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An der Tränke der Sachzwangoase.

Die Tageszeitung junge Welt verliert wider Erwarten weniger Leser, als zu vermuten stand. Das ist hart aber gerecht.
Meint Ralf.

„Nicht zuletzt möchte man der Zeitung regelmäßig dann neue Leser wünschen, wenn sich die Zone in Leserbriefen mal wieder zu Wort meldet. Das sind aber Peanuts.“ (Boris Gröndahl in: Die Beute Nr. 3/1996)
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Statistisch dürften sie kaum ins Gewicht fallen, die sich da bereits oder in naher Zukunft in die Kolonnen von Taxifahrern, Saisonarbeitern, Gastro-Hilfen, neu-immatrikulierten Studis oder ausgeruhten Arbeitslosen einreihen – nur ihre jüngste Vergangenheit weist da die Besonderheit eines linken Alltags für jene handvoll Leute auf, die einstmals als Redakteure bei der jungen Welt zugange waren.
„Ein netter Streit unter Linken“(1) ging dem voraus, was die „Kasperle-Gruppe“(2) nun in guter Tradition linksradikaler Biografien ereilt, wenn der Weg in die Institutionen bzw. Parteien dank ideologischer Sattelfestigkeit permanent an der Tränke der kapitalistischen Sachzwangoase vorbeiführt. Prompt spekulierte der Tagesspiegel, ob denn derlei Geschöpfe nicht etwa „von einem anderen Planeten“ stammten.(3) Und tatsächlich läßt die im Nachgang offenbarte Ahnungslosigkeit über die wahren Besitzverhältnisse bei der Tageszeitung junge Welt tiefer blicken, als es den geschaßten Redakteuren der jW zur Erdenbürgerehre gereichen könnte: der Laden flog auf und sie – pardauz – raus.
Sicherlich hatte man so nicht gewettet, als im April ‘95 nach der Konkursanmeldung ein Weiter-Start gewagt wurde. Dabei hatte schon der damals scheidende Chefredakteur Oliver Tolmein und mit ihm vier weitere Redakteure(4) in einer „notwendigen Erklärung“(5) einiges an den Interna kritisiert, was immerhin bis in den Mai diesen Jahres gären konnte.(6) Schlimm daran ist im besonderen, daß dies auf Kosten feministischer Standpunkte funktionierte, der status quo rundherum aber auf dem verbalen Bekenntnis zum „linksradikalen Pluralismus“ ein Dasein fristen ließ.(7)
Erinnert man sich der Werbefloskel von anno ‘94, die da lautete: „dogmatisch – aber mit leichter Hand“, ist es schon sehr erstaunlich, inwieweit dieses anfängliche Credo ins Hintertreffen geraten zu sein scheint. So ist es auch erklärlich, wie beispielsweise das Leipziger Autonomen-Blättl Klarofix voller Totalitarismusindoktrination gegen ein „ideologieverbohrtes Forum“ wettert, ohne eine Ahnung davon zu entwickeln, was damit eigentlich gemeint sein soll.(8)
Die inzwischen zum linken Allgemeinplatz gereifte Dämlichkeit, daß das Dogma nur den „Stalinismus“ implizieren kann, verschaffte nicht zuletzt der Redaktionsmehrheit der jW in der bürgerlichen Presse einen Bonus mutmaßlicher Lernwilligkeit á la Querdenkerquark. Interessanterweise haben das die verbliebenen jW-Mitarbeiter in einer Erklärung realistischer betrachtet, als es uns eigentlich lieb sein kann.(9) Die taz stellte demgemäß den ausgebrochenen Konflikt in einer paßgerechten nonsensualen Verkürzung dar.(10) Im besonderen ungewollt sekundiert vom letzten jW Feuilleton-Chef Ralf Schröder, der es ausschließlich für „entscheidend“ hält, „daß jemand eine gewitzte Kritik gegen die Verwaltung der herrschenden Zustände aufschreiben kann“.(11) Ja, wenn das nicht taz-kompatibel hoch zehn ist, ist mir die „alternative Tageszeitung“ bisher immer verquer untergekommen. Sicherlich war es dem verantwortlichen taz-Redakteur Oliver Gehrs eine Genugtuung seiner Rechthaberei, die jungle World, das Blatt der Redaktionsmehrheit, als „Guerilla-Organ“ zu lobhudeln.(12) (Es darf spekuliert werden, wie das bei den jungle World-Leuten aufgenommen wurde.)
Eine besonders tiefe Wunde hinterließ bei alljenen, die glaubten, für eine Leserschaft zu schreiben, die mit dem Muff von tausend Jahren tatsächlich gebrochen hätte, das Outing vieler jW-Leser. Jürgen Elsässer blieb daraufhin nur die Feststellung, „für solche Verrückten“ nicht mehr schreiben zu wollen.(13) Und dabei hat er gar noch Glück, daß sich die Zonis im Verhältnis zu ihrem prozentualen Leseranteil (ca. 75 Prozent) merklich zurückhielten – das Gros der Leserbriefe kam und kommt paradoxerweise aus dem Westen.
Tatsächlich zeigt sich in den Solidaritätsbekundungen für die Gang des Geschäftsführers, wie richtig doch der Koschmieder-Busenfreund Holger Becker liegt, wenn er den eigentlichen Platz der jW als den „Platz, den eine nicht existierende Kommunistische Partei in diesem Land hätte“, bezeichnet.(14) Allen Unkenrufen zum Trotz verlor die jW unter dem Viergestirn Schulz/Pirker/Becker/Koschmieder weniger Abonnenten, als fast alle Symphatisanten der Redaktionsmehrheit – und sie selbst natürlich auch – mutmaßten.
Das, was Koschmieder „Modemätzchen“ schimpft, macht ein Großteil der Leser personifiziert an der Redaktionsmehrheit fest. So wettert Detlef aus Hönow: „Die sind strohdumm und haben eigentlich mit dem, was traditionell ‘links’ genannt wird, nichts zu tun“.(15)
Wer nach dem Grund dafür fragt, warum denn die jW nun mit aller Wahrscheinlichkeit doch nicht eingeht und der linkstümelnde Bodensatz um ein vielfaches sogar das ehemalige Werbegeschenk der Zeitung, die „linke Tasse“, unter sich begräbt, wird feststellen, daß des Pudels Kern nicht etwa die hedonistische Party im gleichnamigen Hamburger Club ist, sondern die Autosuggestion des per se linksseienden „spontanen antikapitalistischen Protests“.(16)
In diesem Sinne hat die Crew der jungle World den eigenen Maßstab auf das einzig erträgliche Verhältnis reduziert: „nicht auf Mehrheiten spekulieren“ und „die Nähe (...) zum Volk als unerträglich“ empfinden.(17)
Auf der Veranstaltung anfang Juli in Leipzig, wo es um Sinn oder Unsinn einer radikal linken Wochenzeitung ging, beschwor Jürgen Elsässer seine konzeptionellen Vorstellungen. Neben einem analytischen Komplex sollen „weiche Themen hart erarbeitet“ das Profil des Blattes bestimmen. Wie das funktionieren soll, ist so offen wie der Ausgang des Hornberger Schießens, denn die Zwangssolidarisierung gegen Koschmieder ließ einen völlig heterogenen Haufen auf dem Reißbrett einen Entwurf eines Wochenblattes skizzieren, der nicht nur den eigenen Ansprüchen genügen, sondern – verflixt und zugenäht – sich auch verkaufen muß.
(Der Abo-Coupon für die jungle World befindet sich hier im Heft. Kopieren, ausfüllen, losschicken – nur das ist sicher und auf keinem Fall falsch.)

Die Geistesergüsse stammen vom designierten jetzigen Chefredakteur der jW, Holger Becker, und sind jeden Tag auf der Leserbriefseite zu finden. Steife Hüte und viel Gänse, in Ascot fehlt ein Herr mit Sense

Falls der Truck im Sand vergraben, sollten Fahrer Schaufeln haben

Hühner auf dem Fußballrasen wollen nur in Ruhe grasen

Spiegelbrillen sind ein Zeichen, das die grauen Zellen weichen

Rohe Kraft und kein Komfort, dumm ist der Draisinensport

Wird es wärmer unterm Hut, ein Himbeereis oft Wunder tut

Blitz gefolgt von Donnerknall bringt zuweilen Stromausfall

Gegen Schnupfen, harten Fall und Gicht helfen Gummistiefel nicht

Dämpfer vorm Trompetenrohr kommen uns sympatisch vor

Newmanns Paul beim Robbenküssen will vom Schmerz der Welt nichts wissen

Große Blasen aus gekernter Seife stören Polizisten auf der Streife

Bringt der Alltag Einerlei, fängt sich der Fischer Hammerhai

An der Berliner Volksbühne: Norden, Süden, Osten, Westen - Castorfs Klopse sind die besten

Niemals wieder Lärm von Sting, der Rest reimt sich auf B.B. King

Aachens Dom auf dem Zylinder - um sich greift der Wahn der Rinder

Hongkongs Müll gehört ab jetzt Chinesen wie auch mancher Reisstrohbesen

Dazu einen Text zu schreiben, läßt der Autor lieber bleiben

Bilden auf dem Strand sich Pfützen, kann ein Strandkorb dich beschützen

Wo das wilde Wasser wirrt, fährt der Paddler angeschirrt

Auch den flinksten Himmelsstürmer fressen irgendwann die Würmer

Schlimmer als im Rad die Beule ist des Drachen Mundesfäule

Lieber als der Stern der NATO ist uns Staubsaugers Vibrato

Dank Alete aus der Dose reicht’s für diese Sportlerpose


Fussnoten:
(1)
in: Süddeutsche Zeitung, 24./25. Mai 1997
(2)
so schrieb die jW-Leserin Petra per e-mail: „Es reicht! Macht Eure Kasperle-Gruppe woanders auf! Schluß mit der Besetzung der jW-Redaktion!“ – vergleiche junge Welt vom 6. Juni 1997
(3)
Ausgabe vom 24./25. Mai 1997
(4)
Klaus Dreyer (damals Inland-Redakteur), Miriam Lang (damals Reportage), Charlotte Öder (Inland) und Anette Weber (Frauen)
(5)
veröffentlicht beispielsweise in: ak 379, 1. Juni 1995
(6)
so hieß es dort u.a.: „Neu-Begründung von Tabubrüchen und ML-Nostalgie finden wir schrecklich ermüdend. (...) Dokumentiert aber auf jeden Fall, daß der Bedarf nach einer ‘täglich linken radikalen Tageszeitung’ nicht so dringend war, wie wir gewünscht haben. (...) Stattdessen hat sich eine (größer werdende) Gruppe für die Weiterführung um jeden Preis ausgesprochen. (...) Für uns stand dagegen im Vordergrund, was kann die junge Welt weiterhin leisten? (...) Grundlegende Differenzen innerhalb der Redaktion deuteten sich zwar über Monate an, wurden aber nicht ausgetragen (...) Die Frage ist aber wirklich, ob es dann richtig ist zu behaupten, ‘die Linke’ brauche die junge Welt. Wir hatten eher den Eindruck, die Zeitung wurde als kleines Extra, das man und frau sich nach Bedarf gönnt, genutzt. (...) An die Stelle des Angebots tritt der Solidarisierungsdruck. Und das kann einer Zeitung nicht nützen, denn die Linke, die Szene, das Publikum (wir alle) ist nicht gnädig, leidenschaftlich selbstkritisch und großzügig, sondern im allgemeinen erstmal schnell beleidigt, empfindlich und gelegentlich kleinkariert. (...) An die Stelle kritischer Solidarität droht opportunistische Ausgewogenheit zu treten. (...) Ein Engagement für das Weiterexistieren der jungen Welt kann deswegen unseres Erachtens nicht losgelöst sein von einer politischen Auseinandersetzung mit Konzeption und Ausgestaltung des Blattes: Und das ist zur Zeit eher eine Aufforderung an die LeserInnen als an die MacherInnen. Nur so kann nämlich geklärt werden, wofür wir eine linke Tageszeitung brauchen (wollen) - und erst dann kann sich herausstellen, ob die jW das leisten kann und will.“
(7)
vergleiche dazu die Kritik in: Antifa-Info-Blatt Nr. 39/1997. Dort heißt es auf die geschaßte Redaktion bezogen: „Während sie sich heute auf linke Pluralität beruft, was löblich ist, war sie es, die die Frauenseite und Frauenredakteurin abschaffte“.
(8)
in Ausgabe Juni 1997. Dort heißt es: „Stets bedroht von Konkurs u.ä. hielten die Redakteure und Mitarbeiter durch Selbstausbeutung das Blatt über Wasser. Sie machten aus der jungen Welt ein nicht ideologieverbohrtes, jammerndes oder oberflächliches, sondern ein kritisches und irgendwie Jugend-entsprechendes Forum für linke Politik.“
(9)
in der jW vom 24./25. Mai 1997 schreiben „die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“: „Besser ist die Story: Frustierte DKPisten und ruinierte DDR-Kommunisten putschen mit stalinistischen Methoden gegen eine linksliberale, pluralistische Redaktion. Das will die Bürgerjournaille hören!“
(10)
Die taz vom 22. Mai 1997: „...plädierte Behnken für einen Bruch mit der Tradition als FDJ-Blatt, während Koschmieder das Bekenntnis zur „antikapitalistischen Zeitung“ anmahnte.
(11)
in: jungle World Nr. 5, Juni 1997
(12)
vergleiche taz vom 27. Mai 1997
(13)
vergleiche taz vom 25. Juni 1997
(14)
a.a.O.
(15)
Leserbrief in jW vom 30. Mai 1997
(16)
so meint es beispielsweise Holger Becker in einem Interview mit der ak (Nr. 404, 3. Juli 1997). Dort sagt er: „Aber es gibt in einigen Berliner Stadtbezirken bis zu 35 Prozent PDS-Wähler. Das sind Leute, die so ihren spontanen antikapitalistischen Protest ausdrücken, ihren Protest gegen die Verhältnisse in diesem Lande. Für mich sind sie potentielle Ansprechpartner.“
(17)
vergleiche jungle World Nr. 6, Juli 1997

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last modified: 28.3.2007