home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[145][<<][>>]

kulturreport, 1.7k

Was ist dran an der
„Drug Free Youth“?


Wie ist ein Referat zu schreiben, von dem man weiß, dass das Ziel der Einlassungen nicht nur eine interessante Diskussion im Nachgang, sondern ihr Hauptgrund eine persönliche Verstrickung in den Untersuchungsgegenstand ist?

Die Schwierigkeit liegt darin, dass diese Verwicklung wohl vorläufig Einfluss auf Auswahl und Bewertung des Darzustellenden nehmen muss. „Vorläufig“ auch deshalb, weil der eine, objektive Blick auf die unter dem Begriff „Straight Edge“ subsummierbaren Phänomene, also Maleranleitung, 15.5k Kulturwaren, Haltungen, Handlungen usw., nicht zu erbringen ist. Diese Einsicht ist einerseits der Vielfalt des Bezeichneten auf der räumlich/zeitlichen Ebene geschuldet, auf der einem zahllose Akteurinnen und Akteure in nahezu 30 Jahren und sehr verschiedenen sozialen Zusammenhängen begegnen. Andererseits ist sie der Erkenntnis geschuldet, dass die Geschichte des Konzepts Straight Edge nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, da sich immer wieder Jugendliche und junge Erwachsene aus den unterschiedlichsten Gründen dafür zu interessieren beginnen und somit das Antlitz und den Inhalt der Szenerie – beabsichtigt oder nicht – verändern. Und zwar trotz eines in den Augen des Verfassers relativ geringen Innovationsdrangs der gegenwärtig hegemonialen Szene, in der Moshmusik und phrasenhafter Härtekult gepaart mit einem (jaja) durchkommerzialisierten, sich in symbolisch hochstilisierten Kaufhandlungen (Stichwort: Message-T-Shirts) ergehenden Lifestyles die augenfälligsten Merkmale sind.
Viel mehr Aufmerksamkeit soll den sicherlich ohnehin leidlich bekannten Klischees und ihren fleischgewordenen Entsprechungen für den Moment jedoch nicht entgegengebracht werden. Vielversprechender scheint es mir, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Konzeption und ihren historischen Charakter, dass heißt sowohl ihre Chance auf Veränderbarkeit als auch ihren Zwang, sich zu verändern, anhand eines kleinen Abrisses zu betonen.

Essentiell betrachtet, besitzt Straight Edge jenseits des gleichnamigen Songs der amerikanischen Hardcore/Punk-Band Minor Threat keinen einzigen, in sich abgeschlossenen und von allen zu akzeptierenden kulturellen Kanon von Musik, die man zu kennen oder sogar gut zu finden, Kleidung, die man zu tragen und Einstellungen, die man zu teilen hat. Das bedeutet natürlich nicht, dass in der Zeit seit der Entstehung Anfang der 80er Jahre nicht eine Vielzahl von neuen Liedern und Codes entstanden wäre, ganz im Gegenteil. Doch die Differenzierung in musikalische Subgenres wie Old School, New School, Emo, Youth Crew, Thrash, Grind und Metal nebst dazugehörigen Moden und Szenen, ebenso wie anarchistisch, kommunistisch, liberal, naiv-optimistisch, spirituell-religiös und selbst faschistisch aufgeladene „Straight Edge-Philosophien“ verweisen auf den für eine Bewegung, als die Straight Edge ja oft wahrgenommen wird, eher untypischen Ursprung: Als der Teen-Punk Ian MacKay um 1980 den Text zu „Straight Edge“ verfasste, ging es ihm lediglich darum, sein persönliches Unverständnis in Bezug auf den Gebrauch von Drogen aller Art zum Ausdruck zu bringen und diesem Konsumverhalten einen positiven Entwurf gegenüberzustellen: „Never want to use a crutch – always gonna keep in touch“ – Drogen werden als schädliche Ablenkung von der Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen abgelehnt. An eine unter diesem Label organisierte umfassende Lebenseinstellung oder sogar Massenbewegung hatte er dabei überhaupt nicht gedacht. Längst war jedoch die lokale Szene von Washington DC in den Fokus des boomenden US-amerikanischen Punkgeschehens gerückt, auch auf Grund der musikalischen und vermarktungstechnischen (Stichwort DIY) Innovativität. Und obwohl MacKay selbst, als einer der Protagonisten dieser Szene, sich ausdrücklich nicht darum bemühte, andere zu läutern, ihnen Vorschriften zu machen oder zur Aufnahme einer fragwürdigen Identität zu bewegen, formte sich die in den Texten der Band manifestierende Rebellion gegen die Selbstzerstörung als unhinterfragten jugend- oder gegenkulturellen Wert bald zu einem energiegeladenen subkulturellen Mantra und wurde das „neue Ding“ im US-Hardcore/Punk. „Dont drink, dont smoke, dont fuck“ hatte Minor Threat in „Out of step“ gesungen und trafen damit den Nerv vieler Jugendlicher.

Und doch scheint diese erste Straight-Edge-Welle nicht geeignet gewesen zu sein, die Probleme der boomenden HC-Szene zu lösen.
Das nicht nachlassende Problem der Gewalt auf Konzerten und eine durch das trostlose suburbane Milieu begünstigte Gangmentalität, schließlich die musikalische und persönliche Weiterentwicklung vieler Protagonisten der Szene bewirkten ein erstes Abebben. Der schnelle, aggressive Hardcoresound der Frühzeit hatte sich erschöpft und Bands begannen zu experimentieren. DC-Bands wie Embrace, Rites Of Spring oder Gray Matter, allesamt aus alten Hardcore-Veteranen bestehend, entwickelten einen neuen Punkstil, auf den überforderte Kritiker die Bezeichnung „Emo-Hardcore“ prägten, der allerdings mit dem heute darunter verstandenen Pop nur wenig gemeinsam hat. (Weiteres ist in dem empfehlenswerten Buch „Dance of Days“, einer fundierten Geschichte des DC-Punk nachzulesen, im übrigen kürzlich auf deutsch erschienen und daher „mühelos“.) Aus heutiger Perspektive weniger erfolgreich verlief der andere musikalische Turn vieler früher Hardcore Bands. Als Beispiel sei die Bostoner Straight-Edge-Band SSD genannt, die sich nach furiosen und stilprägenden Anfangstagen in eine langweilige Heavy-Metal-Band wandelte und ihren Charme einbüßte. Dieser war allerdings aus heutiger Sicht ohnehin recht dümmlich, da zum einen die im Umfeld der Band gesportete „militante“ Straight Edge- und Hardcore-Aufassung oft Schlägereien zur Folge hatte, zum anderen, da die Feindbilder der Szene – und SSD stellten hierbei keinen Einzelfall dar – sich nicht auf Polizisten oder Eltern beschränkten, sondern eine nicht zu unterschätzende Aggression auch vermeintlichen Hippies oder Homosexuellen entgegengebracht wurde. So erklärte man z. B. in einem historischen Interview in dem kürzlich im Kino gelaufenen Film „American Hardcore“, man wolle mit „New Wave Fags“ nichts am Hut haben, „Schwuchteln“, die nicht begriffen hatten, dass es sich bei Punk um eine Demonstration von Härte und Männlichkeit gehen sollte. Warum nebenbei bemerkt die deutschen Untertitel hier „Idioten“ übersetzten, weiß man nicht. In der Rückschau (und in etwas geringerem Maße auch heute) scheint weniger der Drogenkonsum, als vielmehr diese pathologische Konzeption von Männlichkeit das Hauptproblem einer Hardcore-Szene gewesen zu sein, die sich darin nicht im geringsten von der patriarchalen Mehrheitsgesellschaft unterschied. Nicht nur waren nahezu ausschließlich Männer in Bands aktiv, ihre Texte richteten sich auch vorrangig an ein männliches Publikum, etwa wenn Minor Threat in „Filler“ die religiöse Verblödung eines Freundes durch dessen christliche Freundin beklagten. Das Motiv des männlichen Freundschaftsbundes, der an der Liebesbeziehung eines Einzelnen zu einer verführerischen Frau zerbricht, ist altbekannt – es tritt überall dort auf, wo Mädchen und Frauen ausgeschlossen werden. Mit anderen Worten: wo es sexistisch zugeht. Möglicherweise ist auch die mit Straight Edge von manchen assoziierte konservative Sexualmoral, welche Promiskuität, also Sex mit häufig wechselnden Partner/innen, pau-schal verurteilt, ein Ergebnis dieser Verwerfungen (Beim Thema Ausschluss ist auch die Tatsache, dass die Hardcoreszene sich überwiegend aus der weißen Mittelschicht rekrutierte, von Interesse, kann hier aber nicht ausreichend behandelt werden).

„American Hardcore“ stilisiert die Zeit um 1984/85 so pathetisch wie unrichtig als das Ende von Hardcore. In Wirklichkeit jedoch differenzierte sich das Genre und das etwas aus der Mode gekommene Straight Edge-Konzept erlebte ab circa 1986 einen neuen Aufschwung, die um 1988 den Höhepunkt erreichte. Zentren waren vor allem New York und Kalifornien. Als wichtigstes Label dieser Zeit kann man wohl Revelation Records nennen. Bands wie Uniform Choice (Kalifornien), Youth of Today, Gorilla Biscuits (beide NY) und viele andere brachten nun ein neues Konzept von Straight Edge-Hardcore. Dem überwiegend martialischen, destruktiv-nihilistischen, noch sehr am Vorbild britischer Punks und Skins orientierten Auftreten der alten Hardcorebands setzten sie das Ideal einer „positiven“ Szene entgegen. Die Kleidung wurde sportlicher, die Musik betonte durch zahlreiche Sing-a-long-Chöre und Shout-Outs das partizipative Moment des Konzerterelebnisses. Der alltäglichen Entfremdungserfahrung wurde ein durch Szene-Freundschaften gestiftetes Gemeinschaftsgefühl entgegengesetzt. Songtexte forderten zunehmend gesellschaftliches Engagement ausserhalb des Szenerahmens, Präsente Themen waren vor allem Antirassismus und, wie bereits im britischen Politpunk früherer Jahre der Komplex Umweltzerstörung/ökologische Lebensweisen/Vegetarismus. Überhaupt scheint bereits hier der Hinweis angebracht, dass es das Ideal einer engagierten Hardcore/Punk-Szene selbstverständlich auch in Kreisen gab, die mit „Straight Edge“ überhaupt nichts am Hut hatten.
Indem aber nun die „Youth Crew“ von manchen Bands mit dem Anspruch aufgeladen wurde, eine Keimzelle für die Veränderung der Gesellschaft zu sein, stellte sich auch die Frage nach einem gesellschaftstheoretischen Konzept, das als Handlungsanleitung und tiefere Legitimation die, wir erinnern uns, die individuelle, selbstbezogene und weniger umfassende Straight-Edge-Konzeption der Frühzeit und das auf Dauer unbefriedigenden Ideal der „Positive Scene“ nicht liefern konnten. Die wirkmächtigsten und bekanntesten dieser ideologischen Aufladungen der Folgezeit waren Hare Krishna und eine vermeintlich bzw. tatsächlich anarchistisch fundierte Ökologie, inhaltlich stark von umstrittenen, sogenannten „tiefenökologischen“ Ideenwelten bestimmt, wie sie im Umfeld von Organisationen wie Earth First!, Animal Liberation Front und Earth Liberation Front gepflegt wurden. Es ist hier weder Raum noch Zeit, um den tatsächlich reaktionären Charakter dieser „Tiefenökologie“ angemessen zu erläutern. Es sei der Hinweis angebracht, dass eine spannende, anarchistische Widerlegung „tiefenökologischer“ Ideologie in der Online-Bibliothek des Institute for Social Ecology (www.social-ecology.org) zu finden ist. Ebenfalls immer wieder einen Blick wert sind die Texte der Ökolinx. In unserem Zusammenhang interessanter ist zum Einen die Frage, warum diese verschrobenen, im Kern antirationalen Ideologien für einen gewissen Zeitraum so überproportional viele Personen in einem subkulturellen Zusammenhang in ihren Bann zu schlagen vermochten, dessen zentrales Motiv es mal war, einen klaren Kopf zu behalten, und ihn auch zu benutzen. Denn die Idee einer natürlichen Ordnung zu vertreten, der sich die Menschheit endlich wieder zu unterzuordnen habe, ist im Grunde ja nichts anderes als eine Kampfansage an den Verstand, der die Menschen – wenn auch mit bislang zweifelhaftem Verlauf und ungewissem Ausgang, aber ein für alle mal – aus dem bewusstseinslosen Zusammenhang der Ersten Natur herauskatapultiert hat. Gründe hierfür dürfte eine privilegierte, wertkonservative Mentalität sein – man erinnere in diesem Zusammenhang auch den sozioökonomischen Hintergrund vieler Szeneprotagonist/innen – die eine fragwürdige Selbstdisziplinierung und moralische Konsumkritik Maleranleitung, 15.7k betonendes Straight Edge-Konzept favorisierten. Dies nun wohlgemerkt aber nur eine unter vielen Konzeptionen. Dass sie in der Wahrnehmung der Subkultur eine gewisse Hegemonie erringen konnte, hängt vielleicht allgemein mit dem beständigen Hang der Verhältnisse zum Schlechteren, Versimpelnden, Gewaltverherrlichenden zusammen. Aber auch die Aufmerksamkeit erheischende Rechtfertigung von Gewaltakten gegen Baustellenfahrzeuge, Tierversuchslabore u. ä. sowie gegen Menschen (z. B. Abtreibungsärzte oder Jäger), trug wohl ihren Teil dazu bei.

Wichtig ist, dass es auch damals eine Vielzahl von anders tickenden Straight Edger/innen gab. Um diese andere – und weniger karikaturhafte – Szene vorzustellen, brachte das kalifornische Label Ebullition z. B. 1994 den „Some Ideas are Poisonous“-Sampler heraus. Im Booklet stellte der Labelmacher klar: „Straight Edge is about the way you look at substances, and to some way you interact with those you fuck. And besides that it doesn't have much to do with anything.“
Es existierten viele linke SE-Bands wie Groundwork, Policy of 3 oder Chokehold. Die hatten zwar nicht unbedingt eine Kritik an Begriffen wie „Erdbefreiung“ zu bieten. Sie teilten jedoch nicht die sexistischen und homophoben Einstellungen der Natürlichkeitsideologen. Sehr interessant ist im übrigen auch die frühe Rezeptionsgeschichte von Straight Edge in Europa, wo begünstigt durch die Infrastruktur und Sozialisierungsinstanz der Autonomen Zentren soziale Rebellion und linkspolitisches Engagement wesentlich stärker Bestandteil des Lifestyles waren als in den USA. So setzte sich die mutmasslich erste europäische Straight Edge-Band aus Kommunisten zusammen, die bereits um 1984 existierenden Niederländer Lärm. Das von dieser sehr empfehlenswerten Band begründete Mini-Subgenre nennt sich übrigens „Red Edge“. Auch das Thrash-Revival um die Jahrtausendwende brachte neben einer Lärm-Diskographie, bei der ärgerlicherweise viele Texte fehlten, auch einige ästhetisch und inhaltlich spannende Bands hervor. Mit die innovativste war wohl die „Gay Edge“-Band Limp Wrist, deren Texte ausschließlich um die Themen Homosexualität, Homophobie und Queer Punk kreisten und denen es gelang, mit den Mitteln der Straight Edge Subkultur selbst eine Kritik an den Zuständen zu formulieren, indem sie den verdrängten homoerotischen Subtext des klassischen Hardcore-Männerbundes entlarvten.

Was diese Beispiele verdeutlichen sollen ist: Straight Edge ist abgesehen vom Verzicht auf bestimmte psychoaktive Substanzen kein starres Konzept und mit Sicherheit kein Ratgeber für alle Lebenslagen. Was sich darüber hinaus an Auffassungen artikuliert, hängt letztlich davon ab, welche willkürlichen Programme in das vage Konzept integriert werden sollen und ist daher subject to change. Wenn eingangs die Frage gestellt wurde, was dran sei an der „Drug Free Youth“, ist in diesem Sinne zu antworten: alles und nichts. Für die Kritik an reaktionären Tendenzen in der Hardcore-, Punk- oder, falls sie davon losgelöst überhaupt existiert, Straight-Edge-Szene, heißt das: Auch wenn mancher rechte Dummschwätzer seine Ausführungen durch eine angeblich dem ganzen übergeordnete Straight-Edge-Philosophie legitimieren möchte, sollte man sich nicht am Phantom „Straight Edge“ abarbeiten, sondern konkrete Einstellungen angreifen, die übrigens bei den Drogen konsumierenden Mitgliedern der Gesellschaft ebenso vorhanden sein können. Wie sagt man so schön? Use your head!

naldo



home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[145][<<][>>][top]

last modified: 10.7.2007