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Wir füllen die Rubrik Tomorrows ausnahmsweise selber – und zwar mit einem Text, der die zukünftige soziale Situation Jugendlicher thematisiert. Die Tomorrow-Jugendlichen jedenfalls konnten keinen Text für ihre Rubrik fertig stellen, weil sie schlau sind und daher plötzlich allesamt damit beschäftigt waren, schnellstmöglich aus der elterlichen Wohnung auszuziehen.
Die Red.
Tomorrow-Café, 1.5k

Back to the roots

...statt Wohngeld für arbeitslose Jugendliche.

Wenn im nächsten Jahr ein Zivildienstleistender seinen Dienst vollendet haben wird, beispielsweise seine Arbeit in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, dann wird er vielleicht gezwungen sein, in die Wohnung seiner Eltern zurückzuziehen. Ähnlich könnte es einem Soldaten ergehen, der von seinem Einsatz aus Afghanistan zurückkehrt. Auch er wird, nachdem er Minen beseitigt und einen Bierbauch dazu gewonnen hat, vielleicht ins Kinderzimmer heimkehren müssen. Nicht etwa Wohnungsmangel und auch keine zwischenmenschlichen Gründe werden diesen Rückzug ins Nest erzwungen haben, sondern ein neues Gesetz.
Eine Gesetzesnovelle, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels von der großen Koalition schon abgesegnet sein wird, beinhaltet die Streichung des Wohngelds arbeitsloser Jugendlicher. Menschen, die nicht älter als 25 Jahre sind, sollen – soweit sie nicht arbeiten oder anderweitig an Geld kommen – demnach bei ihren Eltern wohnen. Nachdem die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie versprochen gesenkt werden konnte, soll nun die “finanzielle Sippenhaft” (Katja Kipping) den Haushalt Deutschlands entlasten. Kompensiert werden sollen postwendend jene anfallenden Mehrausgaben, die mit der anstehenden Erhöhung des ostdeutschen Arbeitslosengeld II erwartet werden.
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Kurze Erklärung und Übersicht über die anderen Karikaturen im Editorial

Dass Arbeitslosen ein Miet- und Heizungsgeld (die “Kosten der angemessenen Unterkunft”) zusätzlich zum Regelbetrag zur Verfügung gestellt wird, ist erst seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe der Fall. Zuvor gab es solche besonderen Hilfeleistungen nicht, dafür aber einen Betrag, der sich (wie das Arbeitslosengeld, nur auf niedrigerem Niveau) am letzten Arbeitslohn orientierte und aus dem sowohl der Lebensunterhalt als auch die Miete zu begleichen war. Das war in den meisten Fällen dadurch möglich, dass die Arbeitslosenhilfe im Durchschnitt höher war als der heutige Satz des ALG II. Im Prinzip wurden mit Hartz IV das Model der Sozialhilfe auf mehr Menschen ausgeweitet und damit die Eingriffsmöglichkeiten des Staates. Indem die Sozialunterstützungen nicht als abstrakte Summe ausgezahlt, sondern an bestimmte Güter gekoppelt werden, kann der Staat in Gestalt der Arbeitsagenturen in die Haushaltspolitik von Familien, Bedarfsgemeinschaften und Einzelpersonen eingreifen. Hätte er früher die Arbeitslosenhilfe kürzen können, so kürzt er heute einen bestimmten Teil der Zuwendungen – nun beispielsweise das Wohngeld für Jugendliche. Ob gerade hinter dieser Maßnahme nur die Notwendigkeit zur Einsparung oder aber auch ein besonders perfider Plan steckt, etwa die Refunktionalisierung der Blutsbanden, bleibt Spekulation. Vorerst werden an den Kürzungen zum einen die Möglichkeiten von Hartz IV deutlich, konkret und geplant in die Lebensführung von Arbeitslosen einzugreifen, und zum anderen die beabsichtige oder unbeabsichtigte Wirkung: die Stärkung der Familie zu Ungunsten des Individuums.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) begrüße den Gesetzentwurf. Mit dem neuen Gesetz würde der „Zellteilung“ ein Riegel vorgeschoben. Mit dem Begriff „Zellteilung“ versucht die BDA die zu Ungunsten des Staatshaushaltes stattfindenden Trennungen des Nachwuchses von der Familie zu denunzieren. Das eigentlich geläufige Wissen, dass die Zellteilung notwendiges Moment der Evolution ist, scheint den deutschen Arbeitgebern nicht eigen zu sein – ansonsten würden sie nicht in ihrem kleinbürgerlichen Horizont verharren wie der Einzeller in seiner Zellmembran.
Das Gesetz, laut dem arbeitslose Jugendliche im engsten Familiekreis verharren müssen, sollte zum 1. Juli in Kraft treten, wird nun wohl aber – auf Grund von Softwareproblemen in der Bundesagentur für Arbeit – erst zum ersten Januar 2007 wirksam werden. Diese Verschiebung ist ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei den derzeitigen Versuchen zur Neuregelung der Arbeitslosenversorgung in den meisten Fällen um Schnellschüsse zu handeln scheint. Ausgenommen von der Regelung werden all jene sein, die schon vor dem 1. April 2006 bei ihren Eltern ausgezogen waren. Denen wird gewissermaßen Bestandsschutz gewährt. Welcher arbeitslose oder zukünftig arbeitslose Jugendliche mit dem Gedanken spielt auszuziehen, sollte diesen alsbald in die Tat umsetzen. Ansonsten hat man die Qual der Wahl, seine Jugend entweder mit Mami und Papi oder mit Arbeit zu verbringen. Obwohl – ein Ausweg bleibt noch: „schwerwiegende soziale Gründe“. Solche fundieren einen Anspruch auf Wohngeld. Was „schwerwiegende Gründe“ sind, kann nur gemutmaßt werden und liegt wohl auch im Ermessensbereich der zuständigen Bearbeiter. Im Falle einer Unterhaltsbehörde hatte mir einst ein Schreiben meiner Mutter weitergeholfen, laut dem zwischen ihr und mir zu Hause starker und dauernder Streit geherrscht hätte. Dieses Schreiben war schnell aufgesetzt und ermöglichte mir während des Zivildienstes den Bezug von zusätzlichem Wohngeld, obwohl die elterliche Wohnung im nahen Umkreis meiner Dienststelle gelegen hatte.
Neben dem Gesetzesentwurf, dass jugendliche Arbeitslose kein Anrecht auf Wohngeld haben, sind zwei weitere Neuerungen geplant, die auf Kosten Jugendlicher gehen. Die eine sieht vor, dass unter 25jährige nur 80 Prozent des ALG-II-Regelsatzes beziehen sollen, d.h. soviel, wie derzeit 14-18jährigen zusteht. Die andere Neuerung betrifft das Kindergeld. Dieses wird es ab 2007 wahrscheinlich nur noch bis zum 25. Lebensjahr geben (für Wehrdienstleistende bis zum 26.). In einem Interview bezog sich die deutsche Familienministerin anscheinend nicht nur auf diese Kindergeldneuregelung, sondern eigenartig verquer auch auf die neue Wohngeldregelung, welche der Öffentlichkeit damals noch nicht bekannt war: „Die Verkürzung der maximalen Bezugsdauer auf 25 Jahre ist vertretbar, zumal in Deutschland junge Menschen immer länger im Haushalt der Eltern leben, sozusagen das »Hotel Mama« nutzen, anstatt - auch finanziell - unabhängig zu werden.“ (von der Leyen, Die Welt, 18.11.05). „Forever young“, lautet ein mitreißender Refrain der Achtziger, der sein melancholisches Moment dem Hörer aber erst mit den Jahren mehr und mehr offenbart. Endlich können Altgewordene diesem Moment trotzen und dem Refrain entgegenhalten: „Zum Glück nicht!“

Hannes G.

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last modified: 28.3.2007