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Der „autoritäre Charakter“

... und die Vorraussetzungen von Ideologiekritik im Spätkapitalismus

Als Adorno et al. den Begriff des „autoritären Charakters“ prägten, schufen sie damit eine psychoanalytisch begründete Theorie des Subjekts, die im Rahmen einer Theorie der Gesellschaft erklären kann, warum Menschen für Antisemitismus anfällig wurden bzw. werden. Ausdrücklich ging es in diesen Untersuchungen und den daran anschließenden Auseinandersetzungen mit dem Datenmaterial nicht um eine repräsentative Studie, sondern um ein theoretisches Konstrukt. Es dürfte also kaum ein Argument gegen die Theorie sein, dass es nur eine geringe Anzahl bürgerlicher Kleinfamilien zum Zeitpunkt der Untersuchung gab. Auch spielt es für ihre Genese kaum eine Rolle, dass oft Dienstmädchen an der Erziehung beteiligt waren. Mithilfe solcher Argumente versuchte Michael Reich im CEE IEH #141 zu belegen, dass die Kritischen Theoretiker von falschen Grundprämissen ausgingen, um damit die Existenz autoritärer Charaktere zu bestreiten. Er stellt die rhetorische Frage, „wie sich [...] nach den soziologischen und psychologischen Kriterien der Kritischen Theorie überhaupt ich-starke und kritische Subjekte haben herausbilden können“, um selbst zu beantworten, dass das nicht ginge. Es geht jedoch nicht einfach um autoritär oder nicht, Momente beider Strukturen können vielmehr im selben Charakter vereint sein. Der autoritäre, also der ich-schwache Charakter ist vor allem eine gesamtgesellschaftliche Tendenz. Die Bedingungen der Subjektkonstitution haben sich tatsächlich seit Freud, aber auch seit Adorno verschoben, die Umstände zur Herausbildung von kritischen Subjekten bzw. Individuen immer mehr erschwert. Wenn aber, wie in den Schriften der Kritischen Theorie immer wieder angedeutet, der Subjektbegriff völlig obsolet geworden wäre und die total verwaltete Welt nicht mehr durchschaut werden könnte, da es niemanden gibt, der sie durchschauen kann, wäre diese Einschätzung fatalistisch bzw. resignierend. Vor dieses Dilemma gestellt, kann eine dialektische Betrachtung des Ichs einen theoretischen Ausweg bieten. Wie zu sehen sein wird, kann so, trotz der objektiven Verstelltheit von Einsicht, die Gesellschaft in einem spontanen, freien Akt prinzipiell durchschaut werden. Dies bedeutet letztendlich, dass der autoritäre Charakter auch im Spätkapitalismus, also lange nach dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie, aktuell bleibt.
Wie ist es also möglich, dass kritische Subjekte in einer zur Ich-Schwäche tendierenden Gesellschaft entstehen können?
Die Grundlagen von Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ werden als bekannt vorausgesetzt, weshalb der komplexe Begriff des
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„autoritären Charakters“ zu Beginn nur kurz in Erinnerung gerufen wird. Wichtiger scheint die Frage nach den gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Wandel der Familienstrukturen ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, wie auch die Theorie vom emotionslosen Narziss, also der Personifizierung kapitalistischer „Flexibilisierung“.

Der autoritäre Charakter

Der autoritäre Charakter ist gekennzeichnet durch eine starre Bindung an herrschende Werte, die zumeist mit der Mittelschicht in Verbindung gebracht werden: äußerlich korrektes und unauffälliges Benehmen und Aussehen, Tüchtigkeit, Sauberkeit und Erfolg sind für ihn von größter Bedeutung. Sein ausgeprägt hierarchisches Denken und Empfinden erleichtert ihm die Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe. Gleichzeitig verachtet er alles Abweichende und Schwache. Voller Menschenverachtung wittert er überall Laster und Vergehen, wie sexuelle Ausschweifungen und glaubt überall Verschwörungen zu erkennen. Die stereotype (Fehl-)Wahrnehmung der Realität wird durch seine permanente Abwehr von Selbstreflexion perpetuiert. Das Ich, das die Aufgabe hat, zwischen der Außenwelt und den Bedürfnissen des Es (in etwa die Triebe) und des Über-Ichs (in etwa das Gewissen) zu vermitteln, ist beim Autoritären schwach ausgeprägt. Das überstarke Über-Ich, gewaltsam implementiert durch den allmächtigen Vater, versagt ihm eine angemessene Triebabfuhr und verlangt stattdessen eine strikte Unterdrückung der Bedürfnisse des Es'. Die Folge ist pathische Projektion, d.h. eine Projektion eigener Wünsche und Bedürfnisse auf andere, auf die nicht reflektiert werden kann.

In der Entstehung dieser Charakterstruktur spielt vor allem der Ödipuskomplex eine wichtige Rolle. Der Vater wird als Konkurrent um die Gunst der Mutter gesehen und wirkt zunächst als Bedrohung. Später findet bei einer gelungenen Lösung des Konflikts eine Identifikation mit der Vaterfigur statt. Seine Werte und Moralvorstellungen werden ins Selbst integriert; es entsteht das Über-Ich. Der Grad der Integration des Über-Ichs ins Selbst und damit die gesamte Charakterstruktur werden durch viele verschiedene Faktoren bestimmt. Wichtig sind hierbei neben den familialen auch gesellschaftliche Bedingungen. Die Untersuchungsreihe „Studies in Prejudice“, innerhalb derer auch die bekannten „Studien zum autoritären Charakter“ entstanden, hatten in Freudscher Tradition die klassisch-patriarchalische Familie des Bürgertums als Ausgangslage ihrer Untersuchungen angenommen(1). Wenn bereits zum Zeitpunkt der Studie die bürgerliche Kleinfamilie eher ein Auslaufmodell gewesen sein dürfte, kann seit der Nachkriegszeit kaum noch von einer Hegemonie der bürgerlichen Familie gesprochen werden. Angesichts von ‚Patchwork-Familien’ und der Delegation von Erziehung an Instanzen außerhalb der Familie wie Kindergärten, Schulen, Sportvereine, Fernsehen und Peer Groups kann mit einiger Berechtigung von einer Tendenz zur „vaterlosen Gesellschaft“(2) gesprochen werden.

Die Tendenz zur „Entväterlichung“(3) bedeutet nicht, dass der Vater als Person einfach verschwindet, sondern dass die libidinösen Bindungen der Zöglinge aufgrund eines tendenziellen gesellschaftlichen Funktionsverlustes des Vaters auf die Umwelt verschoben werden. Die Herstellung von Produkten „in der langen, unpersönlichen Kette der technischen Fertigungsvorgänge schließt den Menschen aus dem Erlebnis des Produzierens zunehmend aus. Es ist also der Konsument ganz anders an das Produkt gebunden oder von ihm entbunden als früher, wo es ein Stück Selbstdarstellung mittrug“(4). Diese Entfremdung des Arbeiters von seinem Arbeitsprodukt hat für ihn eine geminderte Bedeutung in der Familie zur Folge, da er nicht mehr der mächtige Patriarch sein kann, der die Außenwelt zu kontrollieren vermag. Vielmehr produziert er nun in stupiden Vorgängen Dinge, zu denen er keinen Bezug hat, wodurch seine häusliche Herrschaft kaum mehr eine materielle, geschweige denn ideelle, Legitimation hat.

Die „Entväterlichung“ und das Ende der bürgerlichen Familie

Bereits die Kritischen Theoretiker konstatierten gesellschaftliche Veränderungen, die mit dem Bedeutungsverlust der Vaterfigur in der Psyche des Subjekts einhergehen. Herbert Marcuse benennt einige dieser Modifikationen: „Übergang von freier zu organisierter Konkurrenz, Machtkonzentration in den Händen einer allgegenwärtigen technischen, kulturellen und politischen Verwaltung, sich automatisch erweiternde Massenproduktion und –konsumtion, Unterwerfung ehedem privater antisozialer Dimensionen des Daseins unter methodische Schulung, Manipulation und Kontrolle“(5). Während in früheren Epochen die Familien noch der Alten bedurften, „als Übermittler von lebensgeschichtlich erworbenem technisch-praktischem Wissen sowie der Kinder zur Sicherung der eigenen Reproduktion“(6), haben sich die Bedeutungen der Mitglieder in der Familie verändert. Die Kinder werden nicht mehr als Altersvorsorge gebraucht und die ökonomische Reproduktion beruht nicht mehr auf lebensgeschichtlicher Erfahrung der Alten, sondern auf der technischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dies kann die herkömmliche Familienstruktur nicht unberührt lassen. Die Funktion der Familie ist nicht mehr ökonomisch begründbar, es stehen nun vielmehr weniger greifbare Formen von Bindungen im Mittelpunkt: „Das ist der Grund warum in modernen Gesellschaften Liebe, Zuneigung, allgemein emotionale Bindungen eine zentrale Rolle spielen, wenn es um Partnerschaft und Familie geht“(7). Es ist nicht der wirtschaftliche Vorteil, der die Familie zusammenhält, sondern ausschließlich emotionale Bande, wodurch der Familienzusammenhalt grundsätzlich brüchiger ist.
Der Verlust der Autorität des Vaters mag zwar wie eine Befreiung des Kindes anmuten, da es nun nicht mehr unter der strengen Kontrolle des Vaters auf seine Triebe verzichten muss. Tatsächlich aber sehen die Folgen der neuen Freiheit anders aus. Befreit von der Autorität des schwachen Vaters treten Sohn und Tochter in eine konfektionierte Welt ein, in der es zurechtzukommen gilt. „Paradoxerweise stellt sich heraus, daß die Freiheit, welcher sie sich in der weitgehend autoritätslosen Familie erfreut hatten, mehr ein Preisgegebensein als ein Segen ist: das Ich, das sich ohne viel Kraft entwickelt hat, erscheint als eine ziemlich schwache Wesenheit, wenig geeignet, ein Selbst mit den anderen und gegen sie zu werden, den Mächten wirksamen Widerstand entgegenzustellen, die jetzt das Realitätsprinzip durchsetzen, und die vom Vater (und der Mutter) höchst verschieden sind – aber auch höchst verschieden von den Leitbildern, wie sie die Massenmedien liefern.“ (Marcuse 1967, S. 93)

Die Eltern treten als Mittler des Realitätsprinzips immer weiter in den Hintergrund. Sie sind nicht mehr die Übermittler von Wissen, da sich dieses immer schneller aktualisiert und die Kinder ihre Fertigkeiten beispielsweise aus Schule, Internet und durch ihre rasch auswechselbaren Cliquen besser und effektiver beziehen. Die elterliche Macht in der Familie ist nicht rational begründbar und die Erziehung der Kinder daher für diese nicht einsichtig, so dass die Regeln der Eltern unverstanden bleiben. Die Dressur der Kinder erfolgt willkürlich und vermag daher kaum als Vorbereitung für die Zumutungen des Arbeitslebens zu dienen. Vielmehr nehmen die Kinder die Maßregelungen der Eltern als reine Schikane wahr und reagieren auf deren Befehle mit Apathie oder zielloser Nörgelei. Weder die ökonomische Stellung der Eltern im Reproduktionsprozess „noch erworbenes Wissen qualifizieren die Eltern zu Autorität, und so reduziert sich diese Autorität auf die faktische Hilflosigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren“(8). Der objektive Verlust elterlicher Autorität hat zur Folge, dass sich die Kinder an immer wieder anderen Modellen in der Umwelt orientieren, bei denen es keinerlei Beziehungsfähigkeit bedarf. Die Eltern sind nicht mehr die konkret erfahrbaren Personen, an denen die Spannung reibt, durch die das Entstehen eines zur Reflexion fähigen Ichs durch Abgrenzung überhaupt erst ermöglicht. Sie sind für die Kinder eher schablonenhafte und profillose Mitbewohner, zu denen man kaum eine zwischenmenschliche Beziehung hat.

Die Autorität des Vaters in der bürgerlichen Gesellschaft ist dabei dialektisch zu verstehen. Die Vaterfigur bzw. die Autorität, mit der man sich identifiziert, wird verinnerlicht; die Kinder erfahren dabei „in einem sehr schmerzhaften und nie ohne Narben gelingenden Prozeß […], daß der Vater, die Vaterfigur dem Ich-Ideal, das sie von ihm gelernt haben, nicht entspricht“(9). Deshalb würden sie sich von diesem Ich-Ideal bzw. Über-Ich ablösen „und erst auf diese Weise überhaupt zum mündigen Menschen werden“(10). Doch nun in der spätkapitalistischen Gesellschaft sind nicht mehr die Eltern allein die „psychologische Agentur der Gesellschaft“, an denen sich der Widerstand gegen die Verinnerlichung der äußeren Zwänge persönlich reiben kann. Austauschbare non-familiale Autoritäten, die weniger greifbar sind, wie etwa Pop-, Fußball- oder Fernsehstars, konstituieren nun ein wächsernes Ich-Ideal. Aufgrund ihrer Ungreifbarkeit können die Kinder mit diesen fremden Autoritäten auch kaum Konfliktfähigkeit erlernen. Denn erst im Widerstand gegen eine Autoritätsperson, zu der man eine mehr oder weniger konstante Beziehung hat, und durch die spätere Abkehr von ihr kann sich eine eigene Identität herausbilden.

Der emotionslose Narziss als der neue Autoritäre

Aus der neuen ödipalen Situation geht nun nicht mehr der sadomasochistische Charaktertypus – also der klassische autoritäre Charakter hervor, der die Triebunterdrückungen durch den übermächtigen Vater verinnerlicht hat, sondern es entstehen Charaktere, die wesentlich außengeleiteter sind. Emotionslosigkeit und müde Gereiztheit als Zeichen einer nicht nach Außen gekehrten Aggression sowie eine permanente Affektlosigkeit der Kinder sind Folgen dieses ausbleibenden Vater-Kind-Konfliktes. Nicht Identität, sondern Identitätsdiffusion steht am Ende der Charakterentwicklung. Der vom Vater geforderte Triebverzicht, der die innere psychische Spannung ansteigen ließ, findet in der Gegenwart kaum mehr so repressiv statt, wie etwa Anfang des vorherigen Jahrhunderts, da nicht zuletzt durch die 68er die rigide Sexualmoral weitgehend gelockert wurde. Das Aufschieben der Triebe ist nicht mehr in dem Maße wie früher nötig, da die Abfuhr nicht mehr verpönt ist. Gespräche mit der Mutter über die ersten sexuellen Erfahrungen, das offene Bekenntnis zu Homosexualität oder der Kauf eines Sexheftchens ohne einen roten Kopf sind vor einigen Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen. Auch wenn die allseits vermarktete Sexualität auf Coladosen oder Chipstüten mehr geschmack- und phantasielose Überflutung denn echte Erotik ist, kann so zumindest das rigide Bilderverbot ohne bedrückend schlechtes Gewissen überwunden werden. Allerdings geht mit der freigegebenen Sexualität ein Dilemma einher. Die schmerzhafte gesellschaftliche Unterdrückung erscheint nun weniger repressiv als sie tatsächlich ist: Die frühere autoritäre Einschränkung des Lustprinzips „seitens der Gesellschaft legte Zeugnis ab von der Tiefe des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft, das heißt von dem Ausmaß, in dem Freiheit unterdrückt war. Jetzt, mit der Integration dieser Sphäre in den Bereich von Gesellschaft und Unterhaltung, wird die Repression selbst verdrängt: die Gesellschaft hat nicht die individuelle Freiheit erweitert, sondern ihre Kontrolle über das Individuum.“(11)

Nicht der klassische autoritäre Wüterich ist das Ergebnis der gelockerten Sexualmoral und der tendenziellen Überflüssigkeit des Einzelnen für die Produktion, sondern ein viel selbstbezogenerer Typus. Der emotionslose Narziss ist kaum noch in der Lage, in eine empathische Beziehung mit anderen Menschen zu treten. Nur das eigene Kollektiv (Rasse, Volk, Nation, Fußballverein) – und damit man selbst – wird libidinös besetzt. Den Vorurteilen kommt beim Autoritären eine ganz besondere Rolle zu, da er so die Fremdgruppe abwerten und das eigene Kollektiv und eben sich selbst aufwerten kann. Völlige Stereotypie und ein äußerst rigides Denken machen das Vorurteil so resistent gegen Aufklärung. „Das Vorurteil des Hasses“, schreibt Horkheimer, ist deshalb so„unverrückbar, weil es dem Subjekt gestattet, schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten“(12). Diesen besonderen Typus des autoritären Charakters, der sich in Reaktion auf die komplexen gesellschaftlichen Veränderungen tendenziell durchsetzt, nennt Adorno den „manipulativen Typus“. Ihn „kennzeichnet extreme Stereotypie; starre Begriffe werden zu Zwecken statt zu Mitteln, und die ganze Welt ist in leere, schematische, administrative Felder eingeteilt“(13). Der manipulative Charakter „zeichnet sich aus durch Organisationswut, durch Unfähigkeit, durch eine gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus“(14). Dinge werden libidinös besetzt und dennoch ist eine Absenz von authentischen Affekten für den Manipulativen typisch. „Erst haben diese Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.“(15) Sie manipulieren ihre Opfer, sie sind die prototypischen Schreibtischtäter, deren Opfer für sie zum Material werden, welches „verwaltet“ wird. Auch der Manipulative selbst ist zutiefst manipulierbar; „so innovativ seine Praktiken sein mögen, er handelt stets im Dienst von etwas, ohne daß (moralische) Zweifel entstünden, ob das Handeln ‚richtig’ sei“(16). Ein schlechtes Gewissen hat der Manipulativ-Autoritäre nur, wenn er seine soziale Funktion nicht erfüllen kann, „insofern ist das Gewissen nicht moralisch integriert, sondern ausschließlich ideologisch“(17).

Das flexible Ich

Menschen, die zu ihren Mitmenschen keine gefestigten emotionalen Beziehungen haben, haben folglich auch kein Problem, den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu entsprechen und den Wohnort zu wechseln(18). „Die zunehmend warenförmig und durch gesellschaftliche Organisation vermittelte Vergesellschaftung der Individuen hat für diese zur Konsequenz, sich in immer stärkeren Maße in gesellschaftlich definierte Funktionen einpassen zu müssen“(19). Mit der Universalisierung des Wertgesetzes wird von den konkreten Individuen und ihren qualitativen Beschaffenheiten und Bedürfnissen abstrahiert. Das Tauschgesetz setzt völlig ungleiche und eigentlich unvergleichbare Dinge über den Wert miteinander ins Verhältnis. Vom Besonderen wird daher zwangsweise und zu Gunsten des Allgemeinen abstrahiert. Ähnlich werden auch die Menschen gleich gemacht. Der Druck der Anpassung an die Macht und das Tauschprinzip, dem die Menschen unterworfen sind, verändert bzw. vereinheitlicht die komplette psychologische Struktur der Menschen. Die Anpassung an den Herrschafts- und Wertzusammenhang tendiert so zur Auslöschung aller Differenz, allem Besonderen.

Diesen Prozess zu einem hohen Grad an Flexibilisierung der Lebensführung der Menschen und ihrer problemlosen Anpassung an verschiedene Situationen, bezeichnet Weyand mit dem Paradoxon einer Tendenz zum „charakterlosen Charakter […], der sich nicht durch eine fest gefügte innere psychische Struktur, sondern durch die Fähigkeit auszeichnet, sich in wechselnde Funktionen einpassen zu können. Charakterlosigkeit ist sein Charakter“(20). Man könne daher sagen, so Weyand, „daß der Entwicklung […] eine Tendenz zur Verflüssigung des Charakters immanent ist“(21). Auch Böckelmann weist darauf hin, dass sich die Kinder viel leichter und schneller mit Bezugspersonen identifizieren können. Das Kind konstituiere, so Böckelmann, „über die Bezugspersonen seiner verschiedenen Entwicklungsphasen eine neue Form größter Ich-Schwäche, die nicht mehr wie in der autoritären, sadomasochistischen Psyche ein eingeklemmtes, bedrohtes Ich meint, sondern ein zerfließendes, diffuses, grenzenloses Ich, das eben darum nur noch die eigenen Interessen im Auge behalten kann“(22). Die alten Tugenden der Individuen des klassischen bürgerlichen Zeitalters sind nun obsolet geworden. Charakterfestigkeit und ein konsistentes Moralsystem sind bei den hohen Anforderungen der Umwelt und der Konsumwelt eine Last.

Die Unfähigkeit zur Reflexion

Wenn sich aber nun, wie dargestellt, eine zunehmende Ich-Schwäche durchsetzt, bedeutet dies, dass immer weniger Menschen auf sich, auf ihre Projektionen und ihre Umwelt adäquat reflektieren können. Dass die gesellschaftlichen Tendenzen sich über den Köpfen der Menschen und hinter deren Rücken durchsetzen, dass sie jene Prozesse nicht als ihre eigenen wissen, macht den gesellschaftlichen Schleier aus. Die Arbeit der Menschen hält nicht nur sie selbst, sondern auch das gesellschaftliche Ganze am Leben. Diejenigen, deren Leben doch von dem Ganzen undurchsichtig abhängt, vermögen nicht zu erkennen, dass die Gesellschaft sowohl ihr Inbegriff wie auch ihr Gegenteil ist(23).

Die Möglichkeit, dass die Menschen die Gesellschaft vernünftig einrichteten, wäre so vollends verstellt, da sie den Grund ihres Leidens gar nicht erkennen können. Wenn sich nun der Einzelne immer mehr dem Bestehenden anpasst, wodurch das Subjekt seine Autonomie verliert, schließt sich so der Zirkel: „Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, daß sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge“(24). Der Trend zur Ich-Schwäche merzt zunehmend die Möglichkeit zur Einsicht in die Gesellschaft aus; das denkende und reflektierende Subjekt als Träger einer möglichen Emanzipation stirbt in der total verwalteten Welt aus. Die für die Menschen überlebensnotwendige Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich tief in sie selbst festgesetzt. Sie geht sogar soweit, daß die Möglichkeit, daraus ohne unerträgliche Triebkonflikte auch nur im Bewußtsein auszubrechen, schrumpft.“(25)

Das Dilemma des Denkers und Kritikers ist immanent. Auch er dürfte die zu analysierenden gesellschaftlichen Verhältnisse kaum durchschauen, da er selbst auch von jenen Prozessen betroffen ist, die eine tendenzielle Ich-Schwäche produzieren. Horkheimers Verdikt fällt pessimistisch aus: Die Aussichtslosigkeit dieser Situation drückt Adorno aus, wenn er das Dilemma des Kritikers formuliert: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“(26). Dem theoretisch konstatierten Verfall des Individuums steht Adornos „Wendung aufs Subjekt“, die ja die Existenz von denkenden Individuen, also Subjekten, offenbar annimmt, nur scheinbar gegenüber. Anknüpfend an Freud und Adorno ist das Ich dialektisch zu fassen. Nur so kann geklärt werden, warum es trotz zunehmender Ich-Schwäche einigen Menschen gelingt, auf sich und ihre Umwelt zu reflektieren. In der Begründung des dialektischen Charakters des Ichs besteht, so Weyand, „exakt die Aktualität der Theorie des autoritären Charakters“(27).

Die Dialektik des Ichs

Die ich-schwache Struktur des Autoritären ist der eines psychisch Kranken grundsätzlich ähnlich. Dennoch kann man antisemitische Denk- und Verhaltensweisen nicht pathologisieren, wie etwa Ernst Simmel, der den Antisemitismus als Massenpsychose bezeichnet(28). Auch wenn paranoide Wahnvorstellungen durchaus Elemente des Antisemitismus sind, würden durch eine völlige Pathologisierung der Antisemiten und Autoritären diese von der Verantwortung für ihr eigenes Tun entbunden werden. Wenn man, wie Michael Reich in seinem im CEE IEH dokumentierten Referat, von einer „pathologischen Projektion“ spricht, liegt man damit falsch. Vielmehr kennzeichnen den Antisemiten „pathische Projektionen“, da auf diese nicht reflektiert werden kann. Krankhaft ist dies jedoch nicht unbedingt. Gerade aufgrund der tiefen gesellschaftlichen Verankerung des Antisemitismus und der für alle Menschen geltenden Notwendigkeit, sich der verhärteten Gesellschaft einzupassen, ist Ich-Schwäche eher als „normal“ denn als „krankhaft“ zu betrachten. Adornos positives Pendant zum autoritären Charakter wird jedoch nicht einfach nur als zur Reflexion Fähiger beschrieben, sondern als „wirklich freier Mensch“ oder als „mündiger Mensch“. Freiheit ist viel weniger psychologisch zu betrachten: Sie setzt „die bewußte Erkenntnis jener Prozesse voraus, welche zur Unfreiheit führen, und die Kraft des Widerstands, die weder vor diesen Prozessen romantisch in die Vergangenheit flüchtet, noch sich ihnen blindlings verschreibt“(29). Eine dialektische Betrachtung des Ichs(30) ergibt auch für Ich-Schwache eine grundsätzliche Möglichkeit der Reflexion: der Begriff des Ichs beinhaltet ein psychologisches und ein nicht-psychologisches Moment. „Das psychologische Moment ist bezogen auf die Vermittlung der im Charakter verfestigten psychischen Innenwelt und Außenwelt. Das nicht-psychologische Moment ist auf die sachlich angemessene Reflexion darauf, also auf die Selbstreflexion der eigenen Lebensbedingungen, bezogen“(31).

Das psychologisch bestimmte Ich, welches zunehmend schwächer wird und der Möglichkeit der Reflexion verlustig geht, lässt sich durch die Psychoanalyse bestimmen. Es gibt jedoch auch ein Moment im Ich, welches in der Theorie nicht aufgeht, nämlich die Möglichkeit zur Besinnung auf die eigenen Projektionen und die Umwelt – eben auch für ich-schwache Menschen. Adorno bestimmt den Doppelcharakter des Ichs folgendermaßen: „Das Ich fällt als Organisationsform aller seelischen Regungen, als das Identitätsprinzip, welches Individualität überhaupt erst konstituiert, auch in die Psychologie. Aber das ‚realitätsprüfende’ Ich grenzt nicht bloß an ein Nichtpsychologisches, Auswendiges, dem es sich anpaßt, sondern konstituiert sich überhaupt durch objektive […] Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte. Obwohl selber ein ursprünglich Seelisches, soll es dem seelischen Kräftespiel Einhalt gebieten und es kontrollieren an der Realität: das ist das Hauptkriterium seiner ‚Gesundheit‘. Der Begriff des Ichs ist dialektisch, seelisch und nichtseelisch, ein Stück Libido und der Repräsentant der Welt“(32).

Das nicht-psychologische Moment im Ich kann auf sein Verhältnis zur Außenwelt reflektieren. Das heißt, es ist grundsätzlich zur Selbstreflexion fähig, wenn das Ich ein Moment der Selbständigkeit gegen seine Innenwelt und Außenwelt hat(33). Auch das psychologische Ich bedarf der Selbständigkeit, um zwischen den Ansprüchen des Ich, Es und der Außenwelt vermitteln zu können, es hat jedoch hier eine andere Bedeutung. Die Unterscheidung von Wahrheit oder Unwahrheit bzw. richtig oder falsch, die für eine sachlich angemessene Reflexion auf die Umwelt notwendig ist, spielt für das psychologische Ich keine Rolle. „Das Problem des psychologischen Ich ist nicht, warum die Ansprüche von Innen- und Außenwelt bestehen, sondern dass sie bestehen“(34). Was bei der Reflexion angemessen ist und was nicht, ist keine Frage der Psychologie, sondern der Erkenntnistheorie. Genau darin, dass beide Momente im Ich vereinigt sind, besteht die Dialektik. Dies bedeutet, dass schwache Ichs zwar nicht auf sich selbst reflektieren, es aber grundsätzlich können, zumindest ist eine solche Nicht-Reflexion theoretisch nicht begründbar. „Die Selbstreflexion der eigenen Lebensbedingungen ist, weil sie sich in ihr das Ich reflexiv auf sich selbst bezieht, nur als spontaner Akt oder als Akt der Freiheit zu denken“(35). Spontanität ist jedoch etwas, das nicht in Theorie aufgehen kann, da es für diese keine Regeln und keine Prognosen geben kann. Genau deswegen ist die Einsicht in den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang auch für Autoritäre grundsätzlich möglich, wenngleich dies nicht vorherzubestimmen ist, wann und wie das geschieht. Der Ich-Starke ist fähig zur Reflexion, beim Ich-Schwachen bleibt diese Fähigkeit potentiell bestehen – ob und wann sie genutzt wird, kann Theorie kaum bestimmen. Auch wenn der Ich-Starke aufgrund seiner Charakterstruktur bessere Lebensbedingungen zu haben scheint, ist es doch der Ich-Schwache, der den gesellschaftlichen Anforderungen im Spätkapitalismus besser gerecht werden kann.

Die Ich-Schwäche in der irrationalen Gesellschaft

Da in der höchst arbeitsteiligen Gesellschaft die Bedingungen der eigenen Reproduktion kaum durchschaut oder gar kontrolliert werden können, ist die Selbsterhaltung, die das Ich durch planvolle Aktivität vermittelt, keineswegs rational(36). Die Menschen sind im kapitalistischen Produktions- bzw. Reproduktionsprozess Mittel der Reproduktion, nicht ihr Zweck. Die Befriedigung ihrer Bedürfnisse findet nur statt, wenn es dem Erhalt des Kapitals dient. Wenn durch die Produkte Menschen gesättigt werden, dient das zwar deren (physischer) Selbsterhaltung, ist aber nicht unbedingt beabsichtigt. Ob Bomben oder Brot hergestellt wird, hängt nicht von den Bedürfnissen der Menschen, sondern von der Wahrscheinlichkeit der Vermehrung des Kapitals ab. Die Menschen selbst sind gezwungen, durch Lohnarbeit und Konsum ihre Selbsterhaltung zu gewährleisten. Damit verewigen sie aber zugleich eine Produktionsweise, die nicht der Bedürfnisbefriedigung dient. Das rationale Handeln der Einzelnen, die sich, um zu überleben, auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, hat so zugleich ein irrationales Moment, in dem diese Verhältnisse versteinert werden.

Die Produktion in jeder Gesellschaft setzt einen zumindest temporären Triebverzicht der Produzenten voraus. Bei einer rational organisierten Produktion wäre diese Notwendigkeit des Triebverzichtes einsehbar. In der kapitalistischen Produktionsweise ist dieser Verzicht nicht rational zu begründen. Daher müssen die Menschen beständig Verdrängungsleistungen vollbringen, die sie nicht einsehen können. Das Ich in der kapitalistischen Gesellschaft muss also strukturell schwach sein. Die Ich-Schwäche des Autoritären hat jedoch auch etwas Nützliches: Er profitiert von seiner antisemitischen, ich-schwachen Charakterstruktur insofern, dass er sich die beängstigenden, fremden und übermächtigen Verhältnisse auf eine banale und personalisierende Weise zu erklären vermag und er im kollektiven Narzissmus – wenn auch potenziell mörderischen – Seelenfrieden finden kann. Tatsächlich ist es so – wie es bereits in den „Studien zum autoritären Charakter“ herausgestellt wurde –, dass die Träger eines schwachen Ichs weniger Probleme haben, sich der Gesellschaft anzupassen. Sie prägen dabei viel weniger Neurosen aus, als die Nicht-Autoritären, die häufig von Selbstzweifeln und allerlei anderen Hemmungen geplagt werden(37). Die Triebökonomie des Ich-Starken ist unter den gegenwärtigen irrationalen gesellschaftlichen Bedingungen selbst irrational, während die Triebstruktur des „charakterlosen Charakters“ auf diese Weise rational ist. „Die gesellschaftlich irrationale Konsequenz wird auch individuell irrational“(38). In der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben Horkheimer und Adorno: „Die Irrationalität der widerstandslosen und emsigen Anpassung an die Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft“(39). Das starke Ich hat es daher bedeutend schwerer, sich zurechtzufinden. „Noch die gelungene Kur trägt das Stigma des Beschädigten, der vergeblichen und sich pathisch übertreibenden Anpassung“(40). Dies ist auch der Grund, warum Adorno die Psychotherapie für Unwahrheit hält. „Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank, ohne daß doch der, dem die Heilung misslingt, darum gesünder wäre“(41). Einen Ausweg hieraus gibt es innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ schrieb Adorno in den Minima Moralia. Ihm selbst war dieses Dilemma natürlich auch nicht fremd, gab er doch den Minima Moralia, in die viele autobiographische Elemente einflossen, den Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“.

Die (physische) Selbsterhaltung der Menschen, die unverstanden bleibt, ist jedoch, wie gesehen, alles andere als gesichert. Mit der Entwicklung neuer Technologien, die effektiver und billiger produzieren, schwindet zunehmend der Bedarf an Arbeitskräften. Eine tendenzielle Ablösung der Herrschaft des Wertgesetzes durch das Recht des Stärkeren, wie es auch in den kapitalistischen Zentren deutlich zu bemerken ist, erschwert zusätzlich die Selbsterhaltung des Einzelnen. In dieser Situation der Erfahrung – oder mehr Erahnung – der realen Ohnmacht kommt dem Narzissmus für das Ich eine selbsterhaltende Funktion zu. Zugleich aber erzeugt das Gefühl, dass man den Verhältnissen völlig ausgeliefert ist, eine tiefe Existenzangst bzw. die Angst davor, nicht dazuzugehören. „Die Angst vorm Ausgestoßenwerden aber, die gesellschaftliche Sanktionierung wirtschaftlichen Verhaltens hat sich längst mit anderen Tabus verinnerlicht, im Einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten Natur geworden“(42) Die Ahnung dieser Angst trübt den Narzissmus und bedroht ihn, da das eigene aufgeblähte Selbstbild etwa vom starken Mann, der alles unter Kontrolle hat, offensichtlich falsch ist. Genau in „dieser Kollision narzisstischer Besetzung der eigenen Person und narzisstischer Beschädigung besteht ein systematisches Moment der Einzelnen für autoritäre Meinungen“(43). Diese Kollision ist der Grund für die Aktualität des autoritären Charakters. Der beschädigte Narzissmus der Einzelnen nämlich sucht Befriedigung und sein Heil im kollektiven Narzissmus und findet dort die Möglichkeit zur Identifikation, die er braucht. Konstitutiv für ein solches Kollektiv, in dem der Narziss Befriedigung findet, ist die Bestimmung von äußeren Feinden. Im kollektiven Antisemitismus wird nun diese narzisstische Kränkung „geheilt“. In den Wahnvorstellungen der Autoritären finden pathische Projektionen eigener Verdrängungen und Wünsche auf die Juden statt – im Antisemitismus drückt sich das Realitätsprinzip als eine strukturell paranoide Beziehung zur Außenwelt aus. Gleichzeitig dient der Antisemitismus als personifizierende Erklärung aller als negativ empfundenen Seiten der kapitalistischen Moderne und ihrer Krisen und Zwänge.

Fazit

Der ich-schwache Charaktertypus, der sich gesellschaftlich durchsetzt, könnte zwar grundsätzlich in einem freien, spontanen Akt die Verhältnisse durchschauen. Solange er dies aber nicht tut, bleibt die Gefahr der antisemitischen Mobilisierung der Ich-Schwachen akut. Ohnmacht gegenüber der gesellschaftlichen Verhältnisse, Regression auf Narzissmus und Omnipotenzphantasien – alles Folgen der unsicheren Familienstrukturen und der unvernünftigen Produktionsweise – konstituieren einen Menschentypus, der diesen irrationalen Verhältnissen optimal angepasst ist. „Auf Kosten der Identität, auf Kosten einer bewußten, kritischen und aktiven Haltung gegenüber der Realität, auf Kosten einer zu sich selbst kommenden Sexualität werde uneingeschränkte Triebbefriedigung gewährt und die lähmenden Kontrollen des Gewissens und der Gesellschaft entfernt. Dies meint die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit [Hervorh. i. Original]“(44).

Freilich ist diese Tendenz bedrohlich, bestätigt sie doch die Gefährlichkeit des noch immer existierenden Autoritarismus, wenngleich sich seine Vorraussetzungen geändert haben. Der „autoritäre Charakter“ verschwand also nicht mit dem Ende der bürgerlichen Familie, sondern ist ein konstitutives Element der warenproduzierenden Gesellschaft und reicht daher bis in die Gegenwart. Auch diejenigen, die damals in der Studie von Adorno et al. als vorurteilsfrei eingestuft wurden, sind nicht vor Autoritarismus und damit Antisemitismus gefeit. Sie haben ähnlich stereotype und personalisierende Vorstellungen bei politischen und ökonomischen Fragen, wie die Vorurteilsvollen. Diese Übereinstimmungen der Antworten führen die Autoren auf das kulturelle Klima zurück und folgern daraus, „dass wir in potentiell faschistischen Zeiten leben“(45). Der Kapitalismus hat durch die Entfaltung der Produktivkräfte die Möglichkeit zur vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft geschaffen, hat aber zugleich auch die Möglichkeit des Antisemitismus und der Vernichtung produziert. Von den Menschen selbst hängt es ab, ob diese Vernichtung, die bereits einmal stattfand, wiederholt wird, oder ob sie die Verhältnisse abschaffen.
So lange aber nichts auf Abschaffung hindeutet, bleibt das destruktive Potential, und damit die Theorie des autoritären Charakters, so virulent. Allerdings gibt es prinzipiell die Möglichkeit, dass auch autoritäre Charaktere, also Antisemiten, zur Einsicht kommen können. Zumindest gibt es keine theoretische Negation dieser Möglichkeit. Gäbe es diese Möglichkeit nicht, so unwahrscheinlich sie momentan auch ist, wäre jede Ideologiekritik sinnlos. Umgekehrt liefe es auf Affirmation des Bestehenden hinaus, wenn man anthropologisierend behaupten würde, der Antisemit sei nun mal so und bliebe es für immer.

Johannes Alberti

Dieser Text basiert auf einem Auszug meiner Diplomarbeit.

Anmerkungen

(1) Untersucht wurden überwiegend weiße Mittelständler. Andere Bevölkerungsschichten (Arbeiter, Schwarze) mit ihren je eigenen Sozialisationsbedingungen wurden kaum berücksichtigt.

(2) Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1989

(3) a.a.O. S. 201

(4) ebd.

(5) Marcuse, Herbert: Das Veralten der Psychoanalyse. In: Ders.: Kultur und Gesellschaft 2. Frankfurt/M. 1967 S. 88

(6) Weyand, Jan: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. In: jours-fixe-initiative berlin (Hg.): Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft. Münster: 2000, S. 59

(7) ebd.

(8) a.a.o: S. 60

(9) Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit (1969) In: Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. 1970 S.140

(10) ebd.

(11) Marcuse: Das Veralten der Psychoanalyse. a.a.O. S. 102

(12) Horkheimer, Max: Über das Vorurteil. In: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Sociologica. Reden und Vorträge. Frankfurt/M. 1984, S. 198

(13) Adorno, Theodor W. et al.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M. 1973 S. 334

(14) Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M., S. 97

(15) a.a.O. S. 98

(16) Rensmann, Lars: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität. Berlin/Hamburg 1998, S. 86

(17) ebd.

(18) Gewiss ist es nicht mehr bloß – wie es Michael Reich schreibt – die sogenannte Radfahrernatur, die auf dem Arbeitsmarkt verlangt wird. Aber eben auch nicht „der stets kritische und selbstbewusste Umgang mit dem übertragenen Aufgabenfeld“. Kritik und Innovation werden lediglich im Rahmen einer „Corporate Identity“ verlangt, die selbst allerdings beliebig austauschbar ist und der sich stets aufs Neue komplett hingegeben werden soll.

(19) Weyand: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. a.a.O. S. 61 f.

(20) a.a.O. S. 62

(21) Weyand, Jan: Adornos Kritische Theorie des Subjekts. Lüneburg 2001, S. 141

(22) Böckelmann, Frank: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit. Freiburg 1987, S. 54

(23) Vgl. Adorno, Theodor W.: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. (1955) In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt/M. S. 53 f.

(24) Adorno, Theodor, W..: Gesellschaft (1965). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt/M. S. 18

(25) ebd.

(26) Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1986 S. 67

(27) Weyand: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. a.a.O. S. 65

(28) Simmel, Ernst: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie. In: Ders. (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt/M. 1993 S. 64

(29) Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Vorurteil und Charakter. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelten Schriften, Bd. 9.2. Frankfurt/M. S. 372

(30) Ich beziehe mich hier und im folgenden vor allem auf Überlegungen von Jan Weyand

(31) Weyand: Adornos Kritische Theorie des Subjekts. a.a.O. S. 116

(32) Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. a.a.O. S. 70

(33) Vgl. Weyand: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. S. 65

(34) ebd.

(35) a.a.O. S. 66

(36) vgl. a.a.O. S. 67

(37) vgl. a.a.O. S. 70

(38) Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. a.a.O. S. 57

(39) Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 2003, S. 213

(40) Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. a.a.O. S. 57

(41) ebd.

(42) a.a.O. S. 47

(43) Weyand: Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. a.a.O S. 71

(44) Böckelmann: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit. a.a.O. S. 58

(45) Adorno et al.: Studien zum autoritären Charakter. a.a.O. S. 178

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last modified: 26.5.2007