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Folgender Text ist die in Teilen überarbeitete und um einige Exkurse erweiterte Fassung des Vortrages „Leben wir noch in einer bürgerlichen Gesellschaft“, der im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Das Unwesen der Gesellschaft“ der Gruppe in Gründung (G.i.G.) am 13.07. 2006 in Leipzig gehalten wurde.

Leben wir noch in einer bürgerlichen Gesellschaft?


Einleitung und Inhalt

Die Beantwortung der aufgeworfenen Frage, „Leben wir noch in einer bürgerlichen Gesellschaft“, hängt wesentlich davon ab, welchen Inhalt man diesem Begriff „bürgerliche Gesellschaft“ zumessen möchte. Er ist notorisch unbestimmt und steht gewissermaßen am Kreuzpunkt unterschiedlicher historischer, soziologischer und psychologischer Betrachtungsweisen. Der Begriff hat keinen festen Bedeutungsgehalt und von daher ist es müßig, die Frage des Vortrages mit ja oder nein zu beantworten. Nichts spricht dagegen den Begriff als Epochenbegriff zu behandeln und bspw. die Zeit von 1870 bis 1914 als „bürgerliches Zeitalter“ zu bestimmen wie in den Geschichtswissenschaften usus. Die Historiographie beschäftigt sich dementsprechend mit dem „Bürger“ als Mitglied einer Schicht, die sich abgrenzt gegen die Arbeiterklasse, aber auch gegen den Adel, einer Schicht, die einen bestimmten Habitus besitzt und ein bestimmtes Selbstbild.
Wählt man eine andere Zeiteinteilung, vielleicht beginnend mit der Amerikanischen Revolution und irgendwann in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts oder Anfang des 20. Jahrhunderts endend, erhält man einen Begriff des Bürgers und der bürgerlichen Gesellschaft, der mit Nachdruck darauf abzielt, dass es in diesem Zeitraum autonome Individuen gab, die sich als selbstbestimmte verstanden und die kritisch auf ihre Umwelt reflektierten. Diese Form der Individualität, so liest man bspw. bei Adorno oder auch bei Hanna Arendt, verschwände mit dem Aufkommen der Massengesellschaft. Folgt man dieser These, liegt es nahe, eine Verfallstendenz anzunehmen und gar vom „Verschwinden des Subjekts“ zu reden, wie Adorno es tat. Die Rede vom „Verschwinden des Subjekts“ soll im Folgenden relativiert werden, ebenso jene vom Ende der „bürgerlichen Gesellschaft“, also die vom Ende der ökonomischen und politischen Bedingungen, die jenes selbstbestimmte Subjekt hervorgebracht haben.
Im Blickpunkt meines Vortrages steht also die Frage, warum es immer noch sinnvoll ist von „bürgerlicher Gesellschaft“ zu sprechen und gerade nicht, wie viele Kritiker der heutigen Zustände es tun, von „postbürgerlicher“ oder „nachbürgerlicher Gesellschaft“. Sowohl ökonomisch, politisch als auch in der Frage nach der Subjektkonstitution haben sich die Koordinaten der gesellschaftlichen Verfasstheit nicht derart geändert, dass man den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft ad acta legen sollte.
Um dies zu begründen, bin ich gezwungen, auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau zu argumentieren. Eine solche Herangehensweise birgt immer die Gefahr, die Komplexität gesellschaftlicher Phänomene unzulässig zu vereinfachen. Dennoch gewinnt die Abstraktheit der Argumentation ihren Sinn darin, dass es notwendig ist, die Basiskategorien der gegenwärtigen Gesellschaft zu bestimmen.

Unmittelbarer Anlass der Frage nach der „bürgerlichen Gesellschaft“ – ich deutete es bereits an – ist eine Diskussion, die seit einigen Jahren von Autoren wie C. Nachtmann, U. Krug, S. Grigat oder G. Scheit geführt wird und die sich um den Begriff des Postnazismus konzentriert. Dieser Begriff soll das Fortwesen nationalsozialistischer Strukturen und Bewusstseinsformen in Deutschland und Österreich fassen. Zentral für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als ‚postnazistisch’ ist die These vom Ende des Bürgertums und vom Ende des Liberalismus als spezifisch historischer Form des Kapitalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Mir geht es um die Reichweite dieses Konzeptes und seiner theoretischen Voraussetzungen.
Mit Blick auf die These vom Postnazismus kann man sich dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft von drei Seiten her annähern. Zum einen über seine ökonomischen Konnotationen: Kann man hier etwa, wie Clemens Nachtmann es tut, von einer „nachbürgerlichen Gesellschaft“ sprechen, die „nach dem Zerfall der liberalen, politischen Ökonomie per definitionem nichts anderes [sei] als Krisenbewältigung in Permanenz.“ (Grigat 2001: 64)?
Welcher Zusammenhang – und das ist der zweite Diskussionsstrang – besteht zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen Sphäre? Bezogen auf den Postnazismus: Inwieweit lässt sich – im heutigen Deutschland – von einem Fortwesen des nationalsozialistischen Unstaats ausgehen und welche Rolle kommt dem Bürger dabei zu?
Drittens soll die Frage nach der heutigen Subjektkonstitution aufgeworfen werden, denn hauptsächlich an dieser kann nachgewiesen werden, inwieweit die These von einem Verlustiggehen der Kritikfähigkeit der Individuen, vom Verschwinden des Subjekts, tragfähig ist oder nicht, die inhärenter Bestandteil der Postnazismusthese ist.
Abschließend werde ich das Konzept des Postfaschismus einer methodischen Kritik unterziehen.

1. Der ökonomische Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und seine Grenzen

Gesellschaftlichkeit und Vergegenständlichung

Dass wir in einer Gesellschaft leben, scheint keiner Rede wert. Doch was das Gesellschaftliche ist, in dem wir leben, ist so einfach gar nicht zu beantworten. Ist menschliches Zusammenleben doch in bestimmter Weise immer schon vergesellschaftet und zwar in dem Sinne, dass die Formen des Zusammenlebens – bisher zumindest – immer ein Eigenleben gegenüber den Einzelnen gewonnen haben. Gesellschaft ist geradezu die vergegenständlichte Form des Zusammenlebens. Der zentrale Satz Kritischer Theorie, dass sich die Gesellschaft „hinter dem Rücken und durch die Köpfe“ der Individuen, bewusstlos also, reproduziere, lässt sich unschwer ebenso auf vorkapitalistische Verhältnisse übertragen. Dass Menschen sich in Formen und Institutionen bewegen, diese mit ihren Handlungen zugleich aus sich heraus setzen und sie durch ihre Handlungen anerkennen, ihre Handlungen also in sie beherrschende Fetische vergegenständlichen, wie diese Fetische ihre Handlungen vergegenständlichen; solche Prozesse scheinen das Schicksal der Menschheit und sind es bis dato. So kann man beispielsweise den Totemismus bestimmter Jäger und Sammlerhorden als Vergegenständlichung des frühzeitlichen Umgangs mit Natur verstehen. Die Naturprozesse und die Prozesse ihres sozialen Lebens wurden den damaligen Menschen unter der Form des Totems verständlich. Ihre Handlungen wurden durch die von ihnen selbst geschaffene und imaginierte Macht des Totems strukturiert, sie brachten bewusstlos einen gesellschaftlichen Gegenstand hervor, dem sie sich dann ebenso bewusstlos unterwarfen. Ein Fetisch ebenso wie das Totem, ist der unsichtbar bleibende Gegenstand „Gott“ in der christlich-jüdisch-islamischen Tradition. Er ist eine Abstraktion und Imagination, der durch die Handlungen und Denkweisen der Individuen immer wieder hervorgebracht wird und zugleich ihre Handlungen und Denkweisen in stärkster Weise bestimmt. Auch die angeblich direkten, d.h. durch körperliche Gewalt zementiert sein sollenden, Herrschaftsverhältnisse des Feudalismus sind über solche Imaginationen und Fetische hochgradig vermittelt. Ohne die Anerkennung des Königs oder des Feudalherren durch die Leibeigenen, hätten jene niemals die Machtmittel gehabt, sich diese gefügig zu machen. Insofern – so die Quintessens dieses kurzen Exkurses – ist eine gegenständliche Vermittlung der Gesellschaftsmitglieder kein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Erwähnt sei das an dieser Stelle nur, um zu verdeutlichen, dass die Annahme eines absoluten Bruchs zwischen der heutigen Gesellschaft und ihren Vorläufern hochgradig problematisch ist.

Die differencia specifica der kapitalistischen Vermittlung

Es ist also davon auszugehen, dass sich alle bisher konstituierten Gesellschaften wesentlich über Formen fetischisierter Anerkennung reproduzierten. In aller Kürze und in Anlehnung an Freud lässt sich sagen, dass die Individuen, statt zu leben, von den Formen ihrer Gesellschaft gelebt werden. Dennoch gewinnt die Vermittlungs- oder Reproduktionsform der Gesellschaft mit dem Heraufdämmern des Kapitalismus einen neuen Grund. Eine neue vergegenständlichte Form – das Geld als materielle Existenz des verselbständigten Werts – wird zum handlungsbestimmenden Gegenstand, auf dessen Benutzung und Aneignung die Individuen ab einem gewissen, jedoch kontingenten, historischen Punkt auf Verdeih und Verderb angewiesen sind. Mit dem Geld als Tauschmittel und als Erscheinungsform des abstrakten Reichtums – des Werts – verändern sich die europäischen Gesellschaften fundamental. Zum neuen entscheidenden Kriterium für die gelingende Reproduktion der Gesellschaft als Ganzes wird die ihnen nun immanente Dynamik. Die Vergegenständlichungsform des Wertes kann nur existieren durch eine beständige Vergrößerung seiner selbst; dokumentiert ist dies jeden Tag im Rufen nach und dem Hoffen auf das Wachstum der Wirtschaft. Die zentrale Institution oder das ökonomische Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ist damit eine Bewegung, ein Prozess, der nur insofern starr ist, wie sein Zweck – die Vermehrung des abstrakten Reichtums – gleich bleibt.
Die moderne kapitalistische Gesellschaft konstituiert sich in Sphären. Es entsteht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine bestimmbare und bestimmend wirkende Sphäre des Ökonomischen. Es entwickelt sich eine enorm differenzierte Arbeitsteilung, die Menschen verlernen es, sich aus ihrer lokalen Gemeinschaft heraus zu reproduzieren und sind gezwungen, ihre Produkte über den Markt auszutauschen. Die Güter, die die Individuen herstellen, produzieren sie also nicht unmittelbar für sich, sondern sie produzieren sie für den Markt, sie produzieren sie, um damit das allgemeine Tauschmittel zu erwerben – das Geld. Die Individuen produzieren als Vereinzelte für diesen anonymen Zusammenhang, der Erfolg ihrer Produktion zeigt sich erst, wenn es gelingt, das Produkt zu verkaufen. Damit ist das einzelne Individuum als Eigentümer gesetzt; es nimmt an der gesellschaftlichen Vermittlung nur als Eigentümer teil. Zugleich sind die Individuen als Freie und Gleiche gesetzt, frei ihr Eigentum zu verkaufen und gleich als Verkäufer dieses Eigentums. Als Marktteilnehmer anerkennen sich die Individuen als Gleichgeltende und als Gleichgültige, die Gleichheit entspringt nicht aus einer emphatischen Bestimmung des Menschen, sondern aus funktionaler Notwendigkeit.
Diese abstrakten und funktionalen Bestimmungen des Individuums als Markteilnehmer und Eigentümer bestimmen ihn ökonomisch als Bürger oder Bourgeois. Insofern die Form der Vermittlung über das Geld und den Markt auch heute noch Gültigkeit hat, kann man von einer bürgerlichen Gesellschaft sprechen. Jeder der diesen Begriff ad acta legen möchte, ist in der Bringschuld, nachzuweisen, dass der Markt und die freie Konkurrenz nicht mehr existieren und dass an ihre Stelle etwas anderes getreten sei.

Die Grenzen der ökonomischen Vermittlung

Allerdings ist offensichtlich, dass diese marktfunktionalen Bestimmungen des Bürgers in seiner Freiheit und Gleichheit und damit einhergehend die reine Konstitution von Gesellschaft durch Geld und Tausch, in dieser Reinheit festgehalten, schlechte Abstraktion sind. Eine Gesellschaft alleinig und direkt vermittelt über die Fetischformen Geld und Kapital kann es nicht geben und es hat sie nie gegeben. Weder im Hoch- noch im Spätkapitalismus.
Neben der Integration der Individuen durch den Produktionsprozess, der Existenz von Klassen, auf die ich hier nicht eingehen kann, spielt der Staat eine wesentliche Rolle. Er tritt als rechtssetzende und rechtsgarantierende Instanz auf. Zugleich ist er dafür verantwortlich, die Gebrauchsgüter, die nicht mehrwertbringend zu erarbeiten sind, herzustellen. Er muss die äußeren Grenzen der – bis heute – nur nationalstaatlich funktionierenden Vergesellschaftung garantieren etc. Der Staat fungiert als eine Art Drohkulisse, er erzwingt die Anerkennung des Vertrages. Zu beachten ist allerdings, dass auch die Macht des Staates grundsätzlich begrenzt ist. Auch er bedarf der fetischisierten Anerkennung und sein Gewaltmonopol wird in dem Moment zur Chimäre, wenn es niemanden mehr gibt, der es für gegeben hält.
Auch mit Markt und (Rechts-)Staat sind die ökonomischen Reproduktionsmechanismen einer Gesellschaft nicht vollständig gefasst. Es haben sich niemals alle Mitglieder des Staates über geldvermittelte Marktprozesse reproduziert. Es gibt viele, die es nicht können: Kinder, Alte, Kranke. Und es gibt auch jene, die die Tätigkeiten ausführen müssen, die gesellschaftlich notwendig sind (also für die Reproduktion der Gattung notwendig sind), aber nicht dem Verwertungsprozess unterworfen sind bzw. waren (traditionell sind das bspw. Hausarbeiten von Frauen). Kurzum: Neben der direkten Reproduktion der Individuen über den Markt und das Geld, muss es eine indirekte Reproduktion geben. Diese indirekte Reproduktion wird durch Umverteilungsprozesse garantiert, die sich zwar am erwirtschafteten Reichtum orientieren müssen, aber in dieser Gesellschaft prinzipiell politischen Entscheidungen unterliegen. Es besteht – mit anderen Worten – ein notwendiger Freiheitsgrad, der direkt aus der Logik kapitalistischer Vergesellschaftung erwächst. Dieser zeigt sich konkret an den großen interstaatlichen Unterschieden bezüglich der Regelung der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums. So ist in Deutschland etwa die Umverteilung oder die Sorge fürs Allgemeinwohl traditionell eher Aufgabe des Staates, während in den Vereinigten Staaten der Charitygedanke viel dominierender ist. Wie die Umverteilung letztlich geregelt ist, obliegt damit Aushandlungsprozessen, die oft genug projektiven Mechanismen gehorchen. Auch hier also spielen Formen der fetischisierten Anerkennung eine entscheidende Rolle, etwa was die Bedeutung des Staates für den Einzelnen und die Bedeutung des Einzelnen für den Staat angeht.
Der dritte wichtige Aspekt, der eine materielle Reproduktion der vergesellschafteten Menschen rein über Markt- und Produktionsprozesse verhindert, liegt in diesen selbst. Die Vergesellschaftung über Geld und Wert ist grundsätzlich ein krisenhafter Prozess, der sich nicht um die an ihm Beteiligten kümmert. Er ist, als automatischer und verselbständigter Prozess nicht unsteuerbar, in seiner Reinform gefasst, aber unmenschlich (im strikten Sinne a-menschlich): da er keinen verhandelbaren Kriterien untersteht, sondern nur sich selbst gehorcht. Für die Individuen, die Ausführende dieses Prozesses sind, heißt das, dass sie Kriterien erfüllen müssen, um am „Spiel“ teilhaben zu dürfen. Nichtteilnahme heißt letztlich psychische und physische Not, Teilnahme zumindest permanenten Druck. „[Die Arbeitskraft] mag noch so qualifiziert und unschuldig an ihrem Los sein und zudem auch noch die Marktlogik durchschauen; der Fluch, dass unverkäufliche Waren keinen Sinn haben, drückt sie gleichwohl nieder.“(1) Insofern kann man zwar – abgesehen von der notwendigen Kritik am Arbeitsfetisch – gern über jene lächeln, die nach den 1 Euro Jobs schreien, sollte sich aber doch nach den Bedingungen dieses Lächelns fragen, die oft genug darin liegen, dass man Teil einer Gemeinschaft ist; der linken Szene.
Es gibt zwangläufig Individuen, die aus der ökonomischen Vergesellschaftung herausfallen, der Prozess der Vergesellschaftung ist für die Individuen damit immer krisenhaft. Mit diesen Menschen, die nicht mehr an der Zirkulation als Besitzer von nachgefragtem Eigentum teilnehmen können, muss umgegangen werden. Im heutigen Sozialstaat (aber selbst im Manchesterkapitalismus war das so) lässt man sie nicht verhungern – sie werden alimentiert und zugleich einer disziplinierenden Prozedur unterworfen. Als Alimentierte sind die Individuen nicht mehr im gerade ausgeführten ökonomischen Sinne vergesellschaftet. Sie stehen in einem Patronageverhältnis zum Staat und sind als Eigentumslose keine Bourgeois, keine ökonomischen Bürger mehr.

Von dem gerade ausgeführten grundsätzlichen Krisenbegriff, der Unmenschlichkeit kapitalistischer Produktion, ist ein zweiter – ökonomischer – unterscheidbar. Eine ökonomische Krise ist gegebenen, wenn der Prozess der wirtschaftlichen Vermittlung selbst stockt; also bspw. in einer Überproduktionskrise. Gerade in solchen Krisen sind staatliche Institutionen ebenfalls gefordert. Die staatlichen Institutionen beschränken sich nicht auf die Rolle einer rechtssetzenden und rahmengebenden Instanz, sie verteilen den gesellschaftlichen Reichtum nicht einfach nur um, zuletzt greift der Interventionsstaat auch direkt in wirtschaftliche Prozesse ein, um die Krisen zu verhindern oder zumindest abzuschwächen. Er schafft Nachfrage, bspw. im Rüstungssektor und setzt als Kreditgeber Investitionsanreize. Er ist damit direkter Akteur des wirtschaftlichen Geschehens.
Die Verteidiger der Rede von der postbürgerlichen Gesellschaft führen genau diese Funktion des Staates als Interventionsstaat, als aktiver Garant der Vergesellschaftung durch den Wert, dafür an, dass der liberale Kapitalismus an sein Ende gekommen sei. Nun müsse von einer „Krisenbewältigung in Permanenz“ (Nachtmann) gesprochen werden, die sich auch im Bewusstsein der Individuen niederschlage. Die Einsicht in das Scheitern der invisible hand und die Notwendigkeit des Staates als Garanten der Marktprozesse führten zu einem Untertanenverhältnis, zu einer Fetischisierung des Staates.
Betrachtet man jedoch die wirtschaftlichen Prozesse und die verschiedenen Funktionen des Staates bei ihrer Reproduktion in ihren historischen Verläufen genauer, lässt sich keine eindeutige Tendenz der Entwicklung feststellen. Ein sich selbst regulierender wirtschaftlicher Prozess und staatliches Eingreifen zu seiner Regulation sind zwei Pole, die seit Anbeginn des Kapitalismus bestanden, mit Ausschlägen nach der einen wie der anderen Seite und mit großen nationalen Differenzen. Setzt man, wie die Postnazismusthese es tut, die bürgerliche Gesellschaft gleich mit einer reinen Vergesellschaftung über den Markt – einem reinen Liberalismus – sitzt man einer theoretischen Konstruktion auf, die es so nie gegeben hat.

Das Prekariat

Größere Bedeutung hat – und jetzt komme ich noch einmal auf die Vergesellschaftung der Individuen über den Markt zu sprechen – die oben bereits kurz angesprochene Entwicklung des Umgangs mit der „Entknappung der Ware Arbeitskraft“, um einmal Soziologendeutsch zu verwenden. Die Auswirkungen dieses Prozesses sind unter Titeln wie dem der „Neuen Armut“ oder des „Prekariats“ beobachtet worden. In seiner Folge entwickeln sich neue Formen der Partizipation am Gemeinwesen, diese sind im analytischen Sinne nicht bürgerlich-gesellschaftlich. Es entwickelt sich eine neue Klasse, die man vielleicht aber auch als Wiederkehr einer alten, des Lumpenproletariats, bezeichnen kann, die jedenfalls nicht mehr über ihre ökonomische Funktion bestimmbar ist. Sie ist in ihrer Reproduktion rechtlich vermittelten Formen von politischer Herrschaft unterworfen, man könnte davon sprechen, dass der Sozialismus als Staatskapitalismus in der westlichen Welt wiederkehrt. Hier also kann man von einer nachbürgerlichen Klasse sprechen, einer Klasse die ihr Selbstbewusstsein per se nicht mehr aus der Stellung im Produktionsprozess beziehen kann. Dies gilt jedoch insbesondere für Deutschland. In England oder den USA „funktioniert“ die Reproduktion dieser sozial Deklassierten nach wie vor über Lohnarbeit: über prekäre Jobs. An dieser Stelle gewinnt also die Frage nach den unterschiedlichen Traditionslinien innerhalb der westlichen Staaten ihre Berechtigung und dies ist die Frage nach dem Postnazismus.
Generell festzuhalten bleibt aber, dass statt von einer Entbürgerlichung der Ökonomie – wie im eingangs erwähnten Zitat von Clemens Nachtmann – zumindest im nachnazistischen Deutschland von einer Verbürgerlichung der Arbeiterklasse gesprochen werden sollte. Marktfunktional – als Besitzer und Verkäufer von Eigentum – betrachtet, war der Arbeiter immer auch Bürger, hinzu kam, dass er mit seinem relativen Reichtum auch ein Bewusstsein davon entwickelte. Dass dies nicht unmittelbar mit einem politischen bürgerlichen Partizipationsinteresse einhergeht, ist dabei kein Widerspruch – ist dieses politische Bewusstsein doch keine unmittelbare Konsequenz wirtschaftlichen Erfolges.

2. Zum politischen Begriff des Bürgers

Zwei Traditionslinien des Politischen

Damit sind wir bei der Frage nach dem Bürger in der politischen Sphäre angelangt. Auf den ersten Blick ist der Begriff hier, eine appellative, emphatische Anrede wie Genosse oder Kamerad. „Bürger“ spricht die Individuen als Teil eines Gemeinwesens, einer Öffentlichkeit oder auch einer selbstgebildeten Assoziation an, denen dieses Gemeinwesen nicht egal ist und die sich als Individuen für dieses einsetzen. Bürger ist dabei ein neuzeitlicher Begriff, seine Träger grenzen sich ab gegen den Adel und das Landvolk, besitzen ein antifeudales Verständnis, partizipieren aktiv am Gemeinwesen und sind als Stadtbewohner ökonomisch an den Austausch gebunden. Die mittelalterliche Stadt ist nicht umsonst eine der Brutstätten des Marktes. Mit dem Begriff Bürger ist damit immer ein gewisses Selbstbewusstsein verbunden. Bürger ist derjenige, der in der Lage ist, seine Geschicke und die Geschicke seiner Stadt in den eigenen Händen liegen zu sehen. Der Bürger versteht sich als Teil eines demokratischen Gemeinwesens.
Mit diesen Bestimmungen wird sogleich die ideologische Komponente deutlich, die mit dem bürgerlichen Selbstbewusstsein verbunden ist. Denn natürlich ist es mit dem autonomen Handeln des Bürgers in freier Partizipation am allgemeinen Wohl so weit nicht her. Die Idee, dass die Bürger selbstbestimmt und autonom die Geschicke ihres Gemeinwesens in die Hand nehmen, ist darüber hinaus nur eine Traditionslinie des Politischen (die theoretisch in bestimmten Spielarten des politischen Liberalismus ihren Niederschlag findet), sie ist nicht zwangsläufig an eine Marktvergesellschaftung gebunden, geht also über eine funktionale Bestimmung der gegenwärtigen Gesellschaft hinaus. Verwirklicht findet (oder fand) sie sich vor allem in den Vereinigten Staaten und zwar einerseits, was die Staatsgründung anbetrifft, die tatsächlich als (bewusste) Neuschöpfung einer Institution begriffen wurde, als auch auf der kommunalen Ebene der Selbstverwaltung. Nicht umsonst sind die Vereinigten Staaten als „Gesellschaft ohne Staat“ bezeichnet worden. Auch wenn diese Aussage gründlich falsch ist – schließlich ging es den amerikanischen Verfassungsvätern wesentlich um die Konstituierung eines starken Staates und stabiler Institutionen – wird darin doch deutlich, dass sich hier ein Verständnis des Politischen findet, welches sich eng an einen Begriff von Gesellschaft koppelt, der nicht ökonomisch verstanden werden kann. Der Citoyen ist hier am Allgemeinwohl seines Gemeinwesens interessiert und zwar nicht aus falscher Identifikation mit diesem, sondern im Bewusstsein der Notwendigkeit der Partizipation bzw. überhaupt seiner Konstituierung. Bürger in diesem Sinne sind nicht staatshörig, sie verstehen sich als kritische Öffentlichkeit, als Zivilgesellschaft etc. Diesem Begriff des Bürgers entspricht eine Vorstellung von Gesellschaft in ihrem ursprünglichen Wortsinne. „Der Begriff „Gesellschaft“ selbst aber wurde formuliert erst im Zuge der Erhebung des neuzeitlichen Bürgertums als der eigentlichen ‚Gesellschaft’ gegen den Hof.“(2) Als solcher war er – und ist es streckenweise heute noch – ein Oppositionsbegriff gegen den Staat (den damaligen Absolutismus).
Der Absolutismus ist als einer der Ursprünge der Traditionslinie zu bezeichnen, die den Staatsbürger oder Citoyen als Untertanen fasst und in der der Staatsbürger sich zugleich mit diesem Staat, in welcher Form auch immer symbolisiert, identifiziert. Seine theoretische Begründung findet dies in der Notwendigkeit des Souveräns, der als Überwinder der Krise, als Meister über den Ausnahmezustand gedacht wird. Der Staat ist dabei verstanden als abstrakte Macht, die sich einer Teilnahme an ihr entzieht. In diesen Bestimmungen bilden die Bürger keine kritische Öffentlichkeit, sondern sind den Verkündigungen des Staates hörig, bzw. antizipieren sie in einem vorauseilenden Gehorsam.
Wichtig ist, dass die beiden – hier nur kurz skizzierten – Bestimmungen des Bürgers als Teil einer Öffentlichkeit bzw. als Untertan, erst einmal nur analytisch voneinander geschieden sind. Welche dieser Formen sich dann tatsächlich in einem Gemeinwesen durchsetzt, bzw. als die Bestimmende angesehen werden kann, ist systematisch wohl nicht zu beantworten, sondern ist Frage der jeweiligen Traditionen. So ist der öffentliche Raum in Amerika Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung die sich in vergleichsweiser Ruhe vollziehen konnte. Tatsächlich war hier die Möglichkeit gegeben, dass sich neue Institutionen bilden konnten und zwar in einem relativ bewussten und von Diskussionen begleiteten Prozess. Diese Möglichkeit gab es in weiten Teilen Europas nicht, da hier immer bereits eine Auseinandersetzung mit dem Alten (also mit dem Absolutismus) stattfand.

Die Schwierigkeiten des Postfaschismustheorems mit der formalen Demokratie

Allerdings sind Traditionen kein Schicksal, d.h. – um wieder auf die Frage nach dem Postnazismus zu kommen – das pure Vorhandensein einer volksgemeinschaftlichen Tradition in Deutschland heißt eben nicht zwangsläufig, dass sich hier keine zivilgesellschaftlichen Traditionen herausbilden können. Als Fatum jedoch wird die nazistische deutsche Tradition von antideutscher Seite oft genug behandelt. Das postfaschistische Subjekt ist dann von vornherein nicht zur Emanzipation – nicht einmal zur bürgerlichen – fähig. Es ist zum Antisemitismus, zum Dasein in der Volksgemeinschaft, verdammt. So schreibt Clemens Nachtmann: Demokratie zu fordern „kann nichts anderes heißen als Ermutigung zur Selbstjustiz und Aufforderung zum Amoklauf“ (Grigat 2003, 75). Dies führt in die absurde Logik, nach der das einzige, was gegen den deutschen Mob helfen würde, der starke, autoritäre Staat sei, der seine Bürger vom Pogrom und vom Amok abhält. Als Ausweg aus diesem Dilemma erscheint dann nicht mehr das eigene Handeln, sondern das Warten auf den Messias. Diesem Warten ist kein blinder Aktionismus entgegenzusetzen, jedoch die Einsicht in die prinzipielle Offenheit der Geschichte.

Auch mit der formalen, repräsentativen Demokratie in Deutschland tut sich das Postfaschismustheorem schwer. Die Strukturen der formalen Demokratie, die sich in der Bundesrepublik in den letzten 60 Jahren herausgebildet haben, werden streckenweise negiert.
Natürlich wäre es grundfalsch, nationalsozialistische und staatsfixierte Traditionen in Deutschland zu leugnen. Die Konstitution einer deutschen Opfergemeinschaft ist nach wie vor ein akzeptiertes und betriebenes politisches Modell (Dresden). Ebenso gibt es immer wieder Versuche, die eigene Nation als Gemeinschaft gegen ein halluziniertes Außen abzugrenzen. Hier wäre etwa Müntefering zu nennen und seine Hetzreden gegen den „parasitären Finanzkapitalismus“ oder auch die Versuche, Arbeitslose als Faulenzer abzustempeln – Versuche, die vom Staat betrieben werden (Report vom Arbeitsmarkt vom BMWA), aber auch von „Bild“ – und dass „Bild“ sie bringt, ist immer noch der beste Beweis dafür, auf wie fruchtbaren Boden sie fallen. Jedoch sind diese Beispiele kein Ausdruck einer dominierenden Tendenz. Sie sind Momente eines politischen Betriebes, innerhalb dessen sich auch beliebig Gegenbeispiele finden lassen. So wurde der populistische Versuch Schröders, an der Macht zu bleiben, letztlich zurückgewiesen: die Presse hat hier ihre demokratische Kontrollfunktion durchaus erfüllt und bestand auf den formalen Errungenschaften der Demokratie. Ebenso steht mit Angela Merkel eine Kanzlerin an der Spitze des Staates, die das Gegenbild eines populistischen Führers ist – Haider hat sich als paradigmatisches Modell (bislang) nicht durchgesetzt.
Auch wenn dies noch nicht viel heißt: Deutschland war noch nie so zivilisiert wie heute. Die Herrschaft in ihrer demokratischen Gestalt funktioniert. Die Institutionen der kritischen Öffentlichkeit funktionieren. Es droht kein neuer Griff zur Weltmacht. Auch die immer wieder aufflackernden Konflikte zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sind harmlos – verglichen etwa mit der Blockkonfrontation, die noch vor 20 Jahren existierte.

Exkurs zur Ambivalenz der Instituierung

Wichtig scheint noch die folgende Bemerkung, die sich dem Dualismus von Untertan und engagiertem Bürger jedoch ein Stück weit entzieht. Letztlich hat nämlich dasjenige, was als öffentlicher Raum verteidigt wurde oder auch nicht, schon lange eine institutionalisierte Form gefunden (und institutionalisiert heißt immer auch: Aufgabe von Autonomie). So bietet die Presse, als vierte Gewalt, das Forum für die kritische Öffentlichkeit, sie ist das Forum aber nicht für Jedermann, sondern für die Experten der kritischen Öffentlichkeit, also für Journalisten. Die Institutionalisierung der Öffentlichkeit ist dabei von größter Bedeutung für die Stabilität der repräsentativen Demokratie. Sie entlastet die Individuen zum großen Teil von einer eigenen Partizipation an politischen Prozessen. Eine wesentliche und relativ neue Form dieser institutionalisierten Partizipation sind die NGO’s. Sie sind der Hort bürgerlichen Engagements heute. Sie stabilisieren das herrschende Institutionengefüge, nach der einen Seite binden sie Protest und Kritikpotenzial ein, nach der anderen dienen sie aber auch als (mehr oder weniger gut funktionierendes) Korrektiv staatlichen und wirtschaftlichen Handelns. Sie sind als Teilnehmer am öffentlichen Diskurs kulturindustriellen Mechanismen verpflichtet, leiden von daher wie die Presse unter dem Problem der Vermittlung von Inhalten, können aber intern Expertenwissen anreichern. Dabei funktionieren NGO’s wie jede andere Lobby auch, d.h. sie sind demokratischen Spielregeln nur bedingt verpflichtet, ziehen aber als Institutionen zugleich gegen Forderungen nach unmittelbarer Herrschaft eine Art „Zwischendecke“ ein. Sie reproduzieren die alte Form des Cliquenwesens, wenn auch mit moralisch teilweise berechtigtem Anspruch.

3. Der bürgerliche Sozialcharakter

Die Rede von einer nachbürgerlichen Gesellschaft, versteht man unter ihr mehr als das Ende einer spezifischen Schicht der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und deutet sie als die Entwicklung einer neuen Barbarei, ist falsch. Es kann letztlich keine Rede davon sein, dass sich nur im klassischen Bürgertum reflektierende und kritikfähige Individuen haben finden lassen. Dies findet seine Begründung im dritten Teil des Vortrags, der – in einer dem Thema eigentlich unangemessenen Kürze – die Frage nach der Subjektkonstitution behandelt.

Die Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Sozialcharakter ist auch und zuerst eine Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie. Die beiden heute als zentral geltenden Begriffe des autoritären Charakters und des narzisstischen Charakters, die das Individuum hinsichtlich seiner psychischen Konstitution fassen sollen, stehen dabei von vornherein in einer doppelten Beleuchtung. Denn zum einen befragen sie das Individuum auf seine Anfälligkeit für faschistische Krisenlösungen, zum anderen sind sie Versuche, den bürgerlichen Charakter an sich zu fassen. Dies führt in ein Paradox: Das durch die gesellschaftlichen Zwänge und ihre erzieherische Vermittlung stets beschädigte Individuum gilt auf der einen Seite generell als ich-schwach und autoritär, also als misslingender Charakter. Auf der anderen Seite bezeichnet das „Verschwinden des Subjekts“ eine Tendenz der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, die mit dem Nationalsozialismus nur ihren bisherigen traurigen Höhepunkt erlebte. Dies setzt eine zumindest partiell gelingende Individuierung in Zeiten des sog. Hochkapitalismus voraus.
Der Widerspruch wird auch im folgenden Teil des Vortrages nicht gelöst werden können und er soll auch nicht mit dem Titel „dialektisch“ geadelt werden. Angedeutet werden sollen aber die Schwierigkeiten der Rede von der Tendenz des „Verschwindens des Subjekts“.
Die Frage nach der Subjektkonstitution ist zu komplex und vielschichtig um sie hier befriedigend und systematisch abhandeln zu können. Diskutieren kann ich sie nur in einigen Aspekten. In Frage steht dabei immer die Möglichkeit der Reflexion und Kritik des Individuums. Waren diese Fähigkeiten beim klassischen Bürgertum ausgeprägter als heute? Hat also der emphatische Begriff des Bürgers und damit der der bürgerlichen Gesellschaft einen guten Sinn? Oder ist er nicht eher ein schlechtes Stück Teleologie, die von einem Höhepunkt im späten 19. Jahrhundert ausgehend Verfallsgeschichte schreibt? Ist schließlich eine Disposition wie die Reflektionsfähigkeit überhaupt aus gesellschaftlichen Strukturen, ökonomischen Bedingungen und familiären Verhältnissen ableitbar?

Der autoritäre Charakter als Verfalls- oder als Normalform der bürgerlichen Gesellschaft?

Max Horkheimer konstatiert in seinen in den dreißiger Jahren veröffentlichten Aufsätzen den Untergang des selbständigen Bürgertums. Im freien Referat: Eine kritische Öffentlichkeit existiert nicht mehr, statt dessen herrschen Massenmanipulation und Volksgemeinschaft. Die Form bürgerlicher Rationalität und die damit verbundenen Ideen der Aufklärung sind an ihr Ende gekommen. Die Individuen sind zu Untertanen geworden oder zu konformistischen Rebellen, die der (selbst-)mörderischen Versöhnungsidee der Nationalsozialisten folgen. Das freie und autonome Individuum, das sich widerständig gegen Massenbewegungen wie gegen Staatswillkür verhalten kann, sei verschwunden. Als guter Marxist, der Horkheimer in den 30er Jahren noch war, konnte dies nur bedeuten, dass die ökonomischen Bedingungen, die dem Bürgertum eine relative Autonomie ermöglichten, ihr Ende gefunden hatten.
Horkheimer hat, wenn er von Bürgertum spricht, die spezifische Schicht des freien Unternehmertums vor Augen. Diese begreift er mit dem angenommenen Ende des Konkurrenz- und mit dem Sieg des Monopolkapitalismus als absterbend. Durch seine wirtschaftliche Macht und der daraus resultierenden Autonomie, konnten sich die Angehörigen dieser Schicht zu allseitig interessierten und vor allem urteilsfähigen Individuen ausbilden. Mit dem Aufkommen des Monopolkapitalismus verschwanden diese Freiräume und letztlich auch die Kritikfähigkeit der Individuen. Diese seien von da an ökonomischen Mechanismen und staatlichen Zugriffen wesentlich direkter ausgesetzt.
Nun ist die Rede vom Ende des Konkurrenzkapitalismus jedoch hoch problematisch und interessanter als die ökonomischen Ausführungen Horkheimers und völlig zu recht auch viel stärker diskutiert, sind die Überlegungen der Kritischen Theorie zu den psychologischen Mechanismen, die die Individuen anfällig für den Nationalsozialismus machten. Es stellte sich die Frage, welche Bedingungen der Subjektkonstitution die Staatsbürger zu Untertanen und potenziellen Volksgenossen und welche sie zu kritischen Bürgern machten. Dies sollte die Theorie des autoritären Charakters leisten.
Als deren Schlüssel galt die Veränderung der bürgerlichen Familienstruktur und damit einhergehend die Erziehung der Kinder. Familie war in ihrer klassisch patriarchalen und damit bürgerlichen Gestalt, Sozialisationsinstanz für die vermittelte Gesellschaft. In ihr wurde genau jene Unterwerfung und Disziplin eingeübt, die es den Erwachsenen dann erlaubte, sich als Glied in den arbeiteiligen Gesamtzusammenhang einzufügen. Die bürgerliche Familie besaß jedoch einen spezifischen Überschuss, indem sie auch einen Rückzugsraum bot, der vor dem direkten staatlichen und gesellschaftlichem Zugriff schützte. Die Kinder konnten in Auseinandersetzung mit dem Vater ein eigenes Selbstbewusstsein ausbilden, welches sie davor bewahrte, sich jeglicher Autorität anheim zu geben. Zugleich erfuhren sie durch die Mutter partiell Liebe und Zuneigung, die einen Erfahrungsraum schufen, den die späteren Erwachsenen als Kraftquelle nutzen konnten.
Mit der Krisis der Familie, deren Beginn die Kritische Theorie in Deutschland mit dem Ende des ersten Weltkriegs datiert, war jener Rückzugsraum bedroht. Der Vater war wegen der grassierenden wirtschaftlichen Erfolglosigkeit nicht mehr jene Autorität, die die Bildung eines internalisierten Gewissens erlaubte. Ohne dieses Über-Ich wird das Festhalten an Autoritäten zum einzigen festen Bezugspunkt des Kindes und später des Erwachsenen, es ist gezwungen sich an diesen zu orientieren, und nicht in der Lage, von einem eigenen Standpunkt aus, die von außen vorgegebenen Werte und Normen zu hinterfragen. So wird das Individuum anfällig für faschistische Propaganda, zumindest dann, wenn die bisher geltenden bürgerlichen Werte – etwa infolge wirtschaftlicher Krisen – selber fragwürdig werden.
So weit in nuce einige Aspekte der Theorie des autoritären Charakters. Abgesehen von der gleich zu behandelnden Frage, inwieweit der autoritäre Charakter heute noch die dominierende gesellschaftliche Position innehat, stellt sich die Frage, ob die Verfallsgeschichte die die Kritische Theorie von der gelingenden Individuierung in der bürgerlichen Kleinfamilie hin zu einer Auflösung dieser Form zeichnet, stimmig ist. Wir stoßen hier wieder auf den oben bereits erwähnten und im Textcorpus der kritischen Theorie zu findenden Widerspruch, wonach auch im klassischen Bürgertum mit seiner funktionierenden Kleinfamilie die Individuen sich nur sehr bedingt durch kritisches Denken hervortaten. Tatsächlich war das Ende des 19. Jahrhunderts, in Deutschland zumindest, eine Hochzeit des Antisemitismus, Rassismus und Sozialdarwinismus. Die Formen von Kunst und Kultur, waren zwar nicht in einen kulturindustriellen Kontext eingebettet, wie sie dies heutzutage allenthalben sind. Aber sie unterstanden nicht minder problematischen überkommenen Vorstellungen von Größe und Traditionsbewahrung. Reflexiv wurden sie erst später.
Ebenso stellt sich die Frage, auf welche gesellschaftlichen Schichten die Theorie des autoritären Charakters und der Bedeutung der Kleinfamilie überhaupt zutreffen konnte. So oblag die Erziehung der Kinder im Bürgertum keineswegs immer der Mutter, sondern oft genug Bediensteten wie dem Kindermädchen. Die Arbeiterfamilie, die einen beträchtlichen prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachte, entsprach den Maßstäben einer funktionierenden Kleinfamilie noch weniger. Fraglich, wie sich hier nach den soziologischen und psychologischen Kriterien der Kritischen Theorie überhaupt ich-starke und kritische Subjekte haben herausbilden können.
Folgt man solchen Einwänden, steht damit aber auch die Bedeutung des Verfalls von Familienstrukturen für den Faschismus in Frage.

Der narzisstische Charakter und die These der Flexibilisierung

Nun steht die Theorie des autoritären Charakters, abgesehen von ihren Widersprüchen, auch in ihrer aktuellen Geltung in Frage. Ihre Ablösung oder doch zumindest Spezifizierung durch die Beschreibung des heutigen Sozialcharakters als narzisstisches Individuum haben viele AutorInnen vollzogen, die sich in der Tradition Kritischer Theorie sehen.
Gesellschaftlich gefordert ist nicht mehr jene Unterwürfigkeit unter äußere Autoritäten, wie sie sich in der Radfahrernatur, die Sinnbild des autoritären Charakters ist, niederschlägt. Auf dem Arbeitsmarkt ist keine widerspruchsfreie Anpassung gefordert, vielmehr der stets kritische und selbstbewusste Umgang mit dem übertragenen Aufgabenfeld. Dies verlangt nach einer Identifikation mit dem Job, aber nicht nach einer Identifikation mit dem Vorgesetzten. Die Identifikation soll als Selbstverwirklichung begriffen werden, die zugleich immer nur eine auf Zeit ist, d.h. die Identifikationen müssen einander ablösen können. Damit verbunden ist die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die keinen starren oder rigiden Charakter verlangt, sondern eine Art von Objektlibido, die jederzeit rückziehbar sein muss und damit das Individuum immer wieder auf sich selbst verweist. Insofern findet eine neue Art der Individuierung statt, eben narzisstischer oder manipulativer Typus genannt.
Diese neue Art der Anpassung, der Anpassung auf Zeit, sei gekoppelt an das Fehlen eines Gewissens oder Über-Ichs. Zu langfristigen emotionalen Bindungen sei der narzisstische Charakter kaum noch fähig, sein Lebenslauf ist fragmentiert und diskontinuierlich. Die Ausbildung des „charakterlosen Charakters“, wie er auch genannt wird, korrespondiere mit der Ablösung der klassischen Familie durch andere Erziehungsformen, insbesondere jedoch mit dem direkten Zugriff gesellschaftlicher Institutionen auf das Kind. Statt eines heimeligen Rückzugsraums, bestimmt durch die Stärke des Vaters wie durch die Liebe der Mutter als Sozialisationsinstanzen, herrschten nun Fernsehen und die Identifikation mit der jeweils angesagten Marke. In der Schulzeit dem direkten Cliquendruck ausgesetzt und später von einem prekären Job zum nächsten gehetzt, fänden die Individuen ihre Befriedigung nur noch im gerade medial angesetzten Event – also bspw. in der Fußballweltmeisterschaft. Der dort aufflackernde Massentaumel sei jedoch kein Ersatz für einen gelingenden Lebenslauf, die Befriedigung nur äußerlich und nicht aus eigenen Leistungen erarbeitet. Selbst wenn man solche vorweisen könne, wäre sich aber das Individuum der Prekarisierung seiner Existenz stets gegenwärtig. Angstgefühle beherrschten es, das Scheitern eigener Bemühungen und der fehlende Background von Freundeskreis und Familie führten schließlich zum „Austicken“ des Subjekts – die Zunahme der Amokläufe im letzten Jahrzehnt dokumentiere dies.
Ohne Zweifel erfassen solcherlei Einschätzungen wichtige Aspekte in der Änderung der Charakterstruktur des Subjekts. Dennoch ergeben sich auch hier eine Vielzahl von Fragen. So erscheint es problematisch, eine ganze Gesellschaft hinsichtlich ihrer Erziehungsformen unter einen Begriff bringen zu wollen.
Denn neben der These von der Vergleichgültigung der Erziehung und des Rückzugs der Eltern von ihren Aufgaben, steht auf der anderen Seite das Reflexivwerden der Erziehungsformen. Die Erziehung, die im klassisch bürgerlichen Zeitalter noch mehr oder weniger fraglos war, wird durch alle möglichen gesellschaftlichen Instanzen problematisiert. Dies ist nun nicht in jedem Fall zum Leidwesen des Kindes. Das Abschleifen oder Reflexivwerden der vermittelten Normen und Werte und die weniger rigiden Erziehungsstile besitzen einen Doppelcharakter, der vielleicht auch mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten korrespondiert. So wird auf die Bedürfnisse des Kindes heute oftmals mehr Rücksicht genommen und es ist von daher freier. Die Erziehungsformen, die sich heute durchsetzen oder zumindest propagiert werden, befragen das Kind ständig auf seine Eigeninteressen, suchen seine Eigeninitiative zu fördern und trainieren sein konstruktives Konfliktverhalten. Auf der anderen Seite verfügt das Kind aber vielleicht noch gar nicht über jenes Selbst, was da gefördert werden soll. Von daher wird es sowohl durch das nichtfamiliäre unmittelbare Umfeld, wie auch durch mediale Einflüsse stärker geprägt. Spätestens hier ist also ein Exkurs zur Kulturindustrie nötig, der sich aber auch noch aus einem anderen Grund ergibt.
Denn in Frage steht auch die Bedeutung der Flexibilisierung als gesamtgesellschaftlicher Tendenz selbst. Die Formen der Individuierung spielen sich nicht mehr allein im Feld Familie-Arbeit, sondern mehr und mehr auch im Bereich der Freizeit ab. Diese disponible Zeit, die sich aus der Entwicklung der Produktivkräfte ergibt, hat eine bestimmte Form angenommen. Sie erscheint fast dominanter als der Zwang zur Arbeit. Hat die Kulturindustrie also dem kritischen Subjekt endgültig den Todesstoß versetzt? Treibt es von einem Erlebnis zum nächsten, von einem Adrenalinstoß zum anderen?

Die Kulturindustrie

Die Kulturindustrie verdankt sich dem Übergreifen der Ökonomie auf die vordem nicht warenförmige Sphäre der Freizeit, die sich jedoch zugleich auch erst im Laufe der kapitalistischen Entwicklung selbst herausbildetet. Man könnte diese Entwicklung die „Entdeckung des Konsumenten“ nennen. Die privaten Lebenswelten der Menschen – die bis dato relativ marktfern gewesen waren – wurden auf deren Bedürfnisse abgegrast. Ein Produkt dieser naturwüchsigen Suche nach neuen Absatzmärkten war die Kulturindustrie, die die Freizeit als potenzielle Ware entdeckte und die Güter der Freizeit in Warenform brachte.
Die Kulturindustrie auf ihren Begriff gebracht zu haben, war der Anspruch der Kritischen Theorie. Die Kulturindustrie galt als wesentliche Ursache der Entindividualisierung des Bürgers und des Absterbens seines kritischen Impetus. Einige Fragen ergeben sich jedoch auch hier. Zum einen war die Freizeit vor der Entwicklung der Kulturindustrie kein freier oder unnormierter Bereich. Zum anderen hat die Kulturindustrie sich als flexibler herausgestellt, als Adorno und Horkheimer dies noch anzunehmen schienen. Sie ist nicht in jeder ihrer Ausführungen strukturkonservativ. Ihre äußerste Grenze ist tatsächlich die, dass sich ihre Produkte verkaufen müssen, d.h. neben der Manipulation des Bewusstsein der Massen ist sie ebenso fähig, neue Entwicklungen in sich aufzunehmen. Sie deckt die Möglichkeit einer Kritik ihrer selbst problemlos ab. Das Neue – verwiesen sei auf die Entwicklung des Pop in allen seinen Spielarten – ist Hinweis darauf, dass die Welt sich so total nicht verwalten lässt, wie Horkheimer und Adorno dies oftmals formulierten. Eine konfliktfreie Gesellschaft bleibt eine Chimäre und solange diese Konflikte bestehen, werden sich auch immer wieder neue Formen bilden, die mit diesen umzugehen suchen. Die Kulturindustrie reproduziert keine stromlinienförmigen Individuen. Sie hat dies nicht nötig. Die Chancen menschlicher Entfaltung sind eingegrenzt auf den Markt der Möglichkeiten, aber sie bleiben eben doch Möglichkeiten. Dieser entscheidende Unterschied zu totalitären Gesellschaften besteht nach wie vor. Die Kulturindustrie ist also kein Abgesang auf die Form bürgerlicher Vermittlung oder das bürgerliche Subjekt, eher ihr konsequenter Ausdruck.

Was ist gelingende Individuierung?

Die These vom Verschwinden des Individuums erscheint letztlich als fragwürdig. An welchem Maßstab wäre sein Verschwinden zu messen? Ohne Zweifel sind weder wir, noch waren es die klassischen Bürger, autonome Individuen in dem Sinne, dass wir über die Formen unseres Zusammenlebens verfügen. Ohne Zweifel sind wir, gemessen am Ideal des Ich-starken und autonomen Individuums, das sich mit seinen Ansprüchen und Anforderungen im Einklang befindet und stets darüber reflexionsfähig ist, Ich-schwach. Ohne Zweifel auch, sind die heutigen Möglichkeiten der Individuation im hohen Grade von der Gesellschaft vorgegeben, und durch das Vermittlungsrad des Kapitals hindurch fremdbestimmt. Doch was sagt das über die generelle Möglichkeit der Kritikfähigkeit der Individuen? Zum einen wäre die Frage zu stellen, was Kritikfähigkeit überhaupt heißt. Zum Kritiker der Gesellschaft bringen es heute die wenigsten, aber dies war vor 150 Jahren nicht anders und sicher lassen sich dabei keine deterministischen Prozesse ausmachen, die dies vorherbestimmen. Sind die heutigen Individuen dann wenigstens demokratiefähig? Individuiert, das heißt auf sich zurückgeworfen, werden sie durch die heutige Form gesellschaftlicher Verfasstheit vielleicht mehr noch als im sog. Hochkapitalismus. Und eine solche Vereinzelung, die immer mit der Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Institutionen zu tun hat, also dem Nicht-Selbstverständlichsein der Einrichtung der Gesellschaft, ist zumindest wesentliche Voraussetzung der Reflektion auf die gesellschaftlichen Formen. Es gibt in dem Sinne keine vollständige Integration in die Gesellschaft und es ergibt sich für die Individuen so immer die Möglichkeit der Reaktion. Diese kann in pathologischen Projektionen wie dem Antisemitismus bestehen und wesentliche Teile der Bevölkerung werden weiterhin einen solchen Weg wählen. Doch setzt dieser eine Individuierung bereits voraus. Dem entgegen stehen jedoch einerseits die relativ stabilen gesellschaftlichen Institutionen, über den Staat bis zur Presse, wie auch die pazifizierten Eliten, die vielleicht zu einem Appeasement gegenüber dem Islam fähig sind, nicht jedoch zu einem eliminatorischen Antisemitismus.

Exkurs zum Antizionismus

In der inhaltlichen Ausprägung der projektiven Charakterstruktur hat sich eine entscheidende Veränderung ergeben. Es ist die Verschiebung vom Antisemitismus zum Antizionismus, der keineswegs nur eine Camouflage alter antisemitischer Stereotype zu sein scheint. Antizionismus ist nicht unbedingt vom Hass auf Juden getrieben, er ist nicht einmal immer Hass auf Israel als Staat an sich. Er ist vielmehr ein Hass auf Israel als kolonialistischer Staat und als souveräner Staat. Die Projektionsleistung, die sich im Hass auf Israel vollzieht, ist am ehesten mit dem klassischen Antiamerikanismus zu vergleichen. Mir scheint folgender Zusammenhang gegeben: Während der Hass auf die Juden als Versuch der Welterklärung der modernen Gesellschaft erscheint, dem anonymen Wirtschaftsgeschehen damit ein verzerrtes aber konkretes Gesicht gegeben wird und den Antisemiten in die Lage versetzt, sich ein harmonisches Ganzes zu erträumen (und dies mörderisch in die Tat umzusetzen zu versuchen), ist der Hass auf Israel und die Vereinigten Staaten Projektion und Abspaltung des wesentlich schuldhaften Handelns der Individuen als Staatsbürger auf Andere – auf Israel und die USA. Erträumt wird sich im Antizionismus und im Antiamerikanismus die harmonische Weltgesellschaft, als Gesellschaft gleichberechtigter Völker und Nationen die keines Souveräns bedürfen, der sie von kriegerischen und feindseligen Akten abhält. Die Sehnsucht nach einer solchen Weltgemeinschaft findet sich manifestiert in Institutionen wie der UNO und dem Menschenrechtgerichtshof in Den Haag. Diese sind Versuche, das zwischenstaatliche Handeln unter allgemeinverbindliche Rechtsgrundsätze zu stellen und Rechtsbrüche allein durch die Kraft der Vernunft und der aus ihr resultierenden Anerkennung der Gesetze zu ahnden. Diese Idee, die in letzter Zeit bspw. durch Habermas und Derrida prominent gemacht wurde, ist keineswegs in allen Belangen absurd, sie wird aber absurd in dem Moment, in dem ein Staat den Konsens der Vernunft bricht und nach seinen eigenen Grundsätzen handelt. In diesem Moment bedarf es eines Gewaltmonopols, der diesen Staat in die Staatengemeinschaft zurückholt. Über die dazu benötigte Militärmacht verfügen nur Staaten, federführend ist hier die USA. Eine Weltgemeinschaft der Staaten kann es aber auch schon aus dem puren Eigeninteresse der Staaten nicht geben, in zwischenstaatlichen Konflikten agieren diese nach wie vor meist souverän.
Die Sehnsucht nach der Weltgemeinschaft ist also eine Illusion. Projektiv wird sie in dem Moment, wenn das notwendigerweise schuldhafte Handeln der Staaten, das eben auch qua Teilnahme am Staat als Staatsbürger ein notwendigerweise eigenes schuldhaftes Handeln ist, nur bestimmten Staaten zur Last gelegt wird. Genau dies scheint mir beim gegenwärtigen Antizionismus und Antiamerikanismus der Fall.
Recht gut lässt sich dies an den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg nachweisen. Es trat bei den Friedensdemonstranten keine autoritäre Charakterstruktur zu Tage, sie handelten nicht aus volksgemeinschaftlichen Motiven heraus. Bei den Friedensdemonstranten, wie auch beim grassierenden akademischen Antizionismus sollte man eher von einem moralischen Rigorismus sprechen, der die Politik als Sphäre moralischen (und nicht etwa pragmatischen) Handelns begreift. Das heißt aber auch, dass die Friedensdemonstranten wie auch ein großer Teil der europäischen Intelligenz, durchaus über ein Gewissen oder Über-Ich verfügen, nur ist dieses rigide ausgeprägt, das Ich bleibt ohne Urteilskraft. Ein entscheidendes Moment für dieses Versagen der Urteilsfähigkeit ist dabei der Umgang mit der eigenen schuldhaften Tradition, d.h. hier: dem Kolonialismus (Europa) und dem Antisemitismus (Deutschland). Antizionismus und Antiamerikanismus sind damit im hier verstandenen Sinne europäischer Provinienz. Sie sind nur zum Teil aus einer postfaschistischen Tradition heraus zu begreifen. Sie sind der projektive Umgang mit der eigenen schuldbeladenen Tradition, die abgespalten und auf die USA und auf Israel projiziert werden. Sie sind das blinde Anrennen der Einzelnen gegen die Notwendigkeit des Souveräns, ohne Einsicht darin, dass sie selber immer schon einen Souverän, den eigenen nämlich, konstituieren.
Mit seiner Sehnsucht nach einer harmonischen Weltgemeinschaft eignet dem heutigen Antizionismus und Antiamerikanismus ein Moment heilsgeschichtlichen Denkens, welches, da es sich unter Abspaltung eines Fremden konstituiert, ein abstraktes Vernichtungspotenzial. Die Erlösung soll nur möglich sein, wenn die „Schurkenstaaten USA und Israel“ ihre gegenwärtige Politik aufgeben. Allerdings kann sich dieses Potenzial – nimmt man die europäischen Vordenker einer Weltstaatengemeinschaft ernst – nicht aktualisieren, denn eine Weltstaatengemeinschaft ist nicht über einen Kampf aller gegen alle zu installieren (dies wäre in etwa die Vorstellung Goebbels gewesen), sondern über den freien Diskurs.

4. Noch einmal die Frage: Was ist Postnazismus?

Nach diesen Ausflügen in die Welt der Ökonomie, Politik und des Subjekts, die allesamt Aspekte des Postnazismustheorems zumindest betrafen, zum Abschluss noch einmal direkt zu diesem.
Prinzipiell stellt sich dem Postnazismustheorem das Problem, dass es auf mittlerweile entscheidende Fragen, wie der, warum es ein europäisches Appeasement mit dem Islamismus gibt und kein deutsches oder der, warum es einen europäischen Antisemitismus und Antiamerikanismus zu bekämpfen gilt und keinen deutschen, von vornherein nicht antworten kann.
Seine Grundfrage nach dem „strukturellen Fortwesen“ (Grigat) des Nazismus in den gesellschaftlichen Strukturen und im Bewusstsein der Individuen kann man in zweierlei Hinsicht lesen: einmal als Hinweis auf die tatsächlich nach wie vor vorhandenen faschistischen oder nazistischen Gesellschaftsstrukturen und Bewusstseinsformen, als Warnung vor diesen und vor ihrem Auftauchen aus der Latenz. Zum andern kann man diese Fortwesen aber auch als einen Begriff verstehen, der das Wesentliche der hiesigen Gesellschaft fassen soll. Soweit letzteres der Fall, soll ihm hier opponiert werden. Ohne weiteres ist dies allerdings nicht möglich. Denn mit Auschwitz ist tatsächlich die Rede vom Wesentlichen dieser Gesellschaft fragwürdig geworden. Es sind an dieser Stelle gerade die zwei Imperative kritischer Gesellschaftstheorie in Einklang zu bringen. Der Adornitische und der Marxsche. Von diesen her, je nachdem, worauf man den Schwerpunkt legen möchte oder muss, verschiebt sich auch die Kristallisation des Wesentlichen – also die Frage, woran man seine Begriffe bildet und wovon man abstrahiert. So ist unter dem Diktum, dass nach Auschwitz alles unter seinem unheilvollen Stern stehe, auch die Analyse der postnazistischen Gesellschaft als solcher notwendig. Jedoch gerät dabei das, was man euphemistisch als Normalbetrieb bezeichnen könnte, aus dem Blickfeld. Und die (West-)Deutschen leben, trotz aller Tendenzen des Fortwesens, seit 60 Jahren in diesem Normalbetrieb. Selbst die Wiedervereinigung hat daran nichts geändert. Gerade dies verweist aber auf eine der Problematiken des Begriffs Postnazismus, der eben auch, darin durchaus dem Krisenbegriff der dahingeschwundenen Krisisgruppe verwandt, alarmistisch sein kann, d.h. eine Produktion von Panik im schlechten Sinne darstellt. Argumentiert wird im Grunde genommen immer nur mit der Möglichkeit des Auftauchens des Nazismus aus seiner Latenz. Diese Möglichkeit jedoch ist eine abstrakte und auch die populistischen Führergestalten in Italien und Österreich machten aus ihr – im Rückblick zumindest – keine konkrete. Die Rede von der Latenz trägt dabei auch die Problematik, dass sie immer wahr ist. Niemand kann sie widerlegen, noch dazu wird sie – wie gesagt – legitimiert vom langen Schatten den Auschwitz wirft.
Die Rede vom Postnazismus führt so unter Umständen zur Betriebsblindheit, der Maulwurf wühlt zu tief und findet nicht mehr den Weg an die Oberfläche. Er hat zwar brav gewühlt, nur eben an der falschen Stelle. Ein letztes Beispiel: Clemens Nachtmann weist in einem neueren Text auf die Konsequenzen der antiautoritären Verfasstheit der ‘68er hin, deren Antiautoritarismus letztlich bloß in einen identitären Wahn geführt hätte. Dieser sei faschistischer Provenienz, denn auch die Nazis bezogen wesentlichen Antrieb aus der Rebellion. Tatsächlich trifft Nachtmann damit einen wunden Punkt der Studentenrebellion – und insoweit ist ihm auch unumwunden zuzustimmen. Doch bleibt immer noch die Frage zu stellen, wie diese – für Nachtmann – im Kern faschistische Rebellion, letztlich doch zur Zivilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft beigetragen hat. Ihre Protagonisten schlugen in ihrer Mehrzahl nicht den Weg des Volkswiderstandes ein – sondern den des Marsches durch die Institutionen. Dies war das Ergebnis der Studentenrevolte und nicht eine faschistischer Backlash. Und so erweist sich letztlich manche schlaue antideutsche Analyse auf ihrem demokratischen Auge als blind.

Januar 07, Michael Reich

Anmerkungen

(1) Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Eine kritische Theorie der Schrift, München 2005, S.237

(2) IfS: Artikel Gesellschaft, in: Soziologische Exkurse, Hamburg 1991, S.23



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last modified: 28.3.2007