home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[116][<<][>>]

review corner Film, 1.4k

Elephant.


Elephant, 16.9k
Elephant
USA 2003, 81 min
Regie: Gus van Sant

"Everybody wants a quick answer. They want an easy answer so that they can sleep at night and know this is not going to happen tomorrow." (Kate Battan, lead Columbine investigator)

Gus van Sant, Regisseur solch großartiger Filme wie „Drugstore Cowboy“ und „My Private Idaho“, mit dem er den göttlichen River Phoenix zum Pin-Up einer ganzen Jugendkultur krönte, allerdings auch jener der „Good Will Hunting“ oder etwa das grässliche „Psycho“-Remake verbrach, hat sich nach seinen enttäuschenden Popcornkinoexkursionen nun wieder dem gewidmet, wofür er wie kein zweiter ein Händchen hat und liefert ein großartiges Stück Independentkino ab. Ob HBO sich wirklich im Klaren darüber war, was entstehen würde, wenn man jemanden wie van Sant damit beauftragt einen Dokumentarfilm über den Columbine-Amoklauf zu drehen, darf bezweifelt werden, tut aber nichts zur Sache, solange die Finanzierung stimmt. Damit wären wir auch schon beim Thema des Films, der sich allerdings nicht spezifisch auf benannten Vorfall bezieht, sondern das Phänomen des Amoklaufes an Schulen allgemeiner angeht. Bei den jugendlichen Schauspielern handelt es sich komplett um Laiendarsteller, deren gespielte Filmcharaktere interessanterweise oft den selben Namen tragen wie sie. Woran liegt das? Ganz einfach, zu diesem Film existierte nie ein richtiges Skript. Natürlich waren Dinge wie die Rahmenhandlung, Vorgaben der Dialogthemen, etc. vorhanden, die meiste Zeit jedoch wurden die Jugendlichen angewiesen, einfach sich selbst zu spielen, weshalb er zu gewissen Teilen wie ein Dok-Film anmutet, ohne wirklich einer zu sein.
Der Film setzt ein, indem ein bezaubernder Himmel gezeigt wird, der dank dynamischer Farbfilter und Zeitraffer zwischen bedrohlicher und idyllischer Stimmung hin und her springt, begleitet von den ausgelassenen Stimmen einiger Kids. Kurz darauf präsentiert er eine seiner stärksten Szenen, als eine Gruppe von Mädchen über das Schulgelände joggt und eine von ihnen unvermittelt, ohne jeglichen ersichtlichen Grund stehen bleibt, um gen Himmel zu blicken. Da man um das Thema des Films weiß, wirkt es so, als würde sie ahnen wie fragil ihre vermeintliche Sicherheit ist und dass der Himmel, den sie so geistesvergessen betrachtet, jeden Moment auf sie herabstürzen könnte. Die Charaktere, welche im folgenden eingeführt werden, sind die typischen Eckpunkte einer jeden Schule und deshalb auch so real. Da gibt es den schmucken Sportler, dessen Freundin wie eine Trophäe wirkt oder das typische hässliche Entlein, das den allgemeinen Spott der Mitschüler auf sich zieht. Dann hätten wir noch die obligatorische Mädchen-Dreierclique, bewaffnet mit Hüfthosen und falschen Fingernägeln, in der um die gemeinsam zu verbringende Zeit gefeilscht wird, da eine von ihnen einen Freund hat, doch all der Zwist zwischen ihnen ist vergessen, als man sich gemeinschaftlich zur Toilette begibt, um das gerade Gegessene wieder auszukotzen. Solcherart Figuren werden uns noch einige mehr vorgestellt, unter ihnen die beiden zukünftigen Killer Alex (Alex Frost) und Eric (Eric Deulen). Nein, vorgestellt ist das falsche Wort, vielmehr beobachten wir sie, denn der Film verzichtet weitestgehend auf jegliche Psychologisierung und man erfährt nichts über die Gedanken und Gefühle der Jugendlichen. Die Kamera haftet an ihnen, es gibt keine Schnitte zwischen Totale und Nahaufnahme, folgt ihren alltäglichen Gängen durch die Schule und dokumentiert unkommentiert ihre alltäglichen Handlungen. Genau das ist die herausragende Stärke van Sants, dieser Versuch der Kommunikation mit dem Zuschauer, dem er durch die endlos scheinenden Kamerafahrten die Zeit und Möglichkeit zur Reflexion einräumt. Weshalb drehen zwei dieser Jugendlichen, die sich nicht großartig von den anderen unterscheiden, plötzlich und ohne ersichtlichen Grund einfach durch und schlachten einen Teil der Schülerschaft ab? Auf der Suche nach der Antwort soll dem Zuschauer die Kamera helfen, wie früher die Lupe dem Detektiv. Van Sant streut immer wieder, ein wenig schelmisch, die verschiedenen Erklärungen und Spekulationen ein, die nach Columbine durch die Medien gingen. Liegt die Schuld bei den Eltern, deren Gesichter in einer Szene wie abgeschnitten wirken, um scheinbar zu zeigen, dass sie jeden persönlichen Zugang zu den Kids verloren haben? Könnten die laschen Waffengesetze schuld sein, da die beiden sich unkompliziert per Internet ein Gewehr bestellen? Waren sie vielleicht schwul, was durch den Kuss unter der Dusche unmittelbar vor der Tat suggeriert wird, und kamen damit nicht klar? Vielleicht einfach nur Satanisten, Anarchisten oder Nazis, hängt doch am Rückspiegel des Autos ein Satanskopf, auf dem Rucksack des einen prangt ein Anarchiezeichen und immerhin sehen sie sich eine Dokumentation über den Nationalsozialismus an. Das ist natürlich alles Quatsch, denn es sind die beiden typischen durchschnittlichen Jugendlichen, von denen einer wie eine Kopie Eminems daherkommt und der andere in der Schule ein wenig getriezt wird. Der große Vorwurf an van Sant, im übrigen selbst schwul, er würde alle Vorurteile über die beiden in diesem Film bedienen, ist komplett hirnrissig. Die Nazi-Dokumentation interessiert die beiden nicht wirklich, es läuft halt der Fernseher, weil er einfach immer läuft (Im übrigen erzählt einer der beiden Darsteller im Interview, dass sein Zimmer „hauptsächlich Konsole und Fernseher“ ist.). Das obligatorische Ego-Shooter Spiel Erics wird konterkariert, indem Alex währenddessen „Für Elise“ auf dem Klavier spielt, ein kleiner Verweis auch auf Kubricks „Clockwork Orange“. Wer ist also schuld, „Doom 3“ oder Beethoven? Der Kuss unter der Dusche ist der letzte verzweifelte Versuch die Isolation aufzubrechen und vor dem nahenden Tode noch einmal menschliche Nähe zu spüren.(„I've never kissed anyone before.“) Die Diskussion im Klassenzimmer, ob man jemandem ansehen könne dass er schwul sei, verweist auf die Sinnlosigkeit, den Tätern bestimmte Merkmale aufzudrücken, da jeder ein potentieller Täter sein kann. Deshalb wohl auch der Titel des Films, der an eine buddhistische Sage erinnert, in der mehreren Leuten die Augen verbunden werden und sie in diesem Zustand verschiedene Teile eines Elefanten betasten. Jeder von ihnen meint etwas anderes zu erkennen, so wie nach dem Amoklauf die verschiedensten Erklärungsmuster kursierten.
Die penible Suche der Kamera nach Gründen fördert nichts zu Tage, da sie nicht hinter die Stirn blicken kann. Was mit Sicherheit klar wird, ist die schleichend subtile Brutalität des Schulalltags, die Tristesse, die ein jeder kennen dürfte, der schon einmal in der Schule war. Die „Mondscheinsonate“ Beethovens wird gebrochen durch unangenehm beängstigende Ambientgeräusche und die Korridore der Schule wirken, als liefen die Kids durch eine zu Eis erstarrte Hölle, die obgleich ihrer Starrheit nichts an Grässlichkeit eingebüßt hat. Selbst wenn sie miteinander reden wirken sie einsam und der Kuss, den ein Mädchen einem weinenden Schüler zuteil werden lässt, wirkt wie die Aufforderung sich zusammenzureißen. Der Amoklauf selbst reiht sich schlussendlich in dieses Setting ein, das trotz seiner Brutalität unglaublich langweilig wirkt, weil es das ist, was wir alle tagtäglich erleben. Die Morde wirken nicht chaotisch, vielmehr laufen die beiden wie auf einer Schiene, was durch den kurzen Einspieler des Ego-Shooters verdeutlicht wird, während einer der beiden mit der Waffe im Anschlag durch die Gänge läuft. Emotionslos kommentiert Alex die Taten mit dem Satz: „I've never saw such a vile and beautiful day.“ Der Film endet schließlich mit einem letzten Verweis auf Stones großartigen „Natural Born Killers“, als Alex unter zu Hilfenahme eines Abzählreimes entscheidet, welches seiner beiden letzten Opfer er zuerst töten wird.
Der Film bietet keine Antworten, er entwirft kein Psychogramm der Opfer oder der Täter, er beobachtet nur, weshalb van Sant von vielen Seiten Emotionslosigkeit vorgeworfen wurde. Doch wenn man ihn gesehen hat, mag man diesem Vorwurf gar keine Beachtung mehr schenken, so lächerlich erscheint er. Dieser Film hinterlässt eine gewisse Leere, dieses Gefühl, es würde einem etwas fehlen, in etwa mit Liebeskummer zu vergleichen. In diesen Situationen jedoch weiß man, was Linderung verschaffen könnte, hier weiß man es nicht. Van Sant lässt uns allein mit dem Wissen, dass wir keine adäquaten Erklärungsmodelle für solche Taten liefern können und mit dem Gefühl, dass etwas fehlt, das nicht fehlen sollte. Ein Zustand, der es unmöglich machen würde, dass Menschen solche Gräueltaten begehen. Doch wie der aussehen soll, wissen weder van Sant noch ich.
Schlaubi


home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[116][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007