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kulturreport, 1.7k

Zu Alexander Kluge

... und seinen Fernsehproduktionen anlässlich der Ausstrahlung der Opera Omnia mit Peter Berling & Helge Schneider im DCTP-NachtClub.

Zahlreiche Fernsehzuschauer dürften Alexander Kluge in den vergangenen Jahren begegnet sein, ohne ihn zu Gesicht bekommen zu haben. Gesehen haben sie mit der großer Wahrscheinlichkeit Kluges jeweiligen Gast oder gegebenenfalls die Romanistin Ulrike Sprenger als Übersetzerin. Kluge Werbung Morgenrot, 15.5k selbst ist lediglich zu hören, wird auch vor, während und nach der Sendung an keiner Stelle ausgewiesen. Insofern dürften viele Zuschauer nicht wissen, dass sie Alexander Kluges Stimme begegnet sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zumindest zu einer flüchtigen Begegnung kam, ist groß, da sich Kluges Formate auf drei Sender verteilen. Noch größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zahlreiche Zuschauer Sendungen begegnet sind, die das Medienunternehmen dctp, als dessen Geschäftsführer Kluge fungiert, ermöglicht. Schließlich finden sich darunter neben den von ihm selbst produzierten Sendungen auch die erfolgreichen Infotainment-Programme der Fernsehtöchter großer Verlagshäuser (SZ/NZZ/SPIEGEL/STERN TV). Allerdings ist Alexander Kluge nicht allein DIE STIMME im Nachtprogramm und Fernsehproduzent, sondern zugleich ... promovierter Jurist, der zudem Geschichte und Kirchenmusik studierte, ... als Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests (1962) ein maßgeblicher Mitbegründer des sogenannten Neuen Deutschen Films (also des Autorenfilms in der Bundesrepublik Deutschland) und bis 1980 Regisseur von etwa 30 Kurz- und Langfilmen, von denen Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos im Rahmen des Filmfestivals von Venedig 1968 mit dem Goldenen Löwen prämiert wurde, ... sowie seinem Selbstverständnis nach zuallererst ein Autor, als der er seine gesammelten Werke zu großen Teilen in eine mehr als 2000-seitige Chronik der Gefühle (2000) einarbeitete, 2003 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, und im September 2006 den Band Tür an Tür mit einem anderem Leben veröffentlichte.
Mehr noch als die schiere Vielfalt seiner Aktivitäten und die Anerkennung seines Wirkens seitens renommierter Gremien innerhalb verschiedener Sparten des Kulturbetriebs mögen Kluges unverändert sympathisierende Verweise auf die Kritische Theorie erstaunen. So blickte er in einem Interview anlässlich des 100. Geburtstags Theodor W. Adornos geradezu zärtlich auf das Verschwinden einer bestimmten Tradition kritischen Denkens, die sich auch und vor allem mit Adorno verbindet, zurück. Die entsprechende Passage sei an dieser Stelle in extenso angeführt: „Er [Adorno, B.J.S] hat diese Leerstelle nicht alleine hinterlassen. All die Gelehrten, die zu seiner Beerdigung gekommen sind, sind mittlerweile tot. Eine bestimmte Form Kritischer Theorie gibt es so nicht mehr. Sie ist nicht wie Dornröschen in einen tausendjährigen Schlaf versunken, sie ist einfach verschwunden. Und das schafft eine Leere. Wenn man aber an einem Menschen die Bewegungsart seiner Gedanken liebt, nimmt man das in sich auf. Wenn er stirbt, trägt man etwas davon mit sich. Insofern sind die Toten nicht tot. Sie leben in den Lebenden weiter. Ich glaube nicht an Verfallszeiten. Die Schriften, die Adorno hinterlassen hat, sind eine Flaschenpost. Irgendjemand wird sie finden und für sich zu nutzen wissen. Ich glaube, dass Menschen in ihrem Kern immer wieder das selbe Interesse entwickeln.“ (Tagesspiegel, 11.09.2003) Wie kam es aber dazu, dass ausgerechnet Alexander Kluge seine Formate bei verschiedenen Privatsendern etablierte?

Der Öffentlichkeitsmacher

Die theoretischen Grundlagen seiner Aktivitäten in verschiedenen medialen Sektoren entfaltete Kluge in Kooperation mit dem Sozialwissenschaftler Oskar Negt in dem Band Öffentlichkeit und Erfahrung (1972). Darin setzen Negt / Kluge auf eine Öffentlichkeit, die Erfahrungen zu artikulieren und zu organisieren erlaubt. Im Unterschied zu Jürgen Habermas, der in seiner Verteidigung der Öffentlichkeit moralisch-rationale Aspekte betont, schließt Kluges Erfahrungsbegriff sinnlich-emotionale Momente und somit eine Zusammenführung von Intimität und Öffentlichkeit ein. Dem Problem des weitgehend monologischen Charakters von Massenmedien versucht Kluge zu begegnen, indem er den Produzenten, die Kluge als „Öffentlichkeitsmacher“ (Kluge 1983: 287) versteht, die Verantwortung dafür überträgt, über die Produktstrukturen nicht-schematisierte Rezeptionsformen herauszufordern. Insofern überrascht es nicht, dass Kluge das Kino dem Fernsehen vorzieht, da ein vollbesetzter Saal zumindest potentiell eine kollektive Erfahrung erlaubt. Angesichts zunehmender Schwierigkeiten bei der Finanzierung und Distribution von Filmen verlagerte Kluge seine Aktivitäten jedoch auf das Terrain, dem er erhebliche Skepsis entgegenbrachte, um Reste der klassischen Öffentlichkeit zu retten. Für seine Fernsehprojekte gründete Kluge 1988 als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft für Kabel- und Satellitenprogramme (50% der Anteile) zusammen mit dem SPIEGEL-Verlag (12,5%) und der japanischen Werbeagentur Dentsu (37,5%), deren Ziel es war, in einem anspruchsvollen Programmumfeld Werbung für Luxusartikel zu lancieren, die Firma dctp (Development Company for Television Program mbH). Bei der Frequenzvergabe für private Programmveranstalter im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen profitierte Kluge sowohl von seinen guten Kontakten zur Landesregierung, die von einem letztlich gescheiterten Vorgängerprojekt herrührten, wie auch von den Auflagen, die den Sendern hinsichtlich der Vielfalt des Programms gemacht wurden. Anders als der Sender Tele 5 sahen RTL und SAT 1 in ihren Anträgen Programmfenster für unabhängige Programmproduzenten vor und erhielten schließlich Frequenzen. Die gesetzlichen Vorgaben verhalfen dctp und – in geringerem Umfang - einem Bündnis von Video- und Filmproduzenten namens Kanal 4 zu Programmplätzen. Bei der Frequenzvergabe an den Sender VOX im Jahre 1992 wurde dctp sogar eine vom Hauptprogramm unabhängige Lizenz erteilt.

Facts & Fakes

Während in der Zwischenzeit das sogenannte Metropolenfernsehen XXP, ein 2001 gegründetes Gemeinschaftsprojekt von SPIEGEL TV und dctp, unter anderem aufgrund fehlender exklusiver Produktionen scheiterte, verteilen sich die dctp-Sendungen noch immer auf die Sender SAT1, RTL und VOX. Die von Kluge produzierten Formate News & Stories (SAT 1), Prime Time – Spätausgabe und 10 vor 11 (RTL) sowie MitternachtsMagazin (VOX) werden mittlerweile jeweils nach 23.00 Uhr ausgestrahlt. Wiewohl sie insbesondere vom ehemaligen RTL-Programmdirektor Helmut Thoma wegen des vermeintlich mangelnden Publikumsinteresses als „Steinzeitfernsehen“ und „Quotenkiller“ geschmäht wurden, handelt es sich bei dctp um ein erfolgreiches Unternehmen – nicht zuletzt wegen der geringen Kosten, die Alexander Kluges Magazinsendungen verursachen. Einen großen Teil der Sendezeit nehmen darin (wenig kosten- und zeitintensive) Interviews ein. Dabei spricht Kluge zumeist aus dem Off zu seinen Gästen, die wiederum während der gesamten Sendung (also auch während der Fragen) unter Verzicht auf Kamerabewegungen oder Schuss-Gegenschuss-Folgen, wie sie für andere Gesprächssendungen charakteristisch sind, im Porträt gezeigt werden. Strukturiert werden die Gespräche vor allem durch die Themenwahl sowie durch eingeblendete Schrifttafeln. Spannung entsteht durch die meist enorme Diskrepanz zwischen Kluges visueller Abwesenheit und seiner akustischen Präsenz. Mit sanfter Stimme zwar, zugleich jedoch ungeduldig und leidenschaftlich assoziiert und spekuliert sich Kluge in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Menschheitsgeschichte und bestimmt somit die Richtung des Gesprächs, das den vielfach überforderten Gästen – zumeist Künstler, Wissenschaftler oder Journalisten – kaum mehr als Gelegenheit zur (verlegenen) Zustimmung und/oder Ergänzung gibt. Wie das Gespräch nicht mit einer Begrüßung beginnt, so endet die Sendung nicht mit einer Verabschiedung, vielmehr bricht sie mit der Einblendung einer Schrifttafel ab.
Noch eigentümlicher als diese Interviews wirkt auf den Gelegenheitszuschauer ein Genre, welches Kluge in Filmen der 1960er Jahre entwickelte: das Fake-Interview. Realisiert werden die improvisierten fiktiven Interviews mit dem Schauspieler, Filmproduzenten und Romancier Peter Berling, aber auch mit Helge Schneider und (demnächst) Hannelore Hoger jeweils in der Rolle einer fiktiven Person der Zeitgeschichte. Ein Thema wird im Vorfeld nicht abgesprochen, lediglich die Utensilien (zumeist Kopfbedeckungen), die Kluge an seine Interviewpartner verteilt, liefern Indizien für den möglichen Gesprächsverlauf. Abgesehen von den wiederkehrenden Darstellern (mit Kopfbedeckungen) unterscheiden sich die Fake-Interviews kaum von anderen Interviews, die Kluge in seinen Magazinen führt.
Am 17.11.2006 wurden in einem MitternachtsMagazin Spezial die Opera Omnia mit Peter Berling und Helge Schneider ausgestrahlt. Wiewohl elf Folgen umfassend und insgesamt mehr als vier Stunden lang, handelte es sich nicht – wie der Titel suggerierte – um sämtliche Folgen. So fehlte z.B. die Folge der News & Stories vom 4.3.1997, in der Peter Berling Oberst Pjotr Iwanowitsch Stromfeld, den führenden Islamisten des KGB verkörperte. Zu sehen waren statt dessen unter anderem Helge Schneider als Hitlers Großneffe sowie Peter Berling als Hitlers Bodyguard Manfred Pichota, als Major der Panzerwaffe oder als Jakobus Mol't van der Poel, Kapitän eines Sklavenschiffes. (Unfreiwillige) Komik erwächst dabei nicht allein aus der Waghalsigkeit der Assoziationen selbst, sondern auch aus dem Umstand, dass Kluges Assoziationen in den Fake-Interviews kaum abwegiger erscheinen als in den Interviews mit geladenen Experten. Im Rahmen der dctp-Programmvorschau werden Alexander Kluges Magazinsendungen durchweg als „[s]pannend und informativ“ charakterisiert ...

Empfiehlt der Autor also die weitere Beschäftigung mit Alexander Kluge? –
ratlos


Literatur:

Kluge, Alexander (Hg.): Bestandsaufnahme: Utopie Film. Frankfurt a.M. 1983.
Lutze, Peter C.: Alexander Kluge und das Projekt der Moderne. In: Christian Schulte /
Winfried Siebers: Kluges Fernsehen. Frankfurt a.M. 2002.
Negt, Oscar / Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt a.M. 1972.
Uecker, Matthias: Anti-Fernsehen? Marburg 2000.


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last modified: 28.3.2007