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review corner Film, 1.4k

Dein Block. Kroko.


Kroko, 9.0k

BRD, 2002, Regie: Sylke Enders

Über „Kroko“, Berliner Hinterhöfe und Behinderte.

„You’d never imagine us bringing a loaded gun to the ballroom this party’s about to kick off (…) hey come on and take the new number if you’re next in line then kid I got a really big fucking surprise there won’t be a next time“
(The Dillinger Escape Plan)

„Viele der Mitwirkenden sind in Wirklichkeit sehr chancenlos. Sie sagen dir: ‘Die Realität sieht noch viel drastischer aus, als du sie in einem Film zeigen kannst.’ Und da würde ich ihnen auch nicht widersprechen.“ (Sylke Enders)

Filme aus der Bundesrepublik sind ja immer so eine Sache. Meistens eine sehr schlechte. Einige wenige sind wirklich gut und erfahren dementsprechend auch das Desinteresse eines Großteils der Kinobesucher. „Kroko“ von Sylke Enders wiederum ist ein Film, bei dem man hin und her gerissen ist ob der Frage, in welche der beiden Schubladen ihn man denn nun packen möchte.
Berlin-Wedding. Kalt, grau und trostlos. Dies ist die Brutstätte und Heimat von Kroko. Kroko ist aber nicht wie das allseits beliebte Schnappi ein kleines Krokodil, sondern ein süßes 16-jähriges Mädchen, heißt eigentlich Julia und ist voll krass unterwegs. Perfektes Make-Up, lange blonde Haare, große runde Ohrringe und ein waschechter Berliner Hinterhofakzent sind nur einige der Waffen, die ihr im Großstadtdschungel zur Verfügung stehen. Das junge Mädchen, das in Gesellschaft seine schönen Augen stets unter den halb geschlossenen Lidern verbirgt, ein Blick, der Eiszapfen auf den Gegenüber entlädt, ist in ihrer Clique die Kiezprinzessin. Der coolste und leckerste Junge der Bande ist ihr Lover, die anderen Mädchen schauen zu ihr auf und mit militärischem Ton befehligt sie die gemeinsamen Raubzüge. Wie auch sonst könnten die desillusionierten Jugendlichen sich die ganzen unverzichtbaren Gimmicks leisten, die für den Platz in der vermeintlichen Ghettohierarchie mitentscheidend sind. Auf „Ausbildungskacke“ haben sie verständlicherweise keinen Bock und feiern wollen sie verständlicherweise trotzdem.
Im Anschluss an einen der alltäglichen Discoabende, die Party war wohl eher öde, entwenden sie und zwei ihrer Soldatinnen das Auto eines Jungen, um sich anschließend mit einem anderen Fahrzeug, gefüllt mit Ghettokretins, ein Rennen zu liefern während dessen sie einen Fahrradfahrer umnietet. Der nachfolgenden Gerichtsverhandlung wohnt sie mit dem Blick der Jägerin bei und selbst als der Urteilsspruch fällt, gibt es kein Zucken in der eiskalten Miene: 60 Stunden gemeinnützige Arbeit in einer WG für Behinderte. Das ist natürlich nicht mehr so cool und Kroko schlittert in eine für sie äußerst unangenehme Situation. Auf der einen Seite muss sie sich mit den „Spastis“ und ihrem linksliberalen Betreuer herumschlagen und auf der anderen wird sie nun von ihrer Gang mit demselben Spott überzogen, den sie sonst so gern auf andere niederprasseln lässt.
Mehr und mehr empfindet sie im Laufe des Films so etwas wie Solidarität mit den Behinderten, die vermeintlich ebenso Ausgestoßene sind wie sie, ungewollte Kinder der Gesellschaft. Zu dem Rollstuhlfahrer Thomas entwickelt sie eine für ihre Verhältnisse relativ innige Beziehung. Kroko hat in ihrem Leben nie um etwas gebeten, sondern es sich einfach genommen und darin fühlt sie sich ihm verschwistert. Er stellt mit seiner rabiaten und unkomplizierten Art Forderungen an seine Umwelt, die ihn, wie seine Eltern, eigentlich gar nicht haben will. Schließlich unternimmt sie mit der WG einen mehrtägigen Ausflug auf’s Land, während dessen sie ein weiteres Mal ihre soziale Inkompetenz beweist. Als sie mit Thomas einen nächtlichen Ausflug in die Kleinstadt unternimmt, ihm Sekt zu trinken gibt und ihn eine Rampe herunterschubst meint sie dies alles, ihrem Ermessensspielraum nach, nur gut. Der Epileptiker jedoch erleidet einen Anfall und die mit der Situation völlig überforderte Kroko trampt noch in der gleichen Nacht zurück nach Berlin. Hier bricht nun mehr und mehr ihre kleine kaputte Welt völlig in sich zusammen. Ihr Freund schäkert mit einer anderen, die Mutter entwickelt mehr und mehr Selbstvertrauen ihr gegenüber und die Sozialdienststelle, die sie gar nicht mehr so scheiße findet, entlässt sie. Das dümpelt dann noch ein wenig vor sich hin und endet damit, dass Kroko gemeinsam mit Rolle, der Dicke in der Clique, der sich mittlerweile abgesondert und eine Ausbildung begonnen hat, auf seinem Motorroller in die Nacht entschwindet. Sozialkitsch, oder?
Könnte man meinen, der Film schrammt an einigen Stellen auch haarscharf dran entlang, aber zur endgültigen Kollision kommt es doch nie. Das liegt hauptsächlich daran, dass Sylke Enders das Augenmerk viel mehr auf den Alltag von Kroko richtet und beobachtet, wie sie ihre selbstausgetüftelte Rolle als cooles Ghettomädchen zu den verschiedensten Situationen ins Verhältnis setzt und wie sie sich dementsprechend benimmt. Der Film verzichtet weitestgehend auf dieses ausgelutschte Harte Schale – Weicher Kern Geseier, denn zwischen diesen beiden Polen spielt sich viel mehr ab, das zu zeigen sich wirklich lohnt. Mit dem Film kann man teilhaben an einem kurzen und wichtigen Schritt in der Entwicklung des 16-jährigen Mädchens Julia, deren Kampfname Kroko auf ihre Gefährlichkeit hinweisen soll, die in diesem Alter ja noch längst nicht abgeschlossen ist. Der Zwangsdienst mit den Behinderten und der zunehmend schwindende Respekt der Bande ihr gegenüber, macht sie bekannt mit dem Gefühl des Verletztwerdens, etwas das das toughe Mädchen vorher nicht kannte. Dies bietet ihr die Möglichkeit eine gewisse Form von Sensibilität ihrer Umwelt gegenüber zu entwickeln, ob sie dies dann auch wirklich tut, lässt der Film offen. Es gibt diese Stelle, wo sie ihre kleine Schwester anschnauzt und diese zu weinen beginnt. Einem Zauberer gleich wedelt Kroko nun mit den Händen vor ihrem Gesicht herum und erklärt, dass die böse Julia I jetzt verschwinden würde und momentan Julia II mit ihr rede. Darauf folgend lehrt sie die Kleine, als Julia II schon fast mütterlich, dass man sich in solchen Situationen wehren müsse, um sich anschließend wieder in Julia I zu verwandeln. Dieser Moment wirkt sehr menschlich und Julia vermittelt spielerisch zwischen ihrem coolen Image und ihrem neu erlernten Mitgefühl. Dies rührt jedoch weniger von einem Moment der Reflexion her, als von dem persönlichen Krisenmanagement, welches das Individuum Julia/Kroko hier an den Tag legt. Als sie ihrer Schwester etwas Gutes tun will, tut sie dies nach ihren auf der Straße erlernten Regeln: Sie zieht mit der Kleinen auf Klau-Tour.
Auch das Verhältnis zu ihrem Freund, von dem sie sich ein Stück Geborgenheit und Verständnis erhofft, ist großartig beobachtet. Der Freund kommt, setzt sich aufs Bett und der Fernseher wird eingeschaltet. Eine gegenseitige Kommunikation bleibt völlig aus, was sich dann auch in den für sie unbefriedigenden Sexualakten niederschlägt. Die beiden bilden eine Art Zweckgemeinschaft, wobei nicht ganz klar wird, wer hier eigentlich wessen Trophäe ist. In einem Anflug von Zärtlichkeit möchte sie ihren Arm um den schlafenden Eddie legen, zieht ihn jedoch wieder zurück. Es scheint fast so, als würde sie die Kälte, die zwischen ihnen herrscht, fühlen können. Schließlich wird er aus Frust ihr gegenüber physisch gewalttätig, nachdem er Druck von Leuten bekommt, die in der Ghettohierarchie über ihm stehen.
Es ist auch die Mimik der Amateurschauspielerin Franziska Jünger, eigentlich Zahnarzthelferin, die diesen Film so sehenswert macht. In entsprechenden Momenten reißt der sonst so kühle Blick auf, lässt Unsicherheit, Freude und Sehnsucht erahnen. Dort wird klar, wie fragil diese kleine Soldatin im Krieg der Berliner Seitenstraßen und Hinterhöfe eigentlich ist, obwohl sie sich für ungeheuer erwachsen hält.
Der Film psychologisiert nicht, er ist keine Studie über Berliner Jugendliche und will wohl auch kein Sozialdrama sein. Und obwohl er nicht nach Antworten sucht oder den moralischen Zeigefinger heben will, vernimmt man manchmal den faden Beigeschmack des Gutmenschentums. Dennoch ist er aufgrund der Glanzleistung Franziska Jüngers und der damit verbundenen Darstellung eines zerrütteten Individuums sehr zu empfehlen.

Schlaubi


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last modified: 28.3.2007