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Vermittelte Gesellschaft – Unmittelbare Gewalt


Zu Gerhard Scheits Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt

Es scheint offenkundig zu sein, dass eine gewisse Affinität zwischen dem theoretischen Interesse des Begriffs vom Zivilisationsbruchs (Dan Diner) einerseits und den Analysen dessen, was unter den sich dramatisch ausbreitenden Formen des Selbstmordanschlages wahrzunehmen ist, besteht. War es doch ein wesentlicher Antrieb der Verwendung des Begriffs vom Zivilisationsbruchs, aufzuzeigen, „dass die Nazis in ihrem auf die Vernichtung der Juden gerichteten Handeln eine Schranke durchbrachen, deren Überschreitung jenseits des auf andere reagierenden und die eigene Handlungsweise regulierenden Vorstellbaren liegt: Die Überschreitung der Schranke der Selbsterhaltung – der Selbsterhaltung der Täter.“(1) Der Verzicht auf das eigene Leben, vielmehr die Bereitschaft, es um der Vernichtung willen zu opfern, ist es aber, der zugleich am Verhalten der Selbstmordattentäter gegen Israel oder die Vereinigten Staaten unmittelbar deutlich wird.

Gärnerei, JVA Chemnitz, 35.2k
Gärtnerei der JVA Chemnitz


Sowohl diese Gemeinsamkeit im Verhalten der Täter, als auch der gemeinsame ideologische Kern des Antisemitismus sind es, die Gerhard Scheit in seinem gerade erschienenen Buch Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt zu der Feststellung führen, dass mit der modernen Form des Selbstmordattentats ein Vernichtungspotential entstanden ist, dass auf die Gefahr „eine[r] mögliche[n] Wiederholung von Auschwitz“ verweist.(2) Weil es aber ein entscheidend Gemeinsames zwischen nationalsozialistischer Judenvernichtung einerseits und dem Selbstmordattentat andererseits ist, dass der Wille zur Vernichtung zugleich auf der Bereitschaft zum Selbstopfer basiert, steht im Zentrum von Scheits gesamter Darstellung eine Analyse der Bereitschaft zur Selbstaufopferung, die in den Begriffen der deutschen Ideologie immer schon als „Freiheit des Opfers“ (Heidegger) gedeutet wurde. Um den Willen zum Selbstopfer, das Erlösung versprechen soll, nachzugehen, bedarf es freilich einer weit längeren Denkbewegung und eines tieferen Eindringens in die Geschichte. So verweist Scheit in seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Christentum, Islam und Judentum mehrfach darauf, dass sowohl im Christentum als auch im Islam die Opferung des menschlichen Lebens geradewegs den Kern der Erlösungsvorstellungen ausmacht. Basierte doch die christliche Ablösung vom Judentum gerade in der Anerkennung von Jesus Christus als dem wirklichen Messias und der Sinngebung seines Todes als Voraussetzung für die Erlösung der Welt. (307) Und unmittelbar damit einhergehend, war im Neuen Testament davon die Rede, dass die Erlösungsutopie zugleich mit der Hoffnung auf eine jenseitige Welt verknüpft ist, einer Hoffnung also, die die Entwertung des Diesseits geradewegs zur Grundlage hat. (306)
Besteht das Christentum also in der „Sinngebung des Opfers“ (328) von Jesus und damit in einem „Einverständnis mit dem Tode(3), so lässt sich eine ähnliche Bereitschaft zur Selbstaufopferung auch im Koran – der Heiligen Schrift des Islam – finden. (445–459) So ist Scheit darum bemüht, den Nachweis zu erbringen, dass der schnellste Weg der Erlösung für Muslime letztlich im Märtyrertod bestehe, weil nur durch ihn die Möglichkeit bestehe, „sofort ins Paradies zu gelangen.“ (449)
Verneinung der eigenen physischen Existenz und die Bereitschaft zur Aufopferung um der Erlösung, d.h. einer Identität mit Gott, willen, vermögen freilich noch nicht zu erklären, in welchem Verhältnis die Bereitschaft zur Selbstaufopferung mit dem Willen zur Vernichtung – wie sie den Nationalsozialismus als auch die Selbstmordattentäter charakterisiert – steht. Dazu bedarf es vielmehr eine Analyse des Staates, dessen politische Einheit nach Carl Schmitt „gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen“ muss (nach Scheit, 78). Materialistische Staatskritik bildet deshalb den Hauptteil von Scheits gesamter Darstellung, deren intendiertes Ziel es letztlich nicht nur ist, aufzuzeigen, inwiefern sich die Opferbereitschaft des Staatssubjektes mit dem antisemitischen Willen zur Vernichtung in der deutschen Ideologie verbindet, sondern auch eine Kritik des Staates zu formulieren, die auf die Abschaffung aller Verhältnisse von Staat und Kapital zielt. Um dies zu leisten, bemüht sich Scheit in Auseinandersetzung mit marxistischen Rechtstheoretikern wie Eugen Paschukanis, Franz Neumann und Otto Kirchheimer, aber auch mit dem faschistischen Staatsrechtler Carl Schmitt um eine minuziöse Bestimmung des Verhältnisses von liberalen Staat und autoritären Staat des Nationalsozialismus. (Teil I: Die Verstaatlichung des Menschen). Alle Überlegungen zielen letztlich darauf ab, zu erklären, wie die vermittelten Formen der bürgerlichen Gesellschaft, in denen das bürgerlichen Subjekt als individuelles Rechtsubjekt konstituiert ist und die staatlich gesicherten Freiheiten eines Warensubjektes genießt, in die Formen der unmittelbarer Gewalt des autoritären Staates umschlagen, und sich eine Volksgemeinschaft konstituiert, in der alle individuellen Rechte zugunsten des Staates entwertet werden. An Carl Schmitts Lehre vom Ausnahmezustand anknüpfend, erklärt Scheit diesen Umschlag, in dem er auf das besondere Verhältnis von Recht und Souveränität im Staat verweist. Denn obwohl die Rechtsform als „unausbleibliche[r] Reflex“ des Verhältnisses „der Warenbesitzer zueinander“ verstanden werden kann (Paschukanis, zitiert nach Scheit, 66), ist die Konstitution des Rechts zugleich nicht ohne den Staat und die staatliche Souveränität zu denken. Mit Carl Schmitt verweist Scheit darauf, dass es einer dritten – außerhalb des Rechts stehenden – Instanz bedarf, die das Recht garantiert. (45) Das Paradox des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft besteht also darin, dass es einer unmittelbaren Gewalt – des staatlichen Souveräns – bedarf, um vermittelte Rechts-, aber auch Tauschverhältnisse zu konstituieren.

Landwirtschaft, JVA Torgau, 28.4k
Gartenbau- und Landwirtschaftsbetrieb der JVA Torgau


So sehr damit offenkundig ist, dass alle individuellen Freiheiten, die das Recht garantiert, auf Zwangs- und Gewaltverhältnissen basieren und dem Zweck der „Selbstverwertung des Werts“ (Marx) dienen, so notwendig ist es, mit Scheit daran festzuhalten, dass in diesen vermittelten Rechtsverhältnissen, „emanzipative Möglichkeiten“ aufbewahrt sind. (72) Entwickelt das Recht doch im Normalverlauf der bürgerlichen Gesellschaft seine eigene „Resistenzkraft“ (Horkheimer) gegenüber der Souveränität und schützt damit das Individuum als Rechtssubjekt vor Formen unmittelbarer Gewalt.
Anders verhalten sich Recht und Souveränität jedoch im Ausnahmezustand, den Scheit mit der Krise in der politischen Ökonomie analogisiert. (75) Ist jener doch gerade dadurch gekennzeichnet, dass das Recht wieder abgeschafft wird und stattdessen die unmittelbare Gewalt des Souveräns offen zu Tage tritt, um die politische Einheit des Staates zu wahren. Diese „Abschaffung der Vermittlung“ bedeutete in ihrer deutschen Form aber zugleich die Konstituierung der Volksgemeinschaft. Denn was auf der einen Seite die Abschaffung vermittelter Tausch- und Rechtsverhältnisse meint, beinhaltet in der Form der deutschen Ideologie zugleich die „Substantialisierung des Souveräns im Völkischen“ (198). Neben dem Hervortreten der unmittelbaren Gewalt des Souveräns im Ausnahmezustand, war der Nationalsozialismus in der Form der Volksgemeinschaft ja gerade durch die Verpflichtung charakterisiert, „das eigenen Ich dem Leben der Gesamtheit willig“ unterzuordnen „und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer“ zu bringen. (Hitler, zitiert nach Scheit, 199). Und genau in dieser Opferbereitschaft kommt das Wesen der Volksgemeinschaft zum Ausdruck. Die einzelnen Staatsbürger verlieren in der Gemeinschaft ihre individuellen Ansprüche als Rechtspersonen und Warenbesitzer, um damit aber zugleich als Teil der Volksgemeinschaft selbst Souverän im Staat zu sein und sich somit „im Zentrum der politischen Macht als Subjekt wiederzufinden.“(197)

Die Wandlung des Staats im Übergang von liberalen zum nationalsozialistischen Staat bedeutet also vor allem eine Wandlung des Verhältnisses von Souveränität und Recht. Während zwar auch im liberalen Staat das Recht auf die gewaltsame Einsetzung durch den staatlichen Souverän verweist, entwickelt es dennoch eine Art Resistenz gegen die Willkür des Souveräns und das Rechtssubjekt kann sich in seiner Differenz dazu reflektieren. Anders im Staat der Volksgemeinschaft. Die vermittelte Identität, die erst durch den Souverän geschaffen wurde, wird hier aufgelöst. Nicht mehr ist das Anliegen des Rechtssubjekts, seine eigenen individuelle Existenz gegenüber der Souveränität zu behaupten. Stattdessen ist Volksgemeinschaft dadurch gekennzeichnet, in den „Wesenskern der Identität“ vorzudringen. Das heißt, alle gesellschaftlichen Formen der Vermittlung abzuschaffen, um zu jenem Ursprung unmittelbarer gesellschaftlicher Gewalt zurückzukehren, der erst alle Formen der Vermittlung gesetzt hat.
Es ist diese Bereitschaft, sich für die Volksgemeinschaft zu opfern, die zugleich immer schon mit dem Willen zur Vernichtung einhergeht. Denn die Konstituierung der deutschen Volksgemeinschaft in Krise und Ausnahmezustand meint zugleich immer schon den Willen zur Vernichtung all jener, die „zum Opfer nicht von sich aus und unbedingt bereit“ (265) sind, d.h. letztlich nicht als Teil der völkisch verklärten Gemeinschaft anerkannt werden. Der nationalsozialistische Antisemitismus wird deshalb nur zum Teil verstanden, wenn man ihn lediglich als Personifikation der „in Erscheinung tretenden abstrakten Dimension des Kapitals in Gestalt der Juden“ (Moishe Postone) begreift. In Auseinandersetzung mit den Thesen Moishe Postones macht Scheit vielmehr deutlich, dass die Form der antisemitischen Wahrnehmung des Kapitalverhältnisses selbst noch durch den Staat vermittelt ist. Erst durch die „gesellschaftliche Tat der Identifikation, [der] Einheit des einzelnen Bürgers mit dem gesellschaftlichen Souverän“ (255) in der Form der Volksgemeinschaft, wird es möglich zu erfassen, dass es der Staat ist, in dem sich die Volksgemeinschaft als Gemeinschaft unabhängig von kapitalistischer Krise und bürgerlicher Gesellschaft halluziniert und deshalb mit ihm zur Vernichtung mobilisiert.

Die Abschaffung der Vermittlung im Staat zugunsten der Identifikation mit dem Souverän und dessen unmittelbarer Gewalt, die Aufopferung des eigenen Ichs, um zum Kern dessen zu gelangen, was erst alle Vermittlung stiftet, ist es, die Scheit im Laufe seiner Darstellung in verschiedenen Ausprägungen der deutschen Ideologie aufzuzeigen vermag. Carl Schmitts Forderung, dass die „politische Einheit (...) gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen“ muss (nach Scheit, 78), wird dementsprechend mit der „Freiheit des Opfers“ bei Heidegger analogisiert: „Das Opfer ist der Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins.“ (nach Scheit, 78/79). Doch ähnliche Tendenzen lassen sich auch in der psychoanalytischen Begriffsbildung aufweisen. Das Anliegen der Psychoanalyse Sigmund Freuds war es noch, das Ich der Psychoanalyse als Resultat gesellschaftlicher Vermittlung darzustellen. Das Resultat der Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwänge und Normen sei eben auch die Herausbildung eines autonomen Individuums mit der Fähigkeit, sich zu den Instanzen gesellschaftlicher Gewalt, die es hervorbrachten, zugleich in ein kritisches Verhältnis zu setzen. (102) Darin gleicht es dem Rechtssubjekt, dass sich sowohl seine Genese durch den Staat, als auch seine Differenz von ihm, bewusst zu machen vermag. Während also Freud das Ich gegenüber der gesellschaftlichen Gewalt zu verteidigen versuchte, verlangten Alfred Adler und C.G. Jung statt dessen die Aufopferung des Ichs, „um seiner Identität mit der Gemeinschaft innezuwerden.“ (105). Das Ich der Psychoanalyse sollte damit gerade nicht mehr in seiner Differenz zur gesellschaftlichen Gewalt betrachtet werden, sondern sich stattdessen mit dieser Gewalt identifizieren. Darin kehrte in ihren psychoanalytischen Überlegungen die Form deutscher Ideologie wieder, in der das Individuum sich selbst der politischen Gewalt, dem Staat, opfern soll.

Während Scheit sowohl Christentum und Islam als Religionen des Opfers benennt und dadurch deren Verwandtschaft mit der deutschen Ideologie aufzuzeigen versucht, gerät die Auseinandersetzung mit jüdischer Religion und Philosophie zum positiven Bezugspunkt der gesamten Überlegungen Scheits. Gelingt es ihm doch, aufzuzeigen, dass gerade die Kritik des Opfers einen entscheidenden Bestandteil der jüdischen Religion ausmacht. Nicht nur tritt Gott in einer Geschichte des Alte Testamentes dazwischen, als ihm Abraham seinen Sohn Isaak opfern will. Vielmehr basiert die gesamte Gottes- und Erlösungsvorstellung der jüdischen Religion auf der Unmöglichkeit, sich um der Erlösung willen zu opfern. Während Christentum und Islam sich durch die Selbstopferung (oder die Heiligung des Opfer Jesus) eine Vereinigung mit Gott – und dadurch Erlösung – erhoffen, bleibt Gott im Judentum unerreichbar. „Das Wesentliche dieser Gottesauffassung liegt für den Judaismus darin, dass jede Identifizierung oder Verschmelzung mit ihm unmöglich ist.(4)
Durch die Wahrung der göttlichen Transzendenz tritt aber zugleich die Entwertung des Diesseits zurück, wie sie im Christentum und im Islam zum Ausdruck kommt. Stattdessen ist es gerade der Kern des jüdischen Messianismus, auf eine Erlösung im Diesseits, „der Welt des Sichtbaren“ (Gershom Scholem) zu hoffen. Vor dem Hintergrund dieser religiösen Differenz ist es dann auch nicht verwunderlich, dass gerade von einem so bedeutenden Denker wie Franz Rosenzweig eine Kritik des Staates formuliert wurde. So heißt es bei diesem über das Judentum, dass es „die Lösung der Widersprüche im Heute nicht anerkennen“ darf, „weil es dadurch der Hoffnung auf die endliche Lösung der Widersprüche untreu werden würde. Es muß (...) sich die Befriedigung verbieten, die den Völkern der Welt fortwährend im Staate wird.“ (Rosenzweig, zitiert nach Scheit, 303)

Es ist diese prinzipielle Staatskritik, die sich mit der Hoffnung auf eine „Erlösung ohne Opfer“ (339) verbindet, die letztlich wohl den Kern von Scheits gesamtem Buch ausmacht. Ist sein Buch, das sich mit Hilfe psychoanalytischer und philosophischer Begriffe an das Phänomen des Selbstopfers annähert, doch vor allem deshalb zu lesen, weil es zugleich eine Neufassung einer materialistischen Staatskritik beinhaltet. Und diese mündet zuletzt in der Erkenntnis, dass eine Gesellschaft ohne Opfer, nur eine Gesellschaft ohne Staat und Kapital sein kann.

Lutz

Fußnoten

(1) Dan Diner, Den Zivilisationsbruch erinnern. Über Entstehung und Geltung eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hrsg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhundert, Innsbruck 2003
(2) Gerhard Scheit, Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg i.Br. 2004, 445. Alle Zitatangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
(3) Herbert Marcuse, Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie, Nachgelassene Schriften Bd.1, Lüneburg 1999, 157; hier zitiert nach Scheit, 329.
(4) Béla Grunberger, Pierre Dessuant, Narzissmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart 2000, 170–173, Zitiert nach: Scheit, 335.

Das Buch von Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt (Freiburg i.Br. 2004, 616 S., 29.00 Euro) ist im Infoladen ausleihbar.

  • ISF: Dschihad und Werwolf. Die Zerstörung des World Trade Center und der barbarische Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, im CEE IEH #82

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last modified: 28.3.2007