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das Erste, 0.9k

Die neue Gemeinschafts-
sehnsucht der vereinzelten
Einzelnen


In Leipzig wartete man derzeit auf. Und zwar mit einem „World Welcome Day“ am Vorabend der „Endrundenauslosung zur FIFA WM 2006“. Zeit mal (wieder) auf das Ekelberzige derartigen Treibens zu verweisen, bevor einem von diversen Linksradikalen und anderen verklickert wird, dass es sich um „Kosmopolitismus“ und „Fair Play“ handeln würde und dass das doch im Kontrast zur deutschen Turnmanie stünde und daher vielleicht doch nicht ganz so grottenübles Dreckszeug sei. Ist es doch!
Also – worum geht‘s: „Das größte Nationalteam aller Zeiten“ will „von Leipzig aus“ nun gleich „die gesamte Welt“ begrüßen. In jeder Querstraße der Jahnallee waren überdimensionierte Lautsprecher und Scheinwerfer aufgestellt – so dass keiner seine Augen und Ohren vor dem grellen Schein und der zu ‚guter Laune‘ aufhetzenden Stimme schützen konnte. Als Teilchen der großen Menge soll man das „kilometerlange Welcome-Team… quer durch die Leipziger Innenstadt verlängern“: „Schilder, Wimpelketten, Fahnen und Banner weisen … den Weg.“ „Fahnen und Banner weisen den Weg“ (!!!). Das schreiben die wirklich. Und meinen es auch so. Man glaubt es kaum. Kurzum: „Leipzig stellt was auf die Beine. Seien Sie dabei!“
Dabei sein ist also alles. Es geht um die Einreihung ins – ganz auf weltbürgerlich getrimmte – Gemeinwesen. Jeder Einzelne soll Teil dieses Ganzen sein. Gerade im Zusammenhang mit dem Sport sind wir hier vielleicht Zeugen der Entstehung eines neuen Trends. Einem Backclash raus aus der hochindividualisierten Risikogesellschaft (Beck) hin zu neuen Gemeinwesen und Gemeinschaften, aber auf dem Boden der Individualisierung. Die neuen Gemeinschaften brauchen daher gar nicht völkisch und national zu sein, sondern können im postmodernen Gewand auftreten und schrill poppig sein. Fußball ist eine Religion. Die neuen Kirchen sind die Stadien.

Denn du bist Deutschland, 38.4k

Einen Vorgeschmack auf kommendes lieferte uns die inzwischen schon weitaus mehr als berühmt-berüchtigte „Du-bist-Deutschland-Kampagne“ führender Medienunternehmen dieses Landes. Motto: Gib Gas, fühl Dich ein in die Gemeinschaft, Du bist selbst diese Gemeinschaft, da Du ein Teil von ihr bist, ihr Puls ist auch Deiner. Es gibt keine Bremse auf der Deutschlandbahn! Propagiert wird ein Sichfallenlassen in den rasenden und zerstörerischen Rausch des Aufgehens in der Gemeinschaft. Keine Bremse für den freien Bürger in seiner freien Fahrt (auch wenn‘s eine in den Abgrund ist), keine Bremse für Sozialkahlschlag, für die Vorfahrt der Arbeit und für fortschreitende ökologische Verwüstung – damit es endlich, endlich, endlich wieder aufwärts geht. Wohl nie gab es seit der Zerschlagung des Nationalsozialismus eine derartig öffentliche, breit getragene Kampagne, bei welcher dem Einzelnen verklickert wurde, Teil eines großen übergeordneten Ganzen, dieses quasi selbst zu sein. Negative Wahrheit hat diese Kampagne lediglich darin, dass jeder einzelne deutsche Bundesbürger auch heute in der Verantwortung des Massenmordes an sechs Millionen Juden steht. Insofern wäre „Du bist Deutschland“ nationaler Befindlichkeit tatsächlich entgegenzuhalten. „Du bist, was deutsch ist“.
Voll im Trend der neuen Gemeinwesen liegt auch der neoliberale, nun ganz und gar nicht national bornierte Journalist Urs Schoettli im Wirtschaftsteil der Neuen Zürcher Zeitung: Dort sieht man mit dem 21. Jahrhundert sich mit einer „Neuordnung der Weltwirtschaft“ konfrontiert – getragen vor allem von den asiatischen Industriestaaten Indien und der VR China. Von Asien lernen, hieße für „Europa“ – siegen lernen: „Wer hinter die Kulissen der wirtschaftlichen Erfolge der Asiaten blickt, wird vor allem die Bedeutung einer Werteordnung erkennen, die von der Familie über den Betrieb bis hin zum Staat der Pflicht erheblich mehr Gewicht beimisst als dem Anspruch“ – der Erfolg beruhe also „auf einem soliden Fundament von Verpflichtungen“. Kurzum, Europa muss sich umstellen, den neuen alten Werten öffnen, muss für neue Impulse offen sein, denn: es gibt kein Anrecht auf das „gute Leben“ – sondern man muss sich dieses immer wieder „neu erkämpfen“ (NZ, 4./5. Juni 2005, S. 19). Hier wird deutlich, worum es bei der neuen Gemeinschafterei schlussendlich geht. Man soll sich zu erbärmlichen Konkurenzrackets zusammenbinden, um gemeinsam den harten Kampf der Marktwirtschaft durchfechten zu können. Die geforderte neue Gemeinschaftlichkeit ist Komplement unbarmherzigen Kampfes aller gegen alle und deren unabtrennbares Moment. Es geht um die Einheit von Pflicht, Gemeinschaft und brutaler Härte, die im „verwöhnten“, „verweichlichten“ und „anspruchsorientierten“ Europa durchgedonnert werden soll. Anrecht auf ein „gutes Leben“ also nur in der drückenden Gemeinschaft im brutalen Kampf. Leben ist Krieg, das ist die Botschaft. Und Emanzipation wäre das explizite Gegenteil: die Befreiung von alledem. Aber dies ist freilich nicht die Botschaft all jener, die von Werten, Pflicht, Gemeinschaft und Verantwortung faseln.
Neue Gemeinschafterei inmitten der Postmoderne erblickt man auch im akademischen Gestrüpp. Drei führende Wissenschaftler erdenken sich da ein „Potsdamer Manifest“ und werben für ein so genanntes „neues Denken“. Auch hier wird der Einzelne als Mikrokosmos in einem ganz und gar unfassbaren Ganzen betrachtet, welches nicht verstanden, sondern nur gefühlt werden kann und – vor allem anderen – soll. Man will raus „aus dem materialistisch-mechanischen Weltbild“ – entgegen angeblich bisher angenommenen Vorstellungen handelt es sich bei unserer Welt um „ein nichtauftrennbares, immaterielles und genuin kreatives Beziehungsgefüge… Die im Grunde offene, kreative, immaterielle Allverbundenheit der Wirklichkeit, erlaubt die unbelebte und auch verbundene Welt als nur verschiedene – nämlich statisch stabile bzw. offene, statisch instabile, aber dynamisch stabilisierte – Artikulationen eines ‚prä-lebendigen Kosmos‘ aufzufassen“. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen und Katastrophen werden in diesem Manifest als „Ausdruck einer geistigen Krise im Verhältnis von uns Menschen zu unserer lebendigen Welt“ bezeichnet. Sie hängen – wer hätte anderes erwartet – zusammen mit dem herrschenden „materialistisch-mechanischen Weltbild“. Die Autoren propagieren das obskure Einfühlen in etwas, was im Prinzip keinen einzigen Menschen je wirklich auch nur im entferntesten tangiert (abgesehen vielleicht beim abendlichen Sternschnuppenzählen) – den Kosmos. Es wäre eine ideologiekritisch nicht ganz unspannende Frage, was jemanden dazu bewegt, sich in die eisige bzw. glühend heiße menschenleere und menschenfeindliche, in erster Linie absolut sinnlose Leere gerade des Weltalls einfühlen zu wollen. Sinnlos nämlich ist sie vom menschlichen Standpunkt aus, also dem einzigen für Menschen relevanten. Von diesem aus ist Kosmos eine Welt der gähnenden Leere nah am absoluten Nullpunkt bzw. eine Welt von sinnlos vor sich hinexplodierenden Sternen und Galaxien. Was soll das für ein „Einfühlen“ sein und was soll es bezwecken? Was ist das für ein Jemand, der sich tatsächlich eins mit dem Kosmos fühlt? Handelt es sich letztlich vielleicht um die geheimen Phantastereien jener, die die irdische Welt am Liebsten in eine gähnende Leere verwandeln würden, bzw. deren Tun real darauf hin angelegt ist? In jedem Fall handelt es sich um ein Einfühlen in die fetischistische gesellschaftliche Ordnung, die ganz real auf Erden und nicht im Kosmos herrscht. Dieser ist nämlich alles andere als ein ‚prä-lebendiges‘ Wesen. Die Warengesellschaft ist hingegen real und durchaus ein solches.
Nun muss organizistisch-biologistische Gemeinschafterei samt Eso-Einfühlung in des Kosmos` unendliche Weiten nicht zwangsläufig mit Antisemitismus einhergehen. So viel hätte ich bei allzu üblen Nachreden meinem imaginären Gegenüber immer noch an Differenzierung abgenötigt. Leider ist die Realität aber auch in diesem Falle mal wieder weitaus schlimmer als alle üble Nachrede über sie: Gegenwärtig hätten wir es – so die Manifestierenden – mit einer „weltweiten Hegemonie des Finanzkapitals“ zu tun, welche sogar auch noch „nicht mit der Marktwirtschaft gleichgesetzt werden“ dürfe. Die Banken und Finanzinstitutionen werden als „lebensfeindliches Netzwerk“ bezeichnet. Ob das nun struktureller oder schon offener Antisemitismus ist, überlasse ich der jeweiligen Fasson der Leserin oder des Lesers (http://vdw-ev.de/manifest/manifest_de.pdf). Das Einfühlen in die kosmische Harmonie wird also ganz handfest, falls sich irgendwelche „Lebensfeinde“ erdreisten, die riesige unnahbare Ordnung zu stören. Und wie man mit sowas umgeht, zeigt die deutsche Geschichte in grässlichstem Ausmaß.
Möglicherweise erleben wir gerade einen Rückgang des individualistischen zu Gunsten eines im weitesten Sinne ganzheitlich-organischen Denkens. Allenthalben begegnet einem das vehemente Einfordern von Pflicht, Gemeinschaft, Sich-Einfühlen und akzeptieren. Zugunsten einer angeblich übergeordneten Allgemeinheit wird auf freiwillige bis erzwungene Harmonie gepocht. Derartige Feierlichkeiten, wie wir sie dieses Wochenende in Leipzig erleben müssen, könnten ein Moment innerhalb dieses Trends sein, weltweit der globalisierten Risikogesellschaft aus der Krise zu verhelfen, indem massiv auf übergeordnete leitende Instanzen und einen Kult der Gemeinschaft gesetzt wird. Inmitten der fragmentierten und in sich zerrissenen Postmoderne will man sich wieder den Weg mit Bannern und Fahnen weisen lassen. In der zerfallenden Postmoderne soll damit womöglich von oben her mit Gewalt Ordnung gestiftet werden. Dass dieser Versuch angesichts durchbrechender Krisendynamik völlig vergeblich wäre, spricht nicht dagegen, dass er weltweit als Vielzahl von dezentralen Ansätzen unternommen werden könnte. Die Vergeblichkeit dieser Mühen von Anbeginn lässt jedoch Übles ahnen, was die Konsequenzen betrifft. Erfahrungsgemäß werden Schuldige gesucht und – meist recht gezielt – gefunden.
Dass das schneidende Gerede von der ach so tollen Stimmung, das an jenem Tag in Leipzig mit irrsinnigem Lärm und Musik schlechtester Sorte durch die Straßen gepeitscht wurde, zunächst nur von ein paar fröstelnden Menschen gewollt gehört wurde, die sich ansonsten eher gelangweilt die Beine in den Bauch standen, mag einen zwar zum Schmunzeln animieren. Aber das Lachen bleibt einem dann angesichts ansonsten vielleicht sogar ganz harmloser Leute, die meinen, mit riesigen überdimensionierten rosaroten Aufblasgummihänden im Takt herumfuchteln zu müssen, doch eher im Halse stecken.

md

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last modified: 28.3.2007