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Der Rhythmus der Arbeit

Anmerkungen zu Musik und Kritik in Reaktion auf die Beiträge von sisyphos (CEE IEH #139) und Ron de Vou (CEE IEH #140)

Auch und gerade viele derjenigen Autoren, die sich mit Adornos Versuchen, Gesellschaft in kritischer Intention zu erfassen, eingehend und mit großer Sympathie auseinandersetzen, belassen, ihren Texten nach zu urteilen, dessen Schriften zur Musik weitgehend unbehelligt im Regal – ganz so, als handele es sich dabei lediglich um Dokumente eines Hobbys. Nun ließe sich konzedieren, die Indifferenz gegenüber diesen Schriften erwachse aus der möglicherweise zutreffenden Diagnose, es fehle ihr oder ihm an Wissen über die musikalischen Gestaltungsmittel. Zudem gilt gerade jene Musik, mit der sich Adorno in besonderer Weise auseinander setzte, der er biographisch wie kompositorisch verbunden war, also jene der Komponisten der Zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern), als schwer zugänglich – was sie auch ist. Doch wäre es nicht denkbar, die Anstrengung auf sich zu nehmen und zu versuchen, auch diesbezüglich ein Urteilsvermögen zu entwickeln – wie etwa Adornos Hegel-Bezug eher zum Anlass genommen wird, die Auseinandersetzung mit G.W.F. Hegel zumindest nachzuvollziehen, anstatt die entsprechenden Schriften zu ignorieren? Wer nun dagegen einwendet, es ginge doch um eine kritische Theorie der Gesellschaft, setzt voraus, dass Musik irrelevant für die Erfassung von Gesellschaft sei. Diese Sicht, die der Begründung bedürfte, wird allzu häufig selbstverständlich vorausgesetzt. Wo die Begründung ausbleibt, wird die Arbeitsteilung, die der umfassenden kritischen Durchdringung von Gesellschaft entgegensteht, reproduziert. Wie steht es allerdings um den Einwand, man könne sich nicht mit allem beschäftigen? Dieser könnte auch als Argument dafür vorgebracht werden, wie nicht wenige Menschen gänzlich von der Beschäftigung mit Adornos Schriften zu lassen. Aber formuliert nicht Adorno selbst in der Negativen Dialektik, nach Auschwitz sei alle Kultur, samt der dringlichen Kritik daran, Müll? Gewiss. Wie aber fährt Adorno in seiner Kritik der Kultur wie auch der Kulturkritik fort? Indem die Kultur „sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potentiell war, seitdem sie, in Opposition zur materiellen Existenz, dieser das Licht einzuhauchen sich anmaßte, das die Trennung des Geistes von körperlicher Arbeit ihr vorenthielt. Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte.“(1) Die kritische Auseinandersetzung mit Kultur (folglich auch mit Musik) bleibt also selbst, so dies für nötig erachtet werden sollte, unter Berufung auf Adorno dringlich – ebenso wie die Reflexion auf ihr eigenes Ungenügen.

Insofern ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn sich der Autor sisyphos dieses Gegenstands annimmt. Dass er sich auf einem Crustcore-Konzert mit sich kritisch gerierendem Anti-Amerikanismus konfrontiert sah, ist ebenso wenig tolerabel wie überraschend. Dem spezifischen Kernproblem von Popmusik nähert sich sisyphos lediglich dort an, wo er auf den notwendig verkürzenden Charakter von Songtexten mit unmittelbar kritischem Anspruch hinweist. An diesem Punkt spielt er richtigerweise auf die schematisch-repetitive Struktur von Popsongs – also die Folge von Verse-Chorus-Bridge (Strophe-Zwischenteil-Refrain) – an.(2) Im Anschluss daran soll nun der Strang der Argumentation, der sich auf die strukturelle Beschränktheit von Popsongs bezieht, in Ansätzen fortgeführt werden.

Musik und Wiederholung

Die Wertschätzung für ein(e) bestimmte(s) (Zusammenstellung von) Musikstück(en), insbesondere die unbegründete, ist kein Ausweis für das Vermögen, zutreffende Kritik zu äußern oder selbst bemerkenswerte Musik zu gestalten – als drastisches Beispiel hierfür kann Heinz-Rudolf Kunze gelten. (3) Wer jedoch umgekehrt den je spezifischen Charakter von Musikstücken ignoriert, verkennt zugleich deren Verhältnis zur Arbeit.

In seiner „Kleine[n] Musikgeschichte des Fordismus“ unter der Überschrift „Roll Over Adorno?“ schließt Gerhard Scheit kritisch an Adornos Erwägungen zur populären Musik an. Dabei stellt er heraus, dass klassische Musik wie auch populäre Musik ihren Ausgangspunkt in der Wiederholung – und somit in der Arbeit – haben. So bilden die regelmäßige Schlagzeit, der Tonika-Dreiklang sowie die Form der Reprise den Rahmen der musikalischen Klassik. Charakteristisch für ästhetisch geglückte klassische Kompositionen sei jedoch die jeweils einzigartige Abweichung vom tradierten Formschema und die damit verbundene Entfernung von der Arbeit. Insofern betrachtet Scheit E-Musik als „Selbstkritik der Arbeit“. Als zentrales gemeinsames Charakteristikum von Jazz, Pop und Rock im Unterschied zur klassischen Tradition stellt Scheit den durchgehaltenen Beat heraus, verweist jedoch – Adorno stellenweise korrigierend – auf bedeutsame graduelle Differenzen. Hervorzuheben ist diesbezüglich die Akzentuierung des Beats in der Rockmusik (die somit zunehmend in die Nähe von Marschmusik rückt), während der „Reiz des Jazz […] darin bestand, den Beat zu überspielen oder eher diskret anzudeuten“(4) und sich im Jazz mitunter „rhythmische Vielfalt entwickeln konnte“.(5) Im Unterschied zum Jazz regrediere Rockmusik „auf das Maß des herkömmlichen Strophenlieds“(6) und dränge somit die freie Improvisation zurück.

Als weitere grundsätzliche Differenz zu klassischer Musik bleibt festzuhalten, dass Jazz-, Pop- und Rock-Stücke in den meisten Fällen allenfalls nachträglich notiert werden. Daraus resultiert, dass sich der Schwerpunkt eines Musikstücks von seinem objektiven Gehalt auf die Performance der jeweiligen Interpreten verlagert.(7) Da nicht die Partitur, sondern eine bestimmte Performance die Rezeptionsgrundlage bildet, sind Jazz-, Pop- und Rockmusik in größerem Maße mit ihren Interpreten (die freilich zugleich die Komponisten sein können) assoziiert. Somit verlagert sich die Rezeption der Musik von der Komposition hin zu ihrer Darbietung. Aufgrund dieser Verschiebung ist es notwendig, den Vortrag (auch strukturell generischer Stücke) in die Beurteilung eines Stücks einzubeziehen, da sich in der Darbietung gegebenenfalls reflexive Momente finden lassen. Unter diesem Aspekt lassen sich Gerhard Scheits Ausführungen zu „Bob Dylans vielgestaltiger Stimme“ und Jimi Hendrix’ „virtuosen Improvisationen auf der E-Gitarre“ betrachten. Ihnen sei es gelungen, „das repetitive Schema der Rockmusik aufzusprengen und ihr damit zu ganz neuen Ausdrucksqualitäten zu verhelfen.“(8) Allerdings seien die Möglichkeiten des Ausdrucks im freien Singen (und damit die Möglichkeiten der Individualisierung) im Rap – leider die einzige musikalische Strömung seit Mitte der 1970er Jahre, auf die sich Scheit bezieht – durch die Reduktion auf „ein monotones, schnelles, abgehacktes Beat-Sprechen“(9) wieder kassiert worden.

Die fließende Tradition

Im Unterschied zu Gerhard Scheit unternahm Martin Büsser einen Versuch, unter Bezug auf die Beschaffenheit von Musikstücken eine kritische Strömung – mehr noch als innerhalb – aus der Popmusik heraus zu bestimmen. Unter Verweis auf Davis Toops Ocean Of Sound, zugleich in Nachbarschaft zu den Ausführungen von Joy Press und Simon Reynolds im Band The Sex Revolts (insbesondere in den Kapiteln „Flow Motion“ und „All Fluxed Up“), macht er eine „fließende Tradition“(10) aus, in die er auch Komponisten von E-Musik (Gustav Mahler, Anton von Webern, Morton Feldman) einbezieht. Damit impliziert er zumindest eine Aufweichung der Trennung zwischen E- und U-Musik. Allerdings hatten an der fließenden Tradition am Rande der Rockmusik nicht zufällig zahlreiche Musiker, die in ihrer musikalischen Entwicklung insbesondere von Jazz und Neuer Musik beeinflusst wurden, teil.(11) Charakteristisch erscheint Büsser an dieser Musik, dass der Rhythmus nicht den Mittelpunkt bildet.(12) (Auch der Verlauf der Stücke, so lässt sich hinzufügen, weicht selbst bei jenen Stücken, die aus dem Kontext der Rockmusik heraus entstanden sind, deutlich vom Schema des Popsongs ab.) Diese Musik sei jeweils weniger von post-pubertären Allmachtsphantasien als vom Eingeständnis der eigenen Schwäche gekennzeichnet. Büsser geht es darum, „zu zeigen, wie gerade eine Musik, die sich formal und inhaltlich von Klage, Wut und klar umrissener Utopie entfernt hat, einen besseren Zustand von Gesellschaft andeuten kann.“(13) So stellt sich die Frage, wie sich diese fließende Tradition zu einer „wirklich neue[n] Musik“, die es nach Scheit „nur noch jenseits des Fetisch-Systems von U- und E-Musik, Beat und Off-Beat geben“(14) könne, verhält?

Ausblick

Ungeachtet ihrer jeweiligen Verdienste bleiben in Gerhard Scheits wie auch Martin Büssers Ausführungen gewichtige Leerstellen, die sich teils wechselseitig ergänzen. Gerhard Scheit spart in seiner „Kleinen Musikgeschichte des Fordismus“ bestimmte Genres (etwa die gesamte Entwicklungslinie Soul – Funk – Disco – House), die (möglicherweise missglückten) Versuche, sich mit den Grenzen eines Genres auseinanderzusetzen (z.B. Free Jazz, Progressive Rock, in anderer Weise auch Punk Rock), insbesondere jedoch randständige, kaum mehr Genres zuzuordnende Phänomene gänzlich aus. Zudem legt Scheits Darstellung den Schluss nahe, die Rezeption von Popmusik ergäbe sich allein aus deren Beschaffenheit.

Bei Büsser fehlen hingegen musiktheoretisch fundierte Analysen von Stücken, so dass er in einer weitgehend intuitiven Annäherung an die Charakteristika der ‚fließenden Tradition’ verbleibt und die Affinität zwischen Mahler, Webern, Can etc. (und die damit einhergehende Aufweichung der Unterscheidung zwischen E und U) lediglich behaupten kann.(15) Zudem geht er vorschnell der Auseinandersetzung mit der esoterischen Schlagseite der unreflektiert-affirmativen Bezugnahme auf die „fließende Tradition“ oder den Ocean Of Sound aus dem Weg.

Noch nichts gesagt ist für den Moment über die Rezipienten von Musik, sofern diese nicht nur als Funktion der Musik betrachtet werden – womit auch auf Heinz-Rudolf Kunze (siehe Fußnoten 4 + 6) zurückzukommen wäre.

BJ Scar

Anmerkungen

(1) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966. S. 359 f.

(2) Sisyphos spricht fälschlich von „Chorus-Refrain-Chorus-Bridge“ (Chorus = Refrain).

(3) Kaum jemand wird von sich behaupten können, dass sie oder er keine der musikalischen Vorlieben des Heinz-Rudolf Kunze, die sich anhand der Empfehlungen auf dessen Homepage erschließen lassen, teilt. Was Kunze besonders am Herzen liegt, kommentiert er – so etwa 2004 die 5-CD-Box Unearthed von Johnny Cash, für den, wie der Autor begründet vermutet, auch zahlreiche Leserinnen und Leser dieser Publikation Sympathien hegen: „Heinz sagt: ‚Wenn man sich nur einmal im Leben eine Platte kauft, gibt es ungefähr 20 Möglichkeiten. Dies ist eine davon.’“ Näher fühlte sich Kunze in jenem Jahr nur Botho Strauss nach der Lektüre des Essay-Bandes Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (einschließlich des Feuilleton-Smash-Hits „Anschwellender Bocksgesang“) sowie der Notatensammlung Der Untenstehende auf Zehenspitzen: „,Heinz sagt: ‚Die beiden Strauss-Bücher sind das Kondensat von dem, was ich in gesellschaftlichen Fragen denke.’“ Aha. Damit wird Strauss in Kunzes privatem Olymp neben einem weiteren Protagonisten der reaktionären Rebellion, nämlich Martin Walser, platziert: „Der geilste Rock‘n‘Roll this year so far!’ sagt Heinz [2002 über den Roman Tod eines Kritikers, BJS]. “ Eine Gelegenheit, sich Heinz-Rudolf Kunzes Musik ohne nennenswerten organisatorischen Aufwand auszusetzen, bietet der Vorentscheid zum Eurovision Song Contest am 8. März. Im Vorfeld der Veranstaltung wird er wie üblich eine Tournee durch die TV-Programme antreten.

(4) Gerhard Scheit: Mülltrennung. Hamburg 1998. S.181.

(5) Ebd., S.179.

(6) Ebd.

(7) Diese Verschiebung schlägt sich selbst im musikindustriellen Zugriff auf Musik nieder, da klassische Musik eher nach Komponisten und deren Kompositionen als den jeweiligen Dirigenten, Solisten oder Ensembles, Popmusik hingegen nach Interpreten katalogisiert wird. So dürfte z.B. das Interesse an einer bestimmten Mahler-Sinfonie dem an einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Leonard Bernstein vorgängig sein, wohingegen kaum jemand auf die Idee käme, z.B. von der Einspielung des Liederzyklus Revolver der Komponisten John Lennon und Paul McCartney sowie George Harrison durch die Beatles zu sprechen.

(8) Gerhard Scheit: Mülltrennung. S.182.

(9) Ebd., S.183.

(10) Martin Büsser: Antipop. Mainz 1998. S.154.

(11) So findet die Band Can – auch deren Alben, nebenbei bemerkt, empfohlen von Heinz-Rudolf Kunze – in den Ausführungen von Büsser wie auch von Press/Reynolds prominent Erwähnung. Ihr Bassist Holger Czukay sowie ihr Keyboarder Irmin Schmidt studierten bei Karlheinz Stockhausen, während ihr Drummer Jaki Liebzeit in den 1960er Jahren zunächst in Jazz-Ensembles spielte.

(12) Zumindest für Can ist diese Zuschreibung insofern fragwürdig, als sie auf ihren Alben Mitte der 1970er Jahre einen spezifischen Groove entwickelten. Diesem eignet allerdings nicht die im Wortsinne durchschlagende Wirkung eines Beats. Zutreffend ließe sich von einem „aquatic vibe“ oder einer „gentle pulsation of rhythm“ (Simon Reynolds/Joy Press: The Sex Revolts. London 1995. S.194) sprechen.

(13) Martin Büsser: Antipop. S. 157.

(14) Gerhard Scheit. Mülltrennung. S. 185.

(15) Das Problem des zumeist fehlenden musiktheoretischen Hintergrunds, das bereits von Ron de Vou angesprochen wurde, kann an dieser Stelle lediglich bestätigt und in der Folge nach Möglichkeit behoben werden.

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last modified: 28.3.2007