steuer für Aktienbesitzer.
1945 fühlten sich die Linken wie die Mehrheit der Deutschen gleichzeitig als Betrogene und Opfer Hitlers und als Opfer der Alliierten.(28) Heute fühlen sie sich – sei es in Dresden oder im Irak – als Opfer des britisch-amerikanischen Bombenkrieges und als Opfer der angeblich jüdisch-amerikanisch bestimmten Globalisierung des „raffenden Kapitals“. Deshalb gibt es für sie am 8. Mai nichts zu feiern und deshalb gilt es am 1. Mai gegen das Phantom der Globalisierung zu demonstrieren. Wer heute in Deutschland nach „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ ruft, ist entweder besinnungslos oder ein Überzeugungstäter, der weiß, dass derartige Forderungen hierzulande immer mit Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von Juden, angeblichen Arbeitsscheuen, Unproduktiven, Bettlern, Gaunern, Spekulanten und Nichtdeutschen einhergehen. Der Ruf nach Arbeit hat – wie der „Tag der Arbeit“ – nichts emanzipatorisches, humanistisches oder gar revolutionäres, sondern sollte als das verstanden werden, was er ist: eine Drohung.

Klaus Thoerner
(lebt bei Hamburg und ist Co-Autor des Buches „Goldhagen und die Deutsche Linke“)

Anmerkungen

(1) Vgl. Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen (1546), in: ders., Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe dritter Band, hrsg. v. H.H. Borcherdt/ Georg Merz, Berlin 1936, 187.

(2) Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, 698f.

(3) Hitler, Mein Kampf, 557, zit. n. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996, 337.

(4) Zit. n. Alf Lüdtke, Die Praxis von Herrschaft. Zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Berliner Debatte 5 (1993), 27.

(5) Zit. n. W. Conze, Arbeit, in: ders. u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 214.

(6) Vgl. Edmund Silberner, Die kommunistische Partei Deutschlands zur Judenfrage, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 8 (1979), 283f., 294.

(7) John Scheer, Einige Lehren des Nürnberger Parteitages, Die Kommunistische Internationale, 5. Juni 1934, 913, zit. n. Silberner, Die kommunistische Partei, 321.

(8) Vgl. Silberner, Die kommunistische Partei, 284.

(9) Vgl. Die Zeit, 4. November 1994.

(10) Walter Ulbricht, Für die Versöhnung des deutschen Volkes, nachgedruckt in: utopie kreativ 9 (1996), Nr. 71, 34.

(11) Gemeinsam mit der u.a. erwähnten Stellungnahme Walter Ulbrichts wurde der Aufruf „Für Deutschland, für unser Volk“ erstmals am 18. Oktober 1936 in der Deutschen Volkszeitung veröffentlicht. Beide Texte waren jahrzehntelang in der Versenkung verschwunden. Sie wurden 1996 erstmals neu in utopie kreativ publiziert.

(12) Ulbricht, Für die Versöhnung des deutschen Volkes.

(13) Vgl. deposit.ddb.de/online/exil/pdfs/exil/pdf

(14) Hannah Arendt, Besuch in Deutschland (1950), in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1999, 51.

(15) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1992, 358.

(16) Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a.M. 1998, 555f.

(17) Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Autonomie. Neue Folge, Nr. 14, 1979, 60.

(18) Thomas Haury, Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus, in: Leon Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg 1992, 146f.

(19) Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit, 555.

(20) zit. nach Max, Israel, die deutsche Linke und der KB, ak, 8. April 1991.

(21) Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971, 12.

(22) Zit. nach Max, Die deutsche Linke.

(23) Klaus Mann, Auf verlorenen Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942-1949, Reinbek 1994, 43f.

(24) Freie Tribüne, London, Vol. 6, 1944, No. 11, zit. n. Becker/Küntzel et al., Goldhagen und die deutsche Linke, Berlin 1997, 119.

(25) Vgl. Freie Tribüne, London, Vol. 7, 1945, No. 6, zit. n. ebd.

(26) Programm zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands vom 2. November 1952, zit. n. G. Judick (Hg.), KPD 1945-1968. Dokumente, Neuss 1989, 398f.

(27) Dietrich Staritz, Judenverfolgung und Antisemitismus in der Wahrnehmung der KPD, 226f., zit. n. Küntzel, Goldhagen, 125.

(28) Siehe Fußnote 26.


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last modified: 22.4.2008