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Tomorrow-Café, 1.5k

Über Anti-Pädagogik und die
Möglichkeit einer Kritik der Erziehung

Bei der kritischen Beleuchtung der (eigenen) Erziehung stößt man auf eine Theorie, die die Erziehung allgemein – also nicht bloß bestimmte Erziehungsstile oder -methoden – ablehnt. Um mit der Kritik der Antipädagogik etwas anfangen zu können, ist es zunächst erforderlich sich zu verdeutlichen, was diese unter Erziehung versteht:
„Erziehung ist eine planmäßige (absichtliche) und zielgerichtete Tätigkeit zur Formung meist junger Menschen. Erziehung findet also nicht „ganz natürlich“ bei jeder Kommunikation, bei jeder Beeinflussung, statt, sondern nur, wenn sich einer über den anderen erhebt und meint, ihn zu einem Ziel (hiner)ziehen zu dürfen oder zu müssen.“(1)
Erstaunlich ist, dass diese generelle Kritik an Erziehung sich somit nicht bloß auf offensichtlich „reaktionäre“ Erziehungsarten (autoritäre Erziehung, schwarze Pädagogik), sondern auch auf antiautoritäre Erziehung, menschenfreundlichere Erziehungsstile und auf Reformpädagogik etwa nach Montessori erstreckt. Meine Betrachtungen beziehen sich daher auch mehr auf letztere – die Kritik an autoritärer und schwarzer Pädagogik ist ohnehin notwendig. Man muss sich trotzdem verdeutlichen, dass „reaktionäre“ Erziehungsstile noch weit verbreitet an der Tagesordnung sind und es andererseits auch dort ganz anders läuft, wo Kinderarbeit stark verbreitet ist und keine Schulpflicht durchgesetzt ist.

Kritik der Erziehung als Antipädagogik

In der BRD wurde die Antipädagogik Mitte der Siebziger von Ekkehard von Braunmühl mit dem Buch „Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung“ begründet, aber auch Alice Miller („Das Drama des begabten Kindes“, „Am Anfang war Erziehung“) ist eine bekannte Vertreterin.
Die Antipädagogik versucht eine Kritik an schwarzer Pädagogik auf jede Erziehung zu verallgemeinern, daher zunächst ein wenig klärendes, was schwarze Pädagogik ist: Der von Alice Miller geprägte Begriff beschreibt eine physisch gewaltvolle, sehr autoritäre Erziehung, die insbesondere die Gefühlskontrolle und die Brechung des Willen des Kindes (als „Aberziehen von Starrköpfigkeit“ u.ä. bezeichnet) betreibt und das zum Teil auch offen ausspricht.(2) Eine Kostprobe: „Ungehorsam ist ebensogut, als eine Kriegserklärung gegen eure Person. Euer Sohn will euch die Herrschaft rauben, und ihr seid befugt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, um euer Ansehen zu befestigen, ohne welches bei ihm keine Erziehung stattfindet. Dieses Schlagen muß kein bloßes Spielwerk sein, sondern ihn überzeugen, daß ihr sein Herr seid.“ (J.G. Krüger, 1752)(3)
Die schwarze Pädagogik zeichnet sich – nach Alice Miller – dadurch aus, dass die Erwachsenen als Herrscher über die Kinder begriffen werden, die willkürlich über Recht und Unrecht bestimmen können. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Kind so früh wie möglich den eigenen Willen nehmen will, mit der illusorischen Motivation, dass das Kind nichts davon mitbekommen soll. Methoden, deren sich die schwarze Pädagogik bedient, um das Lebendige, Gefühle etc. zu unterdrücken, sind: Fallen stellen, Lügen, Listen anwenden, Verschleiern, Manipulieren, Ängstigen, Liebesentzug, Isolieren, Misstrauen, Demütigung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis hin zur Folter. Sie vermittelt falsche Annahmen, wie zum Beispiel, dass Eltern uneingeschränkt Achtung verdienen – Kinder hingegen nicht, dass Gehorsam stark mache, dass Zärtlichkeit schädlich sei, dass Liebe durch ein Pflichtgefühl den Eltern gegenüber entstünde, dass das Eingehen auf kindliche Bedürfnisse schlecht sei, dass Härte und Kälte eine gute Vorbereitung für

Der Daumlutscher I, 8.4k

Der Daumlutscher II, 5.4k

Der Daumlutscher III, 6.8k

Der Daumlutscher IV, 5.8k

das Leben draußen seien, dass der eigene Körper etwas schmutziges und ekelhaftes sei und dass die Eltern immer Recht hätten.
Der Angelpunkt für Antipädagogik ist dann die Frage, ob nicht jede Erziehung im Keim so ist. Bei dem Aufklärer J.J. Rousseau, auf den sich Pädagogen nach wie vor gerne beziehen, findet man in „Emile oder die Erziehung“: „Laßt ihn [Euren Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Kummer – liegt nicht alles in euren Händen, ohne dass es davon weiß? Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, das es will. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne dass ihr wisst, was es sagen will.“(4) Das bestätigt zunächst die Annahme, dass Erziehung prinzipiell manipulativ und auf Herrschaft aus ist: Auch Erziehung, die sich wie bei Rousseau sonst menschenfreundlich gibt, benutzt ihre Menschenfreundlichkeit nur als Mittel zum Zweck einer vollkommeneren, untergründigeren Herrschaft.
Was also sind die Vorwürfe, die Antipädagogen gegen die Erziehung vorbringen? Sie werfen den Erziehenden vor, dass sie Kinder erpressen („Du bekommst dein Eis/Taschengeld/… nur, wenn du vorher dein Zimmer aufräumst“), dass sie den Kindern misstrauen (Kontrollen, ob man die Hausaufgaben gemacht hat o.ä.), dass sie eine Fremdbestimmung gegenüber den Kindern ausüben, also den Willen des Kindes „brechen“ (das zeigt sich z.B. daran, dass die Schlafenszeit nicht selbst bestimmt werden kann, was im Kindergarten mit dem Zwang zum Mittagsschlaf anfängt und später bedeutet, dass man sich sagen lassen muss, wann man abends ins Bett zu gehen hat). Sie werfen der Erziehung das autoritäre Verhältnis zwischen Erzieher und Erzogenem vor (der Erzieher maßt sich an, für den Erzogenen Entscheidungen zu treffen, ihm Verbote aufzuerlegen, zu strafen usw.), sie kritisieren den Dualismus von Bestrafung und Belohnung, den sie als „Abrichtung“ und „Dressur“ brandmarken. Sie werfen den Pädagogen vor, dass sie die „Erziehungsbedürftigkeit“ von Kindern konstruiert haben, um ihre eigenen sadistischen und egoistischen Machtbedürfnisse auszuüben.
Ein wesentlicher Vorwurf ist insbesondere derjenige der Herrschaft, also der Gewaltanwendung im Erziehungsprozess. Ist Erziehung prinzipiell gewaltvoll? Physische Gewalt als Methode findet man gewiss noch oft, aber gerade Reformpädagogik hat sich davon ganz klar getrennt. Strukturelle Gewalt muss eher der Sozialisation zugeordnet werden, die ja unabhängig davon passiert, ob man erzieht oder nicht. Psychische Gewalt, also z.B. Liebesentzug ist also die verbleibende Gewaltform, die man menschenfreundlicher Pädagogik vorwerfen kann.
Die Antipädagogik fordert nun die Abschaffung der Erziehung, also den Verzicht auf jegliche planvolle, zielgerichtete Beeinflussung des Kindes, denn: Jeder Plan, jede Vorstellung wie das Kind sein soll, bedeutet schon Unzufriedenheit und Nichtakzeptanz des Kindes in seinem jetzigen Zustand. Sie setzen dagegen, dass Kinder von Anfang an als autonome Menschen gesehen werden und als vollwertige Personen behandelt werden sollen. Sie schlagen ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Kind und Antipädagogen vor, dessen Bedingung das Akzeptieren des Kindes in seinem jetzigen Sein ist.
Auffällig an der Antipädagogik ist, dass sie in polemischer Sprache Begriffe aus der Kritik der schwarzen Pädagogik auf die Kritik aller Pädagogik überträgt, bei der Beschreibung des eigenen Umgangs mit Kindern hingegen meistens Idylle herrscht und schwierige Situationen ausgeblendet werden.
Die Antipädagogen gehen von „der Erziehung“ als einem homogenen Gebilde aus – Tatsächlich muss man aber feststellen, dass diese sehr zersplittert ist: In dem jahrelangen Prozess sind mehrere Erziehende beteiligt, die unterschiedliche Ansichten haben, ihre Ansichten ändern und auch nicht immer konsequent vertreten.

Exkurs: Determinierung, oder: Die Wirkung der Erziehung

Die Antipädagogen kritisieren, dass jegliche Erziehung die von den Pädagogen gestellten Ziele nie erreichen kann, sondern nur psychisches Unheil anrichtet. Dabei argumentieren sie u.a. mit dem „Gegenteileffekt“: Das Kind will autonom entscheiden, wenn es dann von einem Erzieher mit einem Verbot konfrontiert wird, ist der einzige Weg, eigenes autonomes Handeln sichtbar zu machen, das Verbot zu übertreten (dabei entstehen dann Gefahrensituationen, und die Antipädagogen schlussfolgern, dass man lieber gar nicht erst Verbote aufstellen sollte). Dabei machen sie die Trennung zwischen aggressiven und defensiven Grenzen auf, erste beinhalten die Anmaßung, zu wissen, was für andere gut ist (Fremdbestimmung), letztere sind lediglich ein Schützen seiner persönlichen Grenzen.(5) Einerseits wird also gegenüber den mehr oder weniger gut gemeinten Erziehungszielen, wie sie die Pädagogen formulieren, behauptet, dass diese im Grunde genommen keine Wirkung erzielen können, andererseits wird aber (ganz deutlich z.B. bei Alice Miller) von einer sehr starken Bestimmung des Charakters, der eigenen Einstellungen (Werte, Normen etc.) durch Kindheitserfahrungen (von denen fast nur die negativen betrachtet werden) ausgegangen. Überspitzt formuliert: Negative Auswirkungen der Methode wirken determinierend, positive Erziehungsziele nicht – der dabei entstehende Widerspruch wird nicht als solcher wahrgenommen.
Die Erziehungswissenschaft hat ganz allgemein das Problem, dass sie gar nicht wirklich sagen kann, ob die Methoden, zu denen sie rät, zu dem von ihr formulierten Zielen führen. Auf Kinder wirken mehrere, sich verändernde Erziehungseinflüsse gleichzeitig, die man nicht über Jahre hinweg konstant halten könnte. Wenn man sich als Beispiel eine Person vorstellt, in deren Erziehung Ordnung und Sauberkeit eine sehr starke Rolle gespielt haben, kann man ohne weiteres nicht sagen, ob diejenige zu einer Ordnungsliebhaberin geworden ist oder ob sie irgendwann begann, gegen die Zumutung zu starken Ordnungszwangs zu rebellieren, bevor sie ihn internalisieren, verinnerlichen konnte. Andererseits ist klar, dass, wenn die dazu verwendete Methode war, das Kind zu verprügeln, sobald das Zimmer nicht Tip-Top aussieht, die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sich das in psychischen Problemen widerspiegeln wird.
Gerade bei sehr konkreten Erziehungszielen, einer sehr genauen Vorstellung, wie das Kind zu sein hat bzw. wenn die Individualität des Kindes nicht berücksichtigt bleibt, muss man also – denke ich – eher davon ausgehen, dass das Erziehungsziel nicht erreicht wird.
Beispiel: „Man hört manchmal Mütter mit Stolz erzählen, dass ihre Säuglinge gelernt haben, den Hunger zu unterdrücken und, liebevoll abgelenkt, ruhig auf die Zeit der Fütterung zu warten. Ich kannte Erwachsene mit solchen in Briefen belegten Säuglingserfahrungen, die nie mit Sicherheit wussten, ob sie wirklich Hunger hatten oder es sich ‚nur einbildeten’, und an der Angst litten, vor Hunger ohnmächtig zu werden.“(6) Die Intention, die hier bestenfalls war, dem Kind Geduld beizubringen, führt zu einem fundamental anderem Ergebnis (wobei die Angst so klingt, dass dafür auch physische Gewalt verwendet wurde). Das Zerstören der Individualität durch Schläge und Zwang à la schwarzer Pädagogik funktioniert also „blendend“, bei konkreten Zielen kann man hingegen nie genau wissen, was das Ergebnis ist.
Demnach kann man das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen verschiedenen Erziehungsstilen mehr in der Wahl ihrer Methoden als in der Wahl ihrer Ziele finden. Autoritäre Erziehung bzw. solche, die sich der Methoden der schwarzen Pädagogik bedient, kann durch körperliche Gewalt und autoritäre Brechung des Willens durchaus seelische Schäden hinterlassen, so dass z.B. Gefühle nicht mehr wahrgenommen werden können oder sich die Resultate in psychischen/psychosomatischen Symptomen äußern, also in körperlichen Beschwerden, die durch/unter seelischer Belastung entstehen.(7)

Kritik der Antipädagogik

Zusammengefasst ist das Argument der antipädagogischen Erziehungskritik dreiteilig: Man darf nicht erziehen, weil man nicht über die Zukunft der Kinder verfügen kann oder soll, weil damit ein nicht zu rechtfertigender Herrschaftsanspruch verbunden ist. Das Problem ist nur leider, dass man erziehen muss. Bei der Frage der Verfügung über die Zukunft eines Anderen hat man also zu bedenken, ob das Kind überhaupt schon selbst darüber verfügen kann.
Muss man Erziehen? Am Ende des Erziehungsprozesses ist das sicherlich eine kontroverse Frage (nämlich die Frage danach, wann die Erziehung beendet ist, man selbständig wird, von zu Hause auszieht etc.), aber wie sieht es zu Beginn, also beim Kleinkind, aus?
Klar ist eigentlich, dass man, wenn man als Erwachsener einem Kind gegenübertritt, gewisse Vorstellungen hat, wie es sein soll, ein Menschenbild sozusagen. Vorstellungen, denen eigentlich jeder zustimmen sollte wären dann z.B. die Fähigkeit, sich (selbst-)kritisch mit etwas auseinanderzusetzen, ein gewisses Maß an Höflichkeit und Taktgefühl (ausreden lassen etc.). Klar ist außerdem, dass das Kind durch Nachahmung, Rollenspiele usw. vieles von selbst lernt und sich seine Umwelt aktiv erschließt. Auch ohne einen direkten Erziehungsanspruch ist es wahrscheinlich, dass das Kind zumindest zunächst elterliche, d.h. auch gesellschaftliche, Auffassungen übernimmt: Wenn die Mutter immer über faulenzende Leute schimpft, wird es irgendwann auch so denken. Differenzen und Abgrenzungen gegenüber den Eltern bilden sich dann oft erst später in der Pubertät.
Nehmen wir eine häufige Situation an: zwei Kinder wollen das gleiche Spielzeug, und es entbrennt ein Hauen und Beißen(8). Nun hieße ja nicht erziehen, dass man keine planmäßige, zielgerichtete Einflussnahme darauf nehmen darf, keine aggressiven, sondern nur defensive Grenzen setzen soll. Dabei eine Zielvorstellung zu haben, ist aber schon sinnvoll und eigentlich auch unvermeidbar: Einen friedlichen Interessenausgleich finden, etwas anderes, gemeinsam oder abwechselnd spielen. Auch bei Höflichkeit und Taktgefühl wäre es – denke ich – blauäugig anzunehmen, dies würde sich von selbst, ohne „zielgerichtete Formung“ entwickeln.

Die Antipädagogik geht davon aus, dass die von ihr aufzulösende Erziehung ein Instrument ist, mit dem sich planmäßig etwas herstellen lässt und bleibt insofern in der Pädagogik verhaftet (siehe Exkurs zum Determinismus). Auch die Antipädagogen üben eine Fremdbestimmung über das Kind aus und maßen sich an, zu wissen, was für das Kind das Beste ist (genauso wie die Pädagogen). Darf es sich entscheiden, ob es erzogen werden will? Nein. Außerdem ist es gezwungen, der Freund des Antipädagogen zu sein – und die Antipädagogen übersehen dabei völlig, dass Freundschaft für Kinder etwas ganz anderes als für Erwachsene bedeutet. Auch die Antipädagogen erreichen damit keinen gleichberechtigten Umgang mit dem Kind. Anderseits: Wenn man dem Kind erlaubt, sich für oder gegen Pädagogik zu entscheiden, wird man feststellen, dass es am Anfang des Prozesses noch gar nicht dazu in der Lage ist – Wie soll man eine Entscheidung treffen, deren Konsequenzen man nicht im geringsten ahnen kann? Die Antipädagogen wettern gegen die Fremdbestimmung durch die Erzieher, aber sehen nicht, dass die Selbstbestimmung für das Individuum erst sukzessive möglich wird. Erst wenn der Überblick und die gesammelten Erfahrungen ausreichen, um die jeweilige Entscheidung halbwegs einschätzen zu können, kann man real selbst bestimmen. Das Ideal, dem Kind möglichst wenig vorzuschreiben, bleibt bestehen, aber man muss sich im Klaren sein, dass das nur nach und nach, altersangemessen funktionieren kann. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass der Schwimmunterricht, den ich mit 5, 6 Jahren machen musste stellenweise furchtbar war: Ein autoritärer Schwimmlehrer und die Angst vor dem Sprung ins kalte Wasser, trugen dazu bei. Vielleicht hätte ich mich damals dagegen entschieden, Schwimmen zu lernen. Aber kann man in dem Alter schon wissen, wie wichtig die Fähigkeit, Schwimmen zu können für einen sein wird, welchen Spaß es bringen wird? Die Kompetenz, zukünftiges Gutes gegen gegenwärtige Verschlechterung abzuwiegen (z.B. die Entscheidung Lernen vs. Spielen) und der nötige Überblick bilden sich erst nach und nach. Man muss also zumindest einige Entscheidungen für das Kind treffen, „fremdbestimmend“ wirken, sich „anmaßen“ zu wissen, was das Beste für das Kind ist usw. Und ich sehe auch nicht, dass sich das in einer befreiten Gesellschaft so stark ändern wird (außer dass es keine autoritären Schwimmlehrer mehr gibt), andererseits sollte es dort ja gewaltfrei zugehen und damit steht Fremdbestimmung ja eigentlich im Widerspruch…

Und das heißt?

Die Vorwürfe der Antipädagogik treffen auf viele Erziehungsstile zu, vor allem auf die schwarze Pädagogik. Völlig auf Erziehung kann man aber leider nicht verzichten, also muss man versuchen, sich die antipädagogische Kritik zu Herzen zu nehmen und eine möglichst menschenfreundliche, „antipädagogische“ Pädagogik entwickeln. Dafür sollte man sich, so denke ich, zunächst die unbewussten Erziehungsziele bewusst machen, um diese hinterfragen zu können. Außerdem ist es wichtig darauf zu achten, dass die Zielvorstellungen nicht zu eng werden, dass also das Kind als sukzessive werdendes Individuum begriffen wird, und man ihm Selbstbestimmungsmöglichkeiten gibt, ihm Entscheidungen zutraut, statt autoritär zu bestimmen.(9) Ja, und wie sieht das Ganze dann im Kommunismus, in der befreiten Gesellschaft aus? Ich sehe nicht, warum die Argumente, dass man erziehen muss, dort dann nicht mehr zutreffen. Aber das Aufwachsen und die Sozialisation müssten ja gewaltfrei werden.



Literatur

Ekkehard von Braunmühl, Antipädagogik – Studien zur Abschaffung der Erziehung
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung
Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes
Jürgen Oelkers, Thomas Lehmann: Antipädagogik – Herausforderung und Kritik

Fußnoten

(1) http://kraetzae.de/erziehung/erziehen_ist_gemein/ Der Unterschied zwischen Pädagogik und Erziehung lässt sich dann so verstehen, dass Pädagogik die bewusste Beschäftigung mit Erziehungszielen, -methoden und -erfolgen ist. Diese pädagogische Wissenschaft ist offenbar erst mit der bürgerlichen Gesellschaft aufgekommen und mit Namen wie J.J. Rousseau verbunden.
(2) Diese Erziehungsform war in Deutschland der Jahrhundertwende (19./20. Jh.) wahrscheinlich stärker verbreitet als in anderen Ländern, jedenfalls schuf sie wohl die psychologische Möglichkeit, um das irrsinnige Projekt der Judenvernichtung praktisch wahr werden zu lassen – Wie sieht wohl das psychische Innere von Leuten aus, die sich freiwillig Erschießungskommandos der Polizeibataillone anschließen, um Juden in polnischen Wäldern zu jagen oder die sich dazu entschließen, in Vernichtungslagern zu „arbeiten“?
(3) zit. n. Alice Miller „Am Anfang war Erziehung“, S.7 bzw. aus: Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt/Berlin/Wien 1977, S. 171.
(4) zit.n. Alice Miller „Am Anfang war Erziehung“, S.118, Herv. Jó
(5) Daran anknüpfend formulieren sie auch die Kritik an der antiautoritären Pädagogik dahingehend, dass jene beide Grenzen aufgibt, letztere aber notwendig sind, da es sonst nach dem Aufwachsen zu Konflikten mit anderen Menschen kommt, wenn der Umgang mit defensiven Grenzen nicht eingeübt wurde, diese also ignoriert werden (z.B. Aufdringlichkeit).
(6) Alice Miller, „Das Drama des begabten Kindes“, S.79
(7) Am einschneidensten sind dabei Traumata. Für deren Entstehen müssen zwei Dinge zusammentreffen: Angst und Ohnmacht. Wenn ein Kind geschlagen wird, entstehen daher in der Regel Traumata: Das Kind kann sich nicht wehren (der Erwachsene ist übermächtig), es kann nicht weglaufen oder um Hilfe schreien (es wird festgehalten, die Zeugen unternehmen nichts, ihm wird der Mund zugehalten), so dass es schließlich in Erstarrung verfällt, wenn z.B. der Schmerz unaushaltbar groß wird. Während dieser „Erstarrung“ flieht das Kind in gewissem Sinne aus seinem Körper, die Erinnerungen sind aber einer gewissen Stelle nicht mehr zugänglich (außer durch Psychotherapie).
(8) Inwiefern dieses Verhalten nur die latente Gewalttätigkeit in den Verhältnissen der Erwachsen, also der kapitalistischen Gesellschaft, widerspiegelt, ist auch eine spannende Frage, die man wohl erst in der befreiten Gesellschaft wird lösen können.
(9) Beim eigenen Kind zu stark darauf zu drängen, dass es sich doch bitte mit Kapitalismuskritik auseinander zu setzten kann durchaus getreu dem Gegenteileffekt nach hinten losgehen, man kommt wahrscheinlich besser, wenn man darauf vertraut, dass es selber irgendwann merkt, dass die Welt nicht gerade paradiesisch ist. Auch die Reaktion darauf, dass das Kind z.B. mit Nazis rumhängt, ist ein schwieriges Problem, ein autoritäres Verbot der Freundschaften mit diesen Leuten ist dann schon eine starke Bevormundung und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es versucht, das Verbot zu umgehen (Reiz des Verbotenen etc.). Aber solche Fälle sind auch ohnehin zu individuell, als dass man das so allgemein abhandeln könnte.


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last modified: 28.3.2007