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Eine andere linke Welt ist möglich


Rund 7 000 Menschen haben trotz des absoluten Versammlungsverbotes am ersten Februar-Wochenende in München gegen eine Nato-Sicherheitskonferenz demonstriert. Abertausende mehr sind wegen des Verbots gar nicht erst angereist. Anläßlich des Nato-Krieges gegen Jugoslawien gab es so etwas komischerweise nicht. Was die Demonstranten nach München zog bzw. bewog, ist unter anderem Gegenstand des folgenden Textes. Er geht außerdem aktuell dem Grund für eine antiimperialistische Zweiteilung der Welt im Zeitalter ihrer ideologischen Reproduzierbarkeit nach.
Von Sören Pünjer

    „Während die Elite erfolgreich daran arbeitet, das moralische Guthaben, das ihr der Einsturz des World Trade Centers einbrachte, zu verbrauchen, haben die Globalisierungskritiker Boden gut gemacht.“
    (taz vom 06.02.2002)

    „(...) Die erklärten Freunde des Orients akzeptieren in Wahrheit das okzidental verzerrte Bild des orientalischen Menschen – wenn auch in einer positiven Verkehrung. Sie schlägt sich in der Bereitschaft nieder, die Menschen im Orient, die dort vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die von ihnen getragenen Regime der Kritik zu entziehen – so, als seien sie nicht von dieser Welt. Man meint, andere Standards müßten bei der Beurteilung angelegt werden. Damit ist eine Gleichbehandlung in durchaus bewußter Anerkenntnis kultureller Unterschiede allerdings ausgeschlossen. Die Folge ist eine neuerliche Infantilisierung, Desavouierung und zivilisatorische Invalidisierung des Orients.“
    (Dan Diner)
Die entscheidende Frage hinsichtlich der anfang Februar geplanten und teilweise trotz Verbots auch durchgeführten Proteste gegen die in München von der BMW-nahen „Herbert-Quandt-Stiftung“ ausgerichtete „Konferenz für Sicherheitspolitik“ lautet wie folgt: Hätten die Proteste gegen das Treffen von dutzenden Außen- und Verteidigungsministern ohne die Anschläge am 11. September überhaupt stattgefunden? Und hätten sie darüberhinaus auch noch die breite Unterstützung von Links erfahren, wie es im Vorfeld der Tagung der Fall war? Anhand der Aufrufe gegen die Konferenz läßt sich die Frage leicht und zugleich verheerend beantworten: Nein, die Proteste hätte es gar nicht erst gegeben. Der zentrale Aufruf des „Anti-NATO Komitee München“, dem sich dutzende linke Gruppen und Initiativen anschlossen, verrät es genauso wie ein gemeinsamer Aufruf der Göttinger Antifa (M) und dem Leipziger Bündnis gegen Rechts (BgR).(1) So stellen erstere unverblümt auf die unsägliche antiamerikanisch-deutschpatriotischen Proteste vergangener Bewegungstage ab und knüpfen auch im Jargon des antiimperialistischen Linkssprech genau dort an: „Der bewaffnete Arm der imperialistischen Staaten (gemeint ist die Nato – S.P.) ist nicht erst seit heute Projektionspunkt von Widerstand und Protest. (...) Anknüpfen an vergangene Kämpfe heißt, dem Handlanger des Kapitals die Stirn zu bieten – München ist ein geeigneter Ansatzpunkt.“ Der Aufruf von Antifa (M) und BgR stellt dann in seiner inhaltlichen Ausrichtung nur noch eine notwendige Ergänzung dar: „Gerade nach dem 11. September und dessen Folgen gehört die Militärpolitik der imperialistischen Staaten wieder zurück ins Zentrum der Kritik einer linksradikalen Bewegung.“
Bei letzterem Zitat ist jedoch leider nicht die „Kritik einer linksradikalen Bewegung“ gemeint, wie es die Syntax nahe legt, sondern gerade das Gegenteil. Daß man die Objektwahl des Protestes allen ernstes als „Projektionspunkt“ klassifiziert, spricht im übrigen allein schon verräterisch genug für sich. Denn Sprache ist gerade innerhalb einer bewegungsfixierten Linken ein untrügliches Zeichen jenes ideologischen Eigentlichkeitsschaumes, der dort seit Jahrzehnten geschlagen wird. Oder anders formuliert: nichts weiter als eine formale Aneinanderreihung von Worthülsen, die eine in der Sache selbst angelegte offene Verblödung durch Milieuverhaftung zum Ausdruck bringt, bei der die gegenseitig züchtigende Verkehrsform sogenannter Szene-Gesetze jenes Paralleluniversum eines Staates im Staate ist, die im Zweifelsfall auch wirklich jeglichen Inhalt auszutreiben vermag und an deren Stelle ein ressentimentgeladenes Überwachen und Strafen setzt. Und dieses wiederum verrät nur die wahre autoritäre Charakterstruktur einer Bewegungsszene, die mit emanzipatorischem Verständnis ungefähr so viel zu tun hat, wie ein Knastaufseher mit seinem Häftlingsklientel. So wird mangels Argumenten die Moral zum geistigen Schützengraben gemacht, von dem aus die Waffen des gemeinschaftlichen Abstrafens der für aussätzig erklärten Individuen in Stellung gebracht werden, weil die Unterwürfigkeit das erste und wichtigste Szene-Gebot zu sein hat und der Verstoß dagegen der Sündenfall im Szene-Paradies ist: Das Naschen vom Baum der Erkenntnis steht grundsätzlich unter Strafe, wenn es nicht vom kollektiven Willen getragen wird.

Herrschaft, Gleichheit, Gerechtigkeit

Man muß sich die obigen Zitate nicht erst auf der Zunge zergehen lassen, um ihre bittere Substanz herauszuschmecken. Wer zum Beispiel vom „bewaffneten Arm der imperialistischen Staaten“ und vom „Handlanger des Kapitals“ redet und dabei Kapital und das Militär als Form der Staatsgewalt säuberlich voneinander trennt, ohne die Notwendigkeit der logisch-dialektischen Beziehung beider in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken, verfehlt die Kritik nicht nur, sondern liefert die falsche.(2) Staat und Staatsgewalt sind eine untrennbare Einheit. Jede Form Staat ist allgemein Gewalt, denn es ist der unaufhebbare Inhalt jeglicher dieser Formen. Die besonderen Formbestimmungen als Militär, Polizei oder Justiz sind Ausdruck genereller Unterworfenheit des Staates unter das Akkumulationsgesetz des Kapitals. So betrachtet wird der Staat selbst nur zur Form, dessen Inhalt nichts weiter ist als das sich selbstverwertende Kapital. Die Bedingungen, unter denen es sich verwertet, bestimmt der Staat. In seiner unauflöslichen Bindung an das Kapital aber kann er nicht darüber verfügen, ob überhaupt verwertet wird, sondern nur wie und zum Teil sogar was und was eben nicht. Staat ist grundsätzlich nichts weiter als ein Erfüllungsgehilfe. Seine Aufgabe ist die ideelle, immer relative Aufrechterhaltung der Grundbedingungen des Kapitalverhältnisses – also Eigentumssicherung von Grund, Boden, Arbeit und Wissenschaft, die Garantie des kapitalistischen Produktionsverhältnisses durch Heranzüchtung (Bildung) und Stellung der Produzenten zu ihren Arbeitsprodukten als doppelt freie (frei von Feudalverhältnissen und frei von Produktionsmitteln) sowie die Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft (z.B. Familie oder Sozialversorgung).
Das generell verhängte Verbot von Protest gegen die geplanten Demonstrationen und Kundgebungen in München sowie dessen juristischer zweiinstanzlicher Bestätigung anläßlich der „Konferenz zur Sicherheitspolitik“ unter der fadenscheinigen Vorgabe der Nichtgarantierbarkeit sogenannter öffentlicher Ruhe und Ordnung verführt einmal mehr dazu, das Hinterfragen von Strategien zur Herstellung sogenannter äußerer und innerer Sicherheit nur noch unter dem Gesichtspunkt von bürgerlichen Menschenrechtsidealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zu bewerkstelligen. Dabei ist die Versuchung groß, im moralisch gerechtfertigten Protest gegen unmittelbare Betroffenheit von Verboten und Polizeiaktionen endgültig und für immer in der Suche nach Antworten auf bürgerliche Menschenrechtsfragen einzuschnappen. Ein Hinterfragen, was Menschenrechte und das Gleichheitspostulat unter bürgerlicher Herrschaft nur bedeuten können, nämlich festere Bindung des Subjekts an das Objektive bürgerlicher Herrschaft und deren subjektiver Vergeistigung zur zweiten Natur, wird unter derlei Vorzeichen zu einem Weg, der gleichzeitig reformistisches Ziel ist und deshalb bürgerliche Herrschaft nur verdoppelt. Ein wesentlicher Grundsatz kritischer Gesellschaftsheorie im Sinne Horkheimers und Adornos ist das Auseinanderfallen, die Unvereinbarkeit von Gerechtigkeit und Freiheit und deren wechselseitiger Bedingung.(3) Die Beachtung dessen wiegt um so schwerer, wenn man tatsächlich in der Kritik des linksbürgerlichen Gleichheitspostulats das Ziel verfolgt, Bedingungen anzustreben, unter denen allgemeine Menschheit ohne Angst voneinander verschieden sein kann, wie Adorno es einst formulierte.
Die Zunahme unmittelbarer und gesellschaftlich vermittelter Repression gegen oppositionelle Proteste von Rechts bis Links, gegen Sexgangster und Schwarzfahrer, Eierdiebe oder Heiratsschwindler, ist Ausdruck des Rückbaus des Sozialstaates und somit vielmehr Ausdruck von Umbau des Staates unter dem Eindruck technologischer Möglichkeiten im Zuge der mikroelektronischen Revolution und der damit einhergehenden tendenziell endgültigen Verüberverflüssigung des Menschen. Die völlig durchautomatisierte Gesellschaft, die Horkheimer/Adorno prognostisch als „total verwaltete Welt“ begriffen haben, kennt schon lange keine Menschen mehr, sondern nur noch Problemfälle des Abweichens vom gesellschaftlichen Automatismus zwingend gleichlaufenden Funktionierens. Der Mensch als Subjekt, als vergeistigtes, zur Vernunft befähigtes Tier, ist nur noch Störfaktor einer völlig anonymisierten Gesellschaft, die auf Menschen im Sinne autonomer Handlungsfähigkeit längst verzichten könnte. Menschliches Zombietum ist keine Fiktion, sondern längst Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen einem Bundeskanzler, Künstler, einer Hausfrau oder einem Müllfahrer ist allgemein so marginal, daß seine pure Benennung die Realität der hergestellten Gleichheit schon zu verfälschen droht.
Was Peter Brückner und Johannes Agnoli in der sogenannten Bibel der 68er, in ihrem Buch die „Transformation der Demokratie“, zu Papier brachten, vermag den immerfort dynamischen und nicht etwa statischen Charakter der Form Staat ausreichend auf den Begriff zu bringen.(4) Die dynamische Transformationsfähigkeit des Staates als Gebilde ist nicht etwa die immanente Bewegung zur Selbstaufhebung als irgend geartetes Absterben desselben (Engels), sondern pures Ideologiegebläse der treuesten Staatspropagandisten: So ist die Bejammerung eines schlanken Staates vielmehr die dickste Lüge über ihn. Sein sogenannter deregulierender Um- oder Rückbau ist die endgültige Öffnung für die Entfaltung einst faschistischer Implikationen, die den Staatskapitalismus postfaschistischen Typs zur globalen Entfaltung verhilft.(5)
Eine Kritik des Staates ohne Kritik als Gewaltverhältnis, das er im Ganzen verkörpert, ist ebenso keine richtige wie eine Staatskritik keine ist, die nicht zugleich eine Kritik der Politik liefert, welche entscheidendes Mittel zur allgemeinen Herrschaftssicherung ist: Politik, ob gerecht oder ungerecht, ist und bleibt Herrschaftsmittel und ist so antiemanzipatorisch.
„Es geht nicht mehr darum, die Verfälschung der Norm durch die Politik aufzuzeigen. Vielmehr wird die politische Norm zur Diskussion und zur Destruktion gestellt“, schreibt Johannes Agnoli(6), der seine Kritik der Politik immer als die „Fortsetzung der Kritik der politischen Ökonomie in die Kritik der Politik“ insofern verstand, als daß sich dadurch das „Ökonomische ins Politische“ übersetzen ließe.(7)

Was ist Kritik?

Das permanente Verharren in der Kritik auf der Ebene des Besonderen vermag das Ganze als Falsches nicht zusammen zu denken. Selbst dann nicht, wenn das Allgemeine Ganze vorgeblich den Hintergrund für die Kritik des Besonderen abgeben soll. Das Abstrakte aber ist nicht die Begleitmusik des konkreten, sondern unwiderruflich Teil des Besonderen – genauso umgedreht. Somit ist Kritik die geistige Reflexion auf die dialektische Einheit von beidem. Ohne dem Hegelschen Aufsteigen als methodisches Denken, auf welches dann erst die Kritik dieser Methode folgen kann und nicht etwa die Kritik der Methode die Methode vorwegzunehmen im Stande wäre, weil sie dann ja auch nur Methode wäre, die ebenso einer Methodenkritik unterzogen werden müßte, verkommt Kritik zur phänotypischen Beschreibung, zur wissenschaftlichen Disziplin der Deskription. Ohne dialektische Denkbewegung ist Kritik keine Kritik. Festzuhalten ist, daß die geistige Logik die Logik des menschlichen Geistes ist. Die Logik des Geistes ist somit die Subsumtionslogik des Denkens überhaupt. Und genau das ist nicht das Problem des Wahrheitsgehaltes von Kritik, sondern die objektiv gesellschaftlich vermittelte Tendenz der Aufspaltung von Wirklichkeit als ganzer. Insofern besteht objektiv die materialistische Herausforderung für Kritik nicht darin, den Gegenstand von Kritik getrennt zu betrachten, sondern die Gegenstände der Kritik umfassend zusammen zu denken. Hier hat eine Kritik der Erkenntnis anzusetzen, und nicht an der Logik des kritischen Denkens selbst, das als gebrandmarkter „Logozentrismus“ (Derrida) wohl ersatzlos ausgetrieben werden soll und durch den Wortschwall einer Metaphysikkritik als gesellschaftskritische Mogelpackung so auf nicht gerade wenigen linken WG-Küchen-Tischen landet, um dort gruppentherapeutisch im Rahmen des Philosophiestudiums zur Freude des lieben Uni-Professorchens dekonstruierend jener inneren Logik logisch auf die Schliche zu kommen, die die ursprüngliche Logik der Logik des Logozentrismus nun aber wirklich ausmacht.
Die Verwissenschaftlichung der Kritik ist ihre Austreibung. Kritik hat zu erfassen, daß sie objektiv unter dem Bann von bürgerlicher Herrschaft der Auftrennung in geistige und körperliche Arbeit unterliegt und so zur Verwissenschaftlichung neigt. Die gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit der Realabstraktion – also der gesellschaftlich vermittelten menschlichen Tätigkeit inklusive seinem Denken als Produkt eines Handelns – verschleiert den immerwährenden Stoffwechsel des Menschen mit Natur, deren Teil er auf immer und ewig bleibt, solange er menschliches Wesen ist. Unter dieser Voraussetzung des Scheins wirklicher Verhältnisse treibt menschliche Tätigkeit zur falschen Spezialisierung – gegen wirkliche Individualität. Spezialisierung wird so zur Selbstbeschränkung geistig-reflexiver Fähigkeiten. Die Fähigkeit zum kritischen Bewußtsein verkümmert so notwendig, es wird zum viel zitierten notwendig falschen. Kritik kommt im Stande dieser objektiven Verhältnisse also auf den Hund, wenn sie sich nicht selbst zu schützen vermag, in dem sie auf das Objektive reflektiert, dessen Teil das eigene Denken unwiderruflich ist und deshalb auch nicht ungeschoren vom Objektiven davonkommen kann. Grundlage der Selbstreflexion ist die Erkenntnis, daß Denken nicht auf Denken in Begriffen verzichten kann, für das es keine anderen Begriffe gibt. Kritische Theorie unterscheidet sich dabei von der traditionellen gerade darin, daß sie nicht dazu übergeht, sich Begriffe frei Schnauze aus den Fingern zu saugen, sondern die gesellschaftlich Bestehenden bestehen läßt, um daran die Kritik zu formulieren und zu schärfen.(8) Darin aber lauert zugleich die Gefahr, sich in den Begriffen zu verfangen. Diese Gefahr ist objektiv. Selbstreflexion kommt deshalb die Aufgabe zu, die Verfangenheit immer wieder aufs Neue aufzusprengen, ohne sie wirklich überwinden zu können.

Verstaatung und Natur

Herbert Marcuses Begriff von der repressiven Toleranz vermag längst nicht mehr ausreichend zu erfassen, wie sehr der Konformitätszwang von innen und außen in seiner totalen gesellschaftlichen Vermitteltheit das bürgerliche Subjekt in der Formgestalt des Bourgeois-Citoyen-Verhältnisses zurichtet. (Ein Gerede von „Panoptismus“ – Foucault – oder einer Kontrollgesellschaft – Deleuze – unter dem bewußten Verzicht auf Dialektik und stattdessen unter Anwendung einer post-strukturalistischen Zustands-Beschreibung fällt allerdings weit hinter Marcuse zurück.) Die dialektische Beziehung von sozialer Ruhigstellung und unmittelbarer repressiver Erfahrung synthetisiert sich in der Form Staat, den man zwingend denkt, weil man es gar nicht anders kennen kann und es die Vorstellungskraft menschlichen Verstandes übersteigt, sich wirklich anderes wie ein staatliches Gemeinwesen auszumalen. Ein untrügliches Zeichen einer verkürzten oder falschen Staatskritik ist unter solch einem Gesichtspunkt die Behauptung, man könnte ein Denken jenseits der Form Staat aufrechterhalten und sich so eine konkretere Vorstellung davon machen, wie ein Leben ohne Staat möglich ist. Verkannt wird dabei nämlich der Umstand, daß die Identifikation mit einem Über-Ich nicht als Bewußtsein von Kollektiv-Zugehörigkeit, sondern als unbewußte Verinnerlichung von Herrschaft im einzelnen Subjekt vor sich geht und diese in dem Maße zunimmt, wie der Zerfall der bürgerlichen Klein-Familie, und damit ihrer gesellschaftlichen Funktion als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, voranschreitet. Wirkliche Staatskritik im Sinne Agnolis meint gerade auch die Kritik an der Verfangenheit des eigenen Denkens im Fetisch Staat. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß menschliches Denken in einem Maße im Subjekt verstaatet (Agnoli) ist, daß Staatskritik nur die „Negation als Element der Befreiung“ bedeuten kann.(9) Zu bedenken ist dabei aber, daß eine Kritik des Überwachens und Strafens durch eine strukturalistische Systemtheorie à la Foucault oder eine strukturalistische Marx-Interpretation à la Althusser das wirkliche Verhältnis von Disziplinierung und Kontrolle allein schon deshalb nicht fassen kann, weil ein systematisierender Blick ausschließlich auf das Äußerliche des Zusammenhanges von Gesellschaft und Subjekt wohl kaum hinreichend zu erklären vermag, warum das Interesse des Subjekts statt die Konfrontation mit dem Zwang durch Herrschaft zu suchen, diese Herrschaft geradezu herbeisehnt.(10) Der adornitische Begriff der Verblendung und dessen Zusammenhang etwa ist im Gegensatz zur strukturalistischen Theorie nicht etwa nur ein x-beliebiger für ideologische Indoktrination und Manipulation, sondern ein gänzlich anderer. Ihm liegt statt der Frage nach der Ordnung der Dinge als System, in dem etwas vor sich geht, vielmehr die Frage danach zu Grunde, was darin vorgeht und wie: Es geht also nicht ausschließlich um die Frage nach der strukturellen Art und Weise der formalen Reflexion gesellschaftlicher Vermittlung, sondern um den Vorgang der substanziellen Verinnerlichung dieser im Subjekt. Strukturalistische Systemtheoretiker, inklusive ihrer Epigonen, die statt großer Metastrukturen überall nur noch Mikrostrukturen aufspüren wollen, und an dessen Schnittstelle des Übergangs nicht zufällig Foucault anzusiedeln ist, interessiert das entscheidende Verhältnis des Subjekts zu seiner inneren und äußeren Natur schon deshalb nicht, weil es ihnen ihre Begriffswelt verunmöglicht, sich überhaupt einen Begriff davon zu machen.(11) Subjekt ist ihnen ausschließlich unlebendige, unnatürliche Körper-Masse, die nur von außen geleitet und geformt würde und deren Inneres somit schnurzpiepegal sei – beherrscht von einer „Bio-Macht“ eben, wie Foucault es nannte.
Das entscheidende Moment einer kritischen Subjekttheorie ist im Gegensatz zur strukturalistischen Systemtheorie das begriffliche Erfassen von Natur und Geist als geschichtliche Subjekt-Objekt-Beziehung. Der immerwährende Vorrang des Objekts als nichtidentisches Verhältnis von Begriff (Subjekt) und Sache (Objekt) ist das unumstößliche Auseinanderfallen von Stoff (Materie) und Form (Formung der Materie): so sehr man sich auch anzustrengen gedenkt, man kann die Sache selbst nicht denken, sondern sie nur auf den Begriff bringen und damit formen (form-ulieren). Historischer Materialismus heißt dementsprechend nicht nur zufällig so, weil es sich um eine atheistische Lehre, also um eine Theorie zur geistigen Gottesaustreibung, handeln würde, sondern weil die geschichtliche Formung von Materie ein ganz bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Natur und der darauf errichteten gesellschaftlichen Konstruktion menschlichen Zusammenlebens ausdrückt, deren Verständnis und Bewußtwerdung nichts weniger als die wirkliche Voraussetzung aller Emanzipation von Herrschaft bedeutet.

Antiimperialismus und Gesellschaftskritik

Die fortschreitende Entwicklung einer ausschließlich selbstzweckhaften gesellschaftlichen Produktionsweise hat die Personifikation ökonomischer Verhältnisse insofern obsolet gemacht, als die Marxsche Charaktermaske Kapitalist nicht nur zusehends anonymisierter wurde, sondern gänzlich für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft überflüssig: an die Stelle kapitalistischer Charaktermasken sind vielmehr tatsächlich jene Cliquen und Banden getreten, die nur noch als staatliche oder private Verwaltungsangestellte einer totalen Produktionsweise funktionieren. Nicht nur also, daß „der“ Kapitalist im Fortschreiten der Produktivkraftentwicklung gar nicht mehr existieren kann, nein, auch die Herrschaftsmittel selbst haben sich endgültig jeglicher ökonomischen Maskerade entledigt. An ihre Stelle ist tatsächlich das von Horkheimer benannte Racketwesen getreten – jene Cliquen und Banden, die mal besser, mal schlechter das krisenhafte Elend des Kapitalismus als konkurrierende Machtfragen verwalten.
Verheerend nimmt sich eine Diktion aus, die „gerade nach dem 11. September“, wie es so schön im Aufruf von Antifa (M) und BgR heißt (s.o.), nicht die postkoloniale Brille von den Augen und die mit Antiimperialismus getränkten Ohrstöpsel aus den Hörorganen zu nehmen gedenkt, um sich der Wirklichkeit fern altbackener linker Ideologie zu stellen und so den durchweg antisemitischen Charakter der Anschläge vom 11.September in der Form maßloser Vernichtung endlich zu erkennen. Daß die Anschläge zwar sprichwörtlich aus heiterem Himmel erfolgten, heißt noch lange nicht, daß man ihren Charakter damit nicht im Kontext einer reflexionslosen, in Mythologie verharrenden massenhaften islamistischen Gottesgläubigkeit begreifen muß. Der Selbstzweck der Anschläge und der damit verbundene Vorsatz maßloser Vernichtung läßt mittels pathischer Projektion Form und Inhalt ineinanderfallen. Nicht umsonst haben Adorno/Horkheimer einst darauf verwiesen, daß z.B. eine Verwüstung jüdischer Friedhöfe keine Ausschreitung des Antisemitismus ist, sondern nichts weiter als er selbst. Es ist somit dem Mathias Küntzel beizupflichten, der darauf beharrt, daß hinsichtlich des 11. September die Tat selbst entscheidend ist, weil es kein eindeutigeres Indiz für eines der wesentlichsten Elemente des Antisemitismus geben kann.
Das neue alte geflügelte Wort Imperialismus wird von Links wieder in Stellung gebracht. Und es steht zu vermuten, daß es in seiner sinnentleerten Falschheit nach und nach den 90er Begriffsfeudel namens Rassismus ersetzen wird. Einen sehr eindeutigen Hinweis fand man erst jüngst auf dem konkret-Kongress am letzten Januar-Wochenende in Hamburg. Die Schlagworte vom „imperialen Interesse“ und von „imperialistischen Mächten“ machten die Runde, ohne daß man auch nur auf die Idee gekommen wäre, das Herumwedeln mit dem Begriff des Imperialismus an seine jahrelange völlig richtige und notwendige Kritik rückzubinden. Einzig Jungle World- und konkret-Autor Thomas von der Osten-Sacken verwies auf die bittere Notwendigkeit und verzweifelte Aktualität einer schonunglosen Kritik der Ideologie des Antiimperialismus in Zeiten seiner geistigen Reproduktion als linkes Allerlei.
Warum die dichotomisierende Ideologie des Antiimperialismus ähnlich der ihres Ziehkindes Antirassismus ein Problem darstellt, liegt in aller erster Linie in der Zweiteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte, Böse und Gute. Das Denkmuster einer durch die sogenannten Herrschenden böswillig zerstörten natürlichen und harmonischen Weltordnung findet seinen Ausdruck in dem Bejammern einer angeblichen Entwurzelung der Menschen, das dann, im Jargon des Antirassismus gesprochen, als (Flucht-)Ursache der Migrationsströme anzusehen sei: Es ist das tatsächliche Unverständnis bezüglich einer Herrschaftsform namens Kapitalismus, die sich durch die Totalität der Produktionsweise nichts als Selbstzweck ist. Man verrät so, daß man die wesentliche Qualität kapitalistischer Herrschaft nicht begreift. Denn nicht Menschen über Menschen, sondern ein Verhältnis der Produktion, das die Menschen als Mittel statt als Zweck begreift, ist Wurzel allen kapitalistischen Übels und damit allen menschlichen Elends. Zu bedenken ist dabei, daß das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis nicht einfach gedacht werden kann, wie man eine Sache selbst zu denken gedenkt. Nur die dialektische Vermittlung als Verhältnis läßt sich verdinglicht – in Formgestalt – denken. Die Bestimmungen dieser Formgestalt ergeben sich aber nicht aus sich selbst, sondern nur durch das Ergründen ihres gesellschaftlich vermittelten Zusammenhanges. Wo man dies verkennt, und die Sache selbst zu denken denkt, ideologisiert man die gesellschaftliche Vermittlung. Eine Identität der Dinge als im Verhältnis zueinander stehend, ist niemals die Identität der Dinge an sich, sondern immer im Verhältnis von an sich und für sich. Das ist die wichtigste Erkenntnis des historischen Materialismus und als solcher die konsequente geschichtliche Materialisierung der Hegelschen Identitätsdefinition der Identität von Identität und Nichtidentität und dessen absoluten Geist.
Im Aufruf des „Anti-Nato Komitee München“ kommt die materialistische Unkenntnis über die objektive Wirklichkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse so zum Ausdruck: „Während der letzten Jahre konzentrierte sich immer mehr ökonomische und politische Macht in den Händen der reichsten und mächtigsten Staaten und Konzerne. (...) Menschen, die im Weg stehen, werden mit zunehmender Durchkapitalisierung gewaltsam beiseite geschafft.“ Was laut Marx Voraussetzung einer Kritik von Staat und Kapital ist, nämlich die Menschen aus der feudalen Herr-Knecht-Ordnung in die doppelt freie Lohnarbeiterschaft der allgemein konkurrierenden gleichen Besitzer ihrer Ware Arbeitskraft zu reißen und als solche in der Konkurrenz der Einzelkapitalien die entscheidende Variable zur Niederringung auf dem Markt darzustellen, wird im Aufruf gegen die Münchner „Konferenz für Sicherheitspolitik“ zur Voraussetzung einer Verschwörungstheorie von der Allmächtigkeit einer Cliquenwirtschaft, die damit nichts als der Ausdruck einer Unfähigkeit davon ist, sich ein wirklich subjektives Problembewußtsein über das Wesen der eigenen individuellen objektiven Existenzweise anzueignen. Sie ist die besinnungslose Projektion des falschen Eigenen auf das halluzinierte Andere. Ein typisch bewegungslinker Vorgang, der von Wolfgang Pohrt einst so auf den Punkt gebracht wurde: „Die Sympathie für die Unterprivilegierten ist (...) nur ein billiger Vorwand, sich die Einsicht in das Ausmaß der Verwüstung zu ersparen, von der man zu allererst selbst betroffen ist.“(12)
Kapital ist nicht eine Personifikation des bösen Willens zur Macht, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses, welches zwar einen Klassencharakter trägt, aber durch die schier mystische Angelegenheit einer fetischistischen warenproduzierenden Welt-Gesellschaft den – nur unmittelbaren, keineswegs allgemeinen – Interessengegensatz zweier Klassen nicht etwa neutralisiert, sondern als Bedingung verdinglichter Abstraktion von konkreter Qualität unterschiedlichster menschlicher Arbeiten zur notwendig gesellschaftlich vermittelten Existenzbedingung von beidem versteinert: Das ganze Verhältnis als Kapitalverhältnis von Lohnarbeit und Kapital, Produktion und Reproduktion ist also das Falsche, der einzigste Antagonismus zur befreiten Gesellschaft, und nicht etwa nur ein interessegeleitetes Klassensubjekt oder gar eine Klasse von böswilligen Subjekten, deren einzigster Zweck darin bestünde, das zwangsweise anonyme Schöpfen von Mehrwert zur Unterdrückung einer anderen Klasse durchzuführen, um sich dergestalt materiellen Reichtum anzueignen. Alleiniger Ausgangspunkt radikaler Kritik hat die Kapitallogik der Selbstverwertung des Werts zu sein und nicht ihre zwingend notwendige Form. Die Unlogik abstrakter Herrschaft allein bedarf konkreter Kritik vom materialistischen Standpunkt der Versöhnung von Mensch und Natur aus, denn nur so läßt sich zumindest annähernd das Problem begrifflich an der sachlichen Wurzel packen, wie es Marx’ Kritik der politischen Ökonomie nicht von ungefähr zum Maßstab einzigst radikaler Kritik erhob. Jeglicher Versuch von Kritik, der dies nicht zum einzigst möglichen Ausgangspunkt nimmt, muß zur falschen werden. Insofern bezieht negative Dialektik praktisch einen Standpunkt, nur eben nicht theoretisch vorweg.(13) Denn der bodenlose Gedanke ist nichts als seine reflexionslose Selbstverleugnung und deshalb kann es ihn nicht geben, schon gar nicht als kritischen.

Der/Die Be/Weg/ung ist das Ziel

Das Perfide an den geplanten Anti-Nato-Massenprotesten von München besteht gerade darin, daß ein Protest gegen die Nato-Politik ohne die Anschläge vom 11. September im Großen und Ganzen ausgeblieben wäre. Das ist umso erschreckender, als dies die Abwesenheit eines linken Protestes gegen die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato explizit einschließt und erklären kann. Tatsächlich wird hier also mit den Protesten etwas instrumentalisiert, dessen Hintergrund sich mittels der Wahrnehmung der Proteste und den Aufrufen dazu erschliessen läßt: „Die Aktionen gegen die ‘Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik’ sind (...) eine notwendige Erweiterung der Konfrontationslinie der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung (...)“, mit der letztlich schon „eine gemeinsame radikale Praxis gefunden scheint“, schreiben Antifa (M) und BgR. Und das Münchener Bündnis meint: „Unser Ziel muß es heute sein, eine neue internationale Bewegung aufzubauen, die in der Lage ist, radikale Alternativen zur ökonomischen, politischen und sozialen Weltordnung aufzuzeigen.“
Unumwunden geben beide erwähnten Aufrufe also zu verstehen, daß der Protest nur als Instrumentarium zur eigenen identitären Selbstfindung dient, es also gar nicht um den Gegenstand des Protestes geht, sondern um die Konstitution von sich selbst als sogenannte Bewegung. Genau hier verrät linke Bewegungspolitik ihren wahren Charakter: Sie pflegt zu allem und jedem einschließlich zu sich selbst und ihrer Leidenschaft ein instrumentelles Verhältnis und verkommt so zur Tautologie, zum blanken Selbstzweck der Zwecklosigkeit. Im Mittelpunkt steht das aussichtslose Unterfangen der Begründung einer linken Massenbewegung – sie ist einzig und allein der Weg als Ziel. Verkannt wird dabei folgenschwer, daß sich neue soziale Bewegungen nicht nur durch das diffuse Unbehagen in der Gesellschaft konstituieren, sondern auch bedeutend in Abgrenzung zu einer institutionalisierten Linken – ob nun Partei, Verein, Gruppe oder Strömung ist dabei völlig unerheblich. Damit offenbart sich zugleich die Aussichtslosigkeit eines linken Unterfangens, nicht nur anerkannter Part einer irgendwie gearteten Bewegung zu werden, sondern diese darüberhinaus auch noch initiieren und in Struktur gießen zu wollen.
Unter der fortwährenden Beachtung dieser weitreichenden Erkenntnis findet Kritik einen weiteren Maßstab ihres Wahrheitsgehaltes: Wenn Hans Jürgen Krahl der Kritischen Theorie einst vorwarf, daß ihr Elend im Unvermögen bestünde, die Organisationsfrage zu stellen, so ist heute ein mal mehr festzustellen, daß genau dieses Unvermögen nur ein untrügliches Zeichen ihrer verzweifelten Aktualität sein kann.(14)
Es wird ein Geheimnis derer bleiben, die nach München mit der durchaus respektablen Absicht fahren wollten, sich nicht mit vor Ort propagiertem Antiamerikanismus, Antizionismus und Antisemitismus gemein zu machen, wie sie dies wohl zu bewerkstelligen dachten. Allein die unzähligen stolzen Besitzer der sogenannten Palitücher dürften ein solches Unterfangen ungemein erschweren, zumal in den meisten Fällen sich ja tatsächlich die Gesinnung im Tragen des Tuches vergegenständlicht. Daß solche sogenannten Events derlei Linke nicht nur wie Fliegen anzieht, sondern diese meistens schon tiefgehend in die Vorbereitungen solcher Proteste involviert sind, könnte man durchaus als Allgemeinplatz bezeichnen. Und so scheint eine wirkliche Abgrenzung von derlei linkem Klientel schier unmöglich zu sein.
Allein unmittelbare Anwesenheit der Polizei oder direkte staatliche Einschüchterungs- und Verbotsversuche verhelfen regelmäßig dem linken Gemeinschaftsgeist zum jeweils endgültigen Durchbruch von gegenseitiger Akzeptanz und Solidarität. Ein übriges tut dabei immer wieder der theoretische Hintergrund eines notorisch falschen Gewaltbegriffes, der in Kreisen linker Bewegungsdenker statt einer Kritik des objektiven Gewaltverhältnisses von Staat und Kapital nur eine Kritik der einzelnen Staatsgewalten („Bullenstaat“, „Für Demonstrationsfreiheit“, „Gegen Staatsterrorismus“, „Gegen Repression“ usf.) zu leisten vermag und so das bürgerliche Verständnis von Gewalt unfreiwillig affirmiert anstatt es als Kritik vorzusingen, wie Marx es einst zum Maßstab jeglicher Kritik erhob.
Die Affirmation pluralistischer Bewegungen bedeutet letztlich immer auch die Duldung von Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus. Denn die jeweilige Identifikation erfolgt ausschließlich über das Objekt des Protestes. Ausgegrenzt wird demzufolge nur, was beispielsweise als formal Rechts gilt, nicht aber, was inhaltlich unerträglich zu sein hätte.
Der radikalen Bewegungslinken liebstes Kind ist bekanntlich die Militanz. Sie aber ist letztlich nichts weiter als der Versuch, mittels eines militanten Protest-Habitus Distinktionsgewinne einzufahren. Somit ist Militanz nicht etwa Ausdruck von besonders radikaler Kritik der Verhältnisse, sondern vielmehr deren Ersatz. Man tappt damit quasi von einer Bewegungsfalle in die nächste. Denn unter dem Vorzeichen sogenannter militanter Praxis wird gerade nicht die Bewegung instrumentalisiert, sondern umgekehrt, die Bewegung instrumentalisiert die Militanz und wendet sie gegen sich selbst und ihre Protagonisten: So wird verständliche Triebumleitung, die einem Mittel wie Hooliganismus völlig wesengleich ist, durch eine soziale Bewegung zur repressiven Entsublimierung kanalisiert.
Weder die Instrumentalisierung einer Bewegung noch die Instrumentalisierung durch eine Bewegung ist der Zweck radikaler Kritik der Verhältnisse. Jener besteht vielmehr darin, eine kritische Aneignung von Bewußtsein zu befördern. Ein Bewußtsein, das an die Stelle der Besinnungslosigkeit gegenüber den Verhältnissen die Selbstreflexion zu setzen vermag und nicht die alleinige Projektion als Akt der Verdrängung eigenen Leidens.

Anmerkungen:

1 Mit Erschrecken mußte der Autor feststellen, daß dieser gemeinsame Aufruf von Antifa (M) und BgR Leipzig im weiteren noch Unterstützung seitens der Antifaschistischen Aktion Berlin und von ATAG (Autonome Thüringer Antifa-Gruppen) im dokumentierten Nachdruck in der bewegungslinken Zeitschrift Phase 2erfuhr – in einem Blatt mit bürgerlichem Pluralismus-Anspruch der Meinungsvielfalt, hinter der sich die Macher mangels abwesender wirklicher Positionierung verstecken: da man allgemein davon ausgehen kann, daß das durchschnittliche analytische Niveau in Bewegungsblättern dort endet, wo man eigentlich anzufängen hätte, tritt am Beispiel dieses Aufrufs allerdings deutlich zutage, wie vorsichtig man mit einer vorschnellen Verharmlosung des Inhalts solcher Pamphlete zu sein hat. Es zeigt sich, daß die Unbedenklichkeitsbescheinigung auf Grund inhaltlicher Harmlosigkeit sich durchaus als schwerer Fehler erweisen kann. Das, was in solchen Aufrufen als Pseudo-Analyse der Form nach erscheint, weil dort Analyse mit dem bloßen Nacherzählen von Geschehnissen und Umschreiben von bekannten Zeitungsmeldungen verwechselt wird, hat einen bedenklichen Inhalt. Dieser besteht in der fortwährenden Reproduktion formaler Begriffe, die einfach an die Stelle gesetzt werden, wo vormals die aus den bürgerlichen Medien zu finden waren. So wird zum Beispiel aus einem „humanitären Einsatz“ ein „Kriegseinsatz“ oder „imperialistische Machtpolitik“ und fertig soll die Kritik sein. Der innere dialektische Zusammenhang von Mittel und Zweck oder der von der Notwendigkeit der Sache nach interessiert so gar nicht erst.
2 Einen solchen Vorwurf muß man insbesondere auch dem populären Post-Operaisten Antonio Negri und seiner ihm auf den Leim gehenden stetig wachsenden Anhängerschar machen. In der gesellschaftkritischen Zumutung namens Subtropen (Ausgabe 08/Dezember 2001) zum Beispiel, einer monatlich der Wochenzeitung Jungle World beigelegten bodenlosen Frechheit, in der nichts weiter als der geistige Müll aus vergangenen Beute-Tagen recycelt wird, erklärt Negri im Interview folgendes: Seiner Meinung nach können „momentan drei Krisen“ unterschieden werden, die „multiple Krisen“ seien. „Diese Krisen“, so Negri weiter, „berühren unmittelbar den Charakter der imperialen Souveränität. Die erste Krise betrifft das militärische Moment. Die Krise besteht darin, dass die enorme militärische Macht der USA sich von Selbstmordattentaten herausgefordert sieht. Die Souveränität, die sich bislang durch die Verfügungsgewalt über Leben und Tod definierte, bis zum Paroxysmus der nuklearen Vernichtung, existiert so nicht mehr. Tausende könnten sich entscheiden, diese Macht anzugreifen, und könnten freiwillig in den Tod gehen. Es handelt sich hier um einen Widerspruch, der, wie auch immer, nach einer Lösung verlangt. Die zweite Krise betrifft das Geld. Souveränität bedeutet auch Macht über monetäre Prozesse, die Macht über das Geld. Die große Krise geht auf die neoliberale Ideologie zurück, auf die Lex mercatoria, also darauf, dass der private Sektor in die Lage versetzt wurde, monetäre Krisen zu produzieren. Die monetäre Regulation geht nicht mehr über den Staat, sie läuft zu 80 Prozent direkt über die Privatwirtschaft. Jetzt, nach diesen Attentaten, sieht man die Probleme, etwa bei der Garantie der Assekuranzen. Die dritte Krise ist die der Kommunikation. Die Krise der Souveränität ist verbunden mit der Zirkulation von Sinn, und dabei mit einem atemberaubenden Zerfasern der Kommunikation. Das ist eine absolut dramatische Entwicklung. Die Krise der Kommunikation ist eine Katastrophe für die Souveränität. In der Situation nach dem 11. September zerfaserte die Kommunikation derart, dass die Krise nicht mehr beherrschbar ist.“
Das Problem einer solchen Negrischen Denkbewegung als Methode der Deskription ist grundsätzlich, daß sie formal ihren bewußt nicht vorhandenen dialektischen Tiefgang im Vokabular verschleiert. Wer diese Hürde erst einmal genommen hat, sich also darauf einläßt, die merkwürdigen tautologischen Begriffsdeutungen wie zum Beispiel „Souveränität bedeutet auch Macht“, „imperiale Souveränität“, „militärisches Moment“, „Macht über das Geld“, „Zirkulation von Sinn“ oder „Zerfasern der Kommunikation“ gelten zu lassen, der findet Gefallen an dieser Form von Dichtung, wie es Georg Fülberth so treffend benannte, die dann Begriffe wie „Empire“ oder „immaterielle Arbeit“ parat hält. Mit der Kritik der Wirklichkeit aber hat das Ganze Begriffswirrwarr eines Negri nur bedingt zu tun. Ähnlich wie dem cineastischen Philosophen Slavoj Zizek, der sich vorgenommen hat, das cartesianische Subjekt des Idealismus „wieder zur Geltung zu bringen“ (vgl. sein Buch „Die Tücke des Subjekts“), um darin das identische Moment von Sein und Denken für die Philosophie wieder zu entdecken, ist letztlich Negri erst die Erzeugung einer Kommunikationskrise durch bewußte halbvolle bzw. halbleere effekthaschende Begriffshülsen zu unterstellen.
Die Wirklichkeit wird nicht etwa darstellend kritisiert, sondern ähnlich wie in der bürgerlichen Wissenschaft zerissen, zerlegt und so ideologisiert. Im Mittelpunkt soll im Kantischen Sinne die Sache selbst stehen, um dann großkotzig darzulegen, daß sie doch gar nicht die Sache selbst sei. Anstatt also die Beziehung der Form-alen Sachen zueinander, ihre gegenseitige Vermitteltheit und Durchdringung in den Mittelpunkt einer Kritik des Gegenstandes zu stellen, wird die Sache selbst zum Gegenstand einer so auch noch zu allem Überfluß für transzendental gehaltenen Kritik gemacht. Was im Hegelschen Sinne einer Formbestimmung – der geistigen Durchdringung – nicht mit der Sache selbst identisch ist, und deshalb als durchweg dialektische Beziehung zu begreifen ist, welche Marx bekanntlich materialistisch erdete, in dem er sie gesellschaftlich-historisch faßte, verkommt bei Leuten wie Negri und Zizek zum Denkverbot, von Gesellschaft als einer durchweg vermittelten überhaupt auszugehen: Die dialektische Beziehung als Totalität soll nicht sein, weil sie nicht sein darf. Die Form, die für den Inhalt von zum Beispiel Geld, Militär und Kommunikation gehalten wird, wird von ihrer inneren Beziehung zum Inhalt abgeschnitten. Gesellschaftliche Zusammenhänge als vermittelte verkommen so zu subjektlosen Strukturproblemen auf einer zusammenhanglosen Mikroebene: Unterm Mikroskop aber verschwinden die wahren Zusammenhänge und können, wie Deleuze/Guattari es nennen, nur noch „Fluchtlinien“ konstruiert werden.
3 So sagte Horkheimer 1970 vor Studenten: „Es ist das, was Marx schließlich von der richtigen Gesellschaft erwartete, wahrscheinlich schon deshalb falsch, weil – und dieser Satz ist wichtig für die Kritische Theorie – Freiheit und Gerechtigkeit ebenso verbunden sind, wie sie Gegensätze sind; je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit. Wenn es gerecht zugehen soll, muß man den Menschen sehr viele Dinge verbieten, vor allem, sich nicht über den anderen hinaufzuschwingen. Aber je mehr Freiheit es gibt, um so mehr wird derjenige, der seine Kräfte entfaltet und gescheiter ist als der andere, den anderen schließlich zu unterjochen fähig sein, umso weniger Gerechtigkeit jedoch wird es dann geben.“ (vgl. ders., Kritische Theorie gestern und heute, in: ders., Gesellschaft im Übergang, Frankfurt am Main 1981, S. 165)
4 Agnoli schreibt zur Charakterisierung der Transformation der Demokratie: „Sie ist sowohl Modernisierung des Staates im Sinne einer Angleichung an neue Formen des kollektiven Lebens (an die sogenannte Massengesellschaft), als auch Verbesserung im Sinne der Modernisierung von Herrschaftsmitteln.“ in: Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.24
5 Wärmstens empfohlen sei in diesem Zusammenhang schon vorab die im Frühjahr beim Ca Ira-Verlag erscheinende Aufsatzsammlung „Transformation des Postfaschismus“, hg. von Stephan Grigat.
6 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.16
7 ebd. S.20
8 Empfohlen sei damit einmal mehr Horkheimers grundlegender Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“, in denen er die oben erwähnten originären Gedanken ausführte.
9 vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.218
10 Neben Foucaults bekannter Einlassung, daß ihm die zeitigere Kenntnis über die Kritische Theorie viel Arbeit erspart hätte, sei darauf verwiesen, daß Foucault erst in „Gebrauch der Lüste“ 1984 (Sexualität und Wahrheit 2) das historische Subjekt überhaupt zum Leben erweckt. So konstatiert er ebenda „eine theoretische Verschiebung“, die sich ihm „aufgedrängt“ hätte, „um das zu analysieren, was man oft als den Fortschritt der Erkenntnisse bezeichnet: (...) Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muß.“ (vgl. Michel Foucault, Modifizierungen, in: ders., Gebrauch der Lüste, Frankfurt/Main 1989, S.9-21.)
Bei Louis Althusser wird das Marxsche Werk strukturalisiert, als eine „ideologische Periode“ und eine „wissenschaftliche“ systematisch gefaßt (vgl. Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt/Main, 1968).
Der Autor hält sich bei der Kritik am Strukturalismus unter anderem an Jean Amery, der 1973 bezüglich des Strukturalismus schrieb: “Das System ist alles. Der Mensch ist nichts. Die Wirklichkeit ist – wenig. Dieses System oder dieser ‘Diskurs’ ist nicht historisch erklärbar, man kann ihn nur feststellen. Es hat die verschiedenartigsten spezifischen Züge: bei Levi-Strauss sind es die strukturalen Relationen von Verwandtschaft und Mythos. Bei Lacan ist es die Struktur der unbewußten Rede, bei Althusser das ‘System’ der Ökonomie, bei Foucault seine ‘episteme’. Der gemeinsame Nenner, auf den wir schließlich kommen, ist die totale Formalisierung unseres Wissens, einfacher gesagt: der Vorrang der Form vor dem Inhalt.“ (vgl. Jean Amery, Wider den Strukturalismus, in: ders., Weiterleben – aber wie?, Stuttgart 1982, S.115)
11 Im übrigen geht der Autor davon aus, daß der sogenannte Poststrukturalismus nicht die Überwindung des Strukturalismus ist, wie seine Protagonisten gern behaupten, sondern vielmehr seine Verdoppelung als Problem: von der gesellschaftlichen Makro- auf die Mikroebene.
12 Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt am Main 1976, S.23
13 Adorno, der seine Dialektik als die nur einzigst mögliche bezeichnet, und mit dieser somit nicht etwa nur einen Platz an der Seite von Hegel oder Marx beansprucht, sondern generell den Platz von beiden, benannte seine negative Dialektik so: „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidenität. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt.“ (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1975, S.17)
14 vgl. Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S.254; siehe ebd. auch seinen aufschlußreichen „Diskussionsbeitrag auf dem Berliner Vietnam-Kongress“ (S.145 bis 148), der sich mit der Rolle der Nato im Gefolge des Vietnam-Krieges beschäftigt. Krahl beklagte dort, was man fast eins zu eins in die gegenwärtigen Anti-Nato-Aufrufe übernehmen könnte: „Die Nato soll umfunktioniert werden in den Kampf gegen die sozialrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt. Die europäischen Nato-Länder sollen die Funktion einer jederzeit einesetzbaren militärischen Reservearmee zur blutigen Zerschlagung des sozialrevolutionären Befreiumgskampfes erfüllen.“ Diese Zitate lesen sich wie ein Textbaustein antiimperialistischer Ideologie. Haben sie damals in den 60ern ihre emanzipatorische Berechtigung aus dem Umstand gerechtfertigter Hoffnung auf Befreiung bezogen, so ist ihre heutige fast wortwörtliche geistige Reproduktion – abzüglich zwar der sozialrevolutiönären Adjektivierung, nicht aber deren Substanz – in zahlreichen Aufrufen unter den Bedingungen des endgültigen Scheiterns aller Blütenträume sogenannter nationaler Befreiung als ein qualitatives Umschlagen zu brandmarken: Das durchaus emanzipatorische Koordinatensystem von einst ist heute als Wiederkehr des nur Verdrängten nichts weiter als eine reaktionäre Tragödie, die bekämpft gehört. Dieser Wiederholungszwang, der in einer unbewältigten antiimperialistischen Ideologie begründet ist, ist endgültig vom Teil der Lösung zum Teil des Problems mutiert. Als vergegenständlichtes Bewußtsein ist er der unentschuldbare Fetisch der gefährlich dummen Kerls – verdinglichtes Trauma objektiver Verhältnisse, das statt als reflexive psychoanalytische Praxis von Übertragung und Rückübertragung auf der Couch bewältigt zu werden, lieber den direkten Weg ins Gottesnest des islamistischen Wahnsinns suchen läßt, um dort mit den heiligen Kriegern gemeinschaftlich-romantisch zu kuscheln und einen Fanon-Lesekreis seines Schinkens von den Verdammten dieser Erde unter der Fragestellung, ob eine andere Welt nun möglich ist oder nicht, zu bilden.


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last modified: 28.3.2007