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Aktuelles Heft

INHALT #235

Titelbild
Editorial
• das erste: Hannah Arendt revis(it)ed
• inside out: 25YRS Conne Island Soli-Aktion
• inside out: Stellungnahme des Conne Islands zum Artikel der Bild-Zeitung vom 20.09.16 und den Vorwürfen des CDU Stadtrats Ansbert Maciejewski
Torch, Retrogott & Hulk Hodn, KET // 25YRS HipHop
Diskussionsveranstaltung zur Black Lives Matter Bewegung

RED FANG
Breakdown of Sanity
Nasty, Aversions Crown, Malevolence, Vitja, Sand und Varials
Digitalism
All Diese Gewalt
Jacques Palminger + 440Hz Trio
WORD! cypher / End Of The Weak Leipzig (Open-Mic-Freestyle-Session)
Psyche & Rational Youth // 25YRS Conne Island
25YRS Oi! - 4 Promille
25YRS Rumsei: Tortoise
Russian Circles + Helen Money
• position: »Die denkbar größte Entartung der Gewalt« 1
Ein Streit um den richtigen Ansatz
• doku: Was tun gegen rechts?
• leserInnenbrief: Seit Ihr eigentlich Geistig behindert?
• das letzte: Worauf Bettina Kudla anschlägt

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»Die denkbar größte Entartung der Gewalt« 1

Ermittlungsverfahren gegen Polizist/innen in Sachsen

Als Valentin Lippmann (B90/Grüne), innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, Ende Juni die Antwort des Sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow (CDU) auf seine kleine parlamentarische Anfrage in einer Pressemeldung interpretierte, bließ ihm sogleich Gegenwind verschiedener Staatsvertreter entgegen. Lippmann hatte anhand der ihm übermittelten Daten zu Ermittlungsverfahren gegen sächsische Polizist/innen festgestellt, dass Strafermittlungen gegen Polizeibeamt/innen »überdurchschnittlich oft eingestellt und höchst selten angeklagt« werden. Denn von den insgesamt 767 Strafverfahren, die zwischen Anfang 2015 und Mai 2016 gegen sächsische Polizist/innen eingeleitet worden sind, ist nur in sechs Fällen Anklage erhoben worden und in fünf Fällen ein Strafbefehl ergangen. Angesichts dessen stellte Lippmann skeptisch die Frage, »ob Polizeibedienstete einen Bonus bei der Strafverfolgung haben oder ob ihnen eher geglaubt wird als anderen Zeugen.«


Tatsächlich liegt dieser Verdacht nahe, besonders wenn man die Tatvorwürfe »Körperverletzung im Amt« (274) und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« (2014: 1102) einmal gegenüber stellt: so führten Widerstandshandlungen in 21% der Fälle zur Anklage und in 17,6% zur Verurteilung, wohingegen Ermittlungen wegen Körperverletzung durch Polizist/innen nur in fünf Fällen überhaupt zur Anklage gelangten (1,8%, davon ein Freispruch) und in drei Fällen ein »Strafbefehlsantrag ohne Freiheitsstrafe« (1,1%)(2) erging. Doch kontrastiert man das statistische Ergebnis, dass bei der Strafermittlung angezeigter Gewalt die Anklageerhebung gegen zivile Bürger gut sieben mal wahrscheinlicher als gegen Polizist/innen ist, warnt Torsten Scheller vor der Herstellung von Zusammenhängen, »die nicht passen.« Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-nahen Gewerkschaft der Polizei in Sachsen verweist in diesem Zusammenhang auf die »Unabhängigkeit der Justiz« und geht trotz der verschwindend geringen Anklagequote von Polizist/innen davon aus, dass dies lediglich die Realität widerspiegele. Auch für Schellers Kollegen Uwe Petermann, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Sachsen-Anhalt, zeigt sich in der geringen Anzahl der Verfahren, dass deutsche Polizist/innen »in ihrer täglichen Arbeit sehr sauber, getreu der Rechtslage« handeln und »nur in ganz wenigen Fällen [...] möglicherweise die Rechtsnorm verletzen«. Schließlich genieße die deutsche Polizei im internationalen Vergleich auch »großes Vertrauen« unter den Bürger/innen. Doch in Bezug auf fast zwei Drittel der Ermittlungsverfahren, welche die Straftatbestände Körperverletzung oder Strafvereitelung im Amt, Nötigung oder Beleidigung betreffen, kann von Vertrauen keine Rede sein.


Das Vertrauen in die Polizei sah Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) hingegen durch die »billige Stimmungsmache« Lippmanns gefährdet und sprach sogleich von einem »unerhörten Vorwurf, für den es keinerlei Beweise gibt«, der aber »unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung mit einer unabhängigen Rechtsprechung in Frage« stelle. Zugleich verwies er auf die in seinem Ministerium eingerichtete Beschwerdestelle der Polizei, die bereits vor ihrer Eröffnung wegen fehlender Unabhängigkeit von Linkspartei, Grünen und der Gewerkschaft der Polizei kritisiert wurde.


Auch Oliver Möller, stellvertretender Sprecher der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft, sah das mit dem von Lippmann vermuteten Bonus bei der Strafverfolgung »eher gegenteilig.« Schließlich gäbe es bei allen sächsischen Staatsanwaltschaften »spezielle Dezernate, [...] die sich mit der Strafbarkeit von Amtsträgern und insbesondere auch Polizeibeamten beschäftigen.« Den staatsanwaltschaftlichen Vertrauensvorschuss für Polizist/innen bestätigte er gegenüber den Dresdner Neuesten Nachrichten dann doch unbeabsichtigt: Er könne angesichts der verschwindend geringen Anzahl von Anklagen »nur vermuten, dass Beschuldigte die Polizisten mit Gegenanzeigen bedenken, um sich vor Gericht eine vermeintlich bessere Ausgangssituation zu verschaffen«.


Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der Freien Universität Berlin, verzichtet hingegen auf solche Vermutungen und forscht stattdessen seit Jahren zu diesem Thema. Seine Ergebnisse legen eher Gegenteiliges nahe: Opfer polizeilicher Gewalt müssen im Fall einer Anzeige oft mit einer Gegenanzeige wegen »Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte«, »Beleidigung« oder »falscher Verdächtigung« rechnen. Das führt dazu, dass viele Fälle von »Körperverletzung im Amt« und anderen polizeilichen Straftaten überhaupt nicht angezeigt werden. Rechtsanwält/innen raten ihren Mandant/innen häufig aufgrund möglicher polizeilicher Gegenanzeigen davon ab, zugleich gibt es kaum Anzeigen aus dem eigenen Kolleg/innenkreis heraus(3).


Hinzu tritt der Umstand, dass gerade in unübersichtlichen Situationen mit vermehrtem »Einsatz von Zwangsmitteln« wie Demonstrationen oder Fußballspielen die Identifikation der eingesetzten Beamt/innen für Betroffene von Polizeigewalt nahezu unmöglich ist. Lippmann fordert deshalb eine individuelle Kennzeichnungspflicht für die eingesetzten Polizist/innen, wie sie in anderen Bundesländern bereits existiert. Seinem Ansinnen, damit »das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung in den Rechtsstaat« zu stärken, mag dies nützlich sein. Doch der von ihm selbst angeführte Fall eines 16-jährigen Chemnitzer Schülers, der während eines Cegida-Gegenprotests bei der Identitätsfeststellung (Tatvorwurf: »Vermummung«) ohne Gegenwehr von einem Polizisten unvermittelt in den Bauch geschlagen wurde und anschließend zu Boden ging, zeigt selbst die Grenzen dieser staatszentrierten Bürgerrechtspolitik auf. Denn hier war das Landgericht im Revisionsverfahren der Darstellung des angeklagten Beamten gefolgt, der lediglich eine in der Schulung erlernte »Schocktechnik« angewendet haben will, um den ihn an Körpergröße überragenden Jugendlichen während des Abführens weiter in eine gebückte Haltung zu zwingen.(4) Wo das als Recht gilt, helfen auch die Kennzeichnung und eine unabhängige Beschwerdestelle nicht.


In seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt hatte Walter Benjamin bereits 1921 auf den Doppelcharakter der Polizei im bürgerlichen Staat hingewiesen. In Form einer »gespenstischen Vermischung« sei bei der Polizei die »Trennung von rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt aufgehoben«.(5) Darum markiere das »Recht der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann.«


Auch wenn der Staat somit ein Eigeninteresse daran hat, die Agent/innen seines Gewaltmonopols vorm Zugriff der Gesellschaft zu schützen, steht dies dennoch nicht mit der von Ulbig hervorgehobenen Unabhängigkeit der Justiz in Widerspruch. Eine formal unabhängige Rechtsprechung im Rahmen arbeitsteiliger Herrschaftsorganisation (»Gewaltenteilung«) dürfte jenseits informeller Elitennetzwerke in der Regel gewährleistet sein, obwohl sie funktional von polizeilichen Ermittlungsergebnissen abhängig ist. Denn die zuständige Staatsanwaltschaft fällt ihr Urteil auf Grundlage jener Ergebnisse, die ihr praktisch von den polizeilichen Ermittler/innen selbst übermittelt werden. Nach Singelnsteins Doktorvater Ulrich Eisenberg kann die Polizei damit »zumindest faktisch selbst über Umfang und Intensität bei der Suche nach Beweisen« gegen Kolleg/innen bestimmen. Diesbezüglich erklärte selbst Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, gegenüber dem Recherche-Portal Correctiv: »Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen – weder nach oben, noch an die Öffentlichkeit.«


Thomas Wüppesahl (Ex-B90/Grüne), Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten, kritisierte in erfahrungsgesättigter Voraussicht bereits im Zusammenhang mit dem erwähnten polizeilichen Übergriff auf den Schüler gegenüber der Leipziger Volkszeitung die Nähe zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und internen Ermittlern und sprach von einem flächenhaft grassierenden Korpsgeist: »Da wird nicht gegen Kollegen ermittelt. Das ist ein ganz unsauberes Geschäft, was da läuft. Und: Alle Insider wissen das«.


»Das Schmachvolle einer solchen Behörde«, das nach Benjamin nur deshalb »von wenigen gefühlt wird, weil ihre Befugnisse zu den gröblichsten Eingriffen nur selten ausreichen« und sich nach der Vermutung Singelnsteins »überdurchschnittlich häufig« gegen Angehörige »gesellschaftlicher Minderheiten mit geringer Beschwerdemacht« richten, erkennen auch Durchschnittsdeutsche intuitiv, sobald sie auf dem Fahrersitz eines PKW Platz nehmen. Was aber tun in einer Gesellschaft, deren Mitglieder die Notwendigkeit einer neuen Straßenverkehrsordnung nur in der atomisierten Individualisierungsform motorisierter Monaden erahnen?



shadab

Anmerkungen

(1) Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt, in: ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 45.


(2) Das bedeutet in der Regel eine Geldstrafe, »Verwarnung mit Strafvorbehalt« oder auch ein »Absehen von Strafe«.


(3) Im hier behandelten Datensatz bei Körperverletzung im Amt: 8,7%.


(4) Der Jugendliche hatte sich beim Abführen über ein paar Treppenstufen versucht etwas aufzurichten um seine nach unten geutschte Hose hochzuziehen.


(5) Dies zeigt sich nicht allein, aber besonders im Versammlungsrecht, wo der polizeiliche »Ermessensspielraum« fortwährend ausgeweitet und selbstverfasste »Gefahrenprognosen« die Grundlage für Einsätze bilden.

09.10.2016
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