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Wo wohnt der Wert? Was bringt die Krise?


Revisionistische Antworten auf alte Fragen. Vom Mausebär

There is another reason for the weakness of the radical left: the fundamental theoretical deficits in explaining the past and the present. (...) These theoretical deficits are not only a question of theory, a question for lonesome scholars, they are a question of intellectual hegemony.
Michael Heinrich (14)

Vorbemerkung

Die Wertkritik, wie sie von AutorInnen der Zeitschriften EXIT! und Krisis entwickelt wurde, enthält als Kern die Diagnose, dass die Wertgesellschaft, der Kapitalismus, an sich selbst scheitert. Im Verlauf der mikroelektronischen Revolution werde mehr Arbeit eingespart, als durch die Herstellung neuer Produkte wieder eingesaugt werden könne. Da aber Wert letztlich auf die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in bestimmter Zeit zurückzuführen sei (und damit seine Größe auf ihre Länge), bedeutet das, dass der Wertgesellschaft der Wert abhanden kommt. Eine Zeitlang könne Verwertung zwar noch erfolgreich simuliert werden, doch ihr Zusammenbruch sei nicht aufzuhalten.
Im ersten Abschnitt bemühe ich mich um eine Kritik der Grundlage dieser Ableitung. Diese Grundlage besteht, verkürzt gesagt, in folgendem: Wenn man von abnehmender Gesamtarbeitszeit ausgeht, bezieht man sich auf die Produktionssphäre: schon nach Abschluss der Produktion und vor Beginn der Zirkulation steckt Wert in bestimmter Größe in den Waren (Wert-Substanzialismus). Bei der Wertkonstitution darf aber m.E. der Anteil der Zirkulationssphäre nicht unterschlagen werden.
In den beiden folgenden Abschnitten wird versucht, einen Weg jenseits dieses Wert-Substanzialismus’ zu finden, ohne doch die Determinierung der Produktion durch den Wert zu leugnen. Dies geschieht mit der Unterscheidung Wertförmigkeit/Wertgegenständlichkeit.
Der darauf folgende Teil „Die Krise denken“ soll verdeutlichen, dass der Abschied vom Wert-Substanzialismus nicht zur Leugnung der finalen Krise der Wertgesellschaft führen muss. Nur ist diese Fundamentalkrise nicht als das Erreichen einer absoluten, inneren Schranke zu interpretieren, sondern als totale Verwüstung aller stofflichen Voraussetzungen der Verwertung. Wenn es keinen bewussten Aufstand gegen die Wertgesellschaft gibt, können wertförmiges Denken und Handeln die Wertgegenständlichkeit selbst überleben und ihr Zerstörungswerk solange fortsetzen, wie noch physische Grundlagen von Arbeitskraft und Produktionsmitteln vorhanden sind.

Küchenmaße, 14.4k Den Abschluss bildet eine polemische Betrachtung Leipziger Politverhältnisse, in denen Sozialkritik kaum vorkommt. Das ist auch kein Wunder: Wer ausschließlich damit zu tun hat, in intensivem Selbststudium den Kapitalismus allzu gründlich zu durchschauen, dem bleibt keine Möglichkeit mehr, dessen Auswirkungen auf die eigene menschliche Reproduktion wahrzunehmen und zu kritisieren. Vor jedem Wutanfall über immer neue Unverschämtheiten sozialdemokratischer Krisenverwaltung steht dann die mäßigende Einsicht, dass die Agenten des subjektlosen Wertterrors auch nur tun, was sie müssen, die Leipziger MontagsdemonstrantInnen in ihrer Kritik an Hartz IV jedoch gefährlich personifizieren (Schröder, Merkel und Stoiber heissen die Hassobjekte) und es demzufolge keinerlei solidarischen Bezug auf die Anti-Hartz-Proteste geben könne. So betrügt man sich mit der Wahrheit und verrät – mit allerbesten Absichten – auch noch die letzten winzigen Emanzipationsmöglichkeiten.

Wert-Substanzialismus

Das Hinweisen auf einen Grund, der niemals eingeholt wird, wird zum grundlosen Grund der Autorität.
(Judith Butler, 5, 156)

„Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‘wertbildenden Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“ (21, 43)
Diese Passage vom Beginn des 1. Bandes des „Kapital“ legt folgende Interpretation nahe: Die Betätigung „menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn“ (21, 51. Zur Kritik daran u.a.: 12, 211 f. und zur Kritik von Heinrichs Auffassung 9, 61 ff.) schafft einen Wert bestimmter Größe, der am Ende des Arbeits- (=Produktions)prozesses in den Waren steckt.
Doch wenigstens eine Formulierung sollte stutzig machen: „abstrakt menschliche Arbeit ... vergegenständlicht“ sich in einem „Gut“ – also nicht irgendeine wohlbekannte Arbeit, sondern eine sehr besonders definierte. Doch schon im übernächsten Satz des Marxzitats ist diese sehr besondere Arbeit einfach „Arbeit“, die – durch ihre Zeitdauer gemessen – ihrerseits die Wertgröße bestimmen soll. Müsste nicht „abstrakt menschliche Arbeit“ in etwas wie „abstrakter Zeit“ gemessen werden? Und kann man einfach davon ausgehen, dass „abstrakte Zeit“ in Stunden und Tagen zu messen ist?

1998 fasst Krisis-Autor Norbert Trenkle frohgemut das substanzialistische Credo zusammen: „... ist es auch durchaus richtig, zu behaupten, dass die im System der abstrakten Arbeit produzierten Waren auch dann schon Wert darstellen, wenn sie noch nicht in die Zirkulationssphäre eingetreten sind (...) um überhaupt in den Zirkulationsprozess einzutreten, muss ein Produkt sich bereits in der fetischistischen Form des Wertdings befinden; und da es als solches nichts als die Darstellung von vergangener abstrakter Arbeit ist (und das heisst immer auch von vergangener abstrakter Arbeitszeit), besitzt es notwendig immer auch schon eine bestimmte Wertgrösse“ (34). Hier taucht zwar „abstrakte Arbeitszeit“ auf, jedoch nur in ihrer tautologischen Bestimmung als Wertgröße, die nach der Produktion nun mal im Wertding vorhanden sei.
Sechs Jahre später geht es bei der EXIT!-Autorin Petra Haarmann, ebenfalls aus dem wertkritischen Lager, munter durcheinander: Sie redet einerseits vom „in den Waren aufbewahrte(n) Wert“, der sich „in Geldkapital konvertieren“ (7, 163 f.) müsse – ein klar substanzialistischer Zungenschlag. Andererseits sei „dieser Wert, das Produktionsverhältnis“ „Voraussetzung, dass die ‚tauschenden‘ Kontrahenten ‘Subjekte’ sein können“ (6, 192) – der Wert ist also ein Produktionsverhältnis. Doch halt: „das Geld ist ... soweit es sich um ein gesetzliches Zahlungsmittel handelt, nur der Träger von etwas, was allgemein und unkörperlich vorhanden ist, nämlich dem Wert, das heißt einer bestimmten Quantität verausgabter menschlicher Energie – Arbeit“ (6, 192). An einer weiteren Stelle spricht Haarmann von „Arbeitskraftverausgabung und deren zu realisierenden Wert“ (6, 193). Abgesehen davon, dass die Autorin hier unkritisch die Begrifflichkeit der bürgerlichen Geldtheorie pflegt (Zahlungsmittel!), abgesehen auch davon, dass wertbildend natürlich nicht irgendwelche, sondern abstrakte Arbeit ist, sind diese Aussagen selbst-widersprüchlicher Mumpitz. Wert wäre demnach nämlich etwas, das in bestimmter Größe in Waren steckt und gleichzeitig ein Produktionsverhältnis ist. Ein Verhältnis aber ist nie und nimmer eine irgendwo steckende Quantität, sondern höchstens der Bezug von etwas auf das Kriterium des Quantität-Sein-Müssens (ein Verhältnis setzt mindestens zwei Entitäten voraus). Ihre zuletzt zitierte Äußerung ist nun völlig wirr: Plötzlich ist Haarmanns Problem nicht mehr der Wert als verausgabte Arbeit, sondern die Realisierung des Werts der Arbeitskraftverausgabung (also die Tatsache, dass man sich für Geldlohn etwas kaufen können muss?).

Umgangsformen, 23.0k Auch Christian Höner ringt mit der zweiwertigen Logik: „Der Wert ‘repräsentiert’ die verausgabte abstrakte Arbeit ... Auch kann selbstverständlich abstrakte Arbeit als solche nicht verausgabt werden.“ (8, 158, Endnote 33). Diesen Widerspruch hält man am besten mit dem hegelsch klingenden „als solche“ aus; im übrigen besteht man darauf, dass der „abstrakte Wert-Charakter der Waren ... ihnen nicht nur zu(kommt), weil ihnen die Zirkulation ein abstraktes Quantitätsverhältnis aufherrschen würde, vielmehr erfolgt die Abstraktion schon in der Produktion durch die Produktion“ (8, 138). Doch warum um Himmels willen wird denn in dieser Weise in der Produktion abstrahiert? Doch nur weil der Herstellung von Gütern ein „abstraktes Quantitätsverhältnis“ aufgeherrscht wurde. Andererseits: „... indem sie [die Menschen – Mausebär] ihre Tätigkeiten einander gleichsetzen, verleihen sie den Produkten dieser Tätigkeiten die Eigenschaft, Wert zu besitzen“ (8, 148). Das aber beißt sich mit der zuvor zitierten Passage – denn wo setzen die Menschen „ihre Tätigkeiten einander gleich“? In des Autors Logik müsste das Zitat enden mit: „.. die Eigenschaft, Wert besitzen zu können“, denn, so Höner: „die Abstraktion (erfolgt) schon in der Produktion durch die Produktion“.
Sehr viel reflektierter klingt dasselbe Konzept beim EXIT!-Autor Robert Kurz: „Die einzelne Ware ist Wertgegenständlichkeit, nicht im einzeln zurechenbaren quantitativen Sinne ... aber im qualitativen Sinne, als einzelnes gesellschaftliches Ding, als Wert-Ding“ (9, 96)(1). Doch der Rückfall lauert und auch hier hilft ein „als solche“ weiter: „Die Wertbildung als solche geht aber ganz klar nicht in der Zirkulation, sondern in der Produktionssphäre vor sich“ (9, 97). Nur eben nicht quantitativ? Oder nur für alle Waren zusammen? Wann aber ist dann ein quantitativ und qualitativ bestimmter Wert definitiv hergestellt? Kurz beharrt hier richtig auf der Wertprägung der Produktion, trifft aber Aussagen, die zum Beweis dessen gar nicht nötig sind. Zum Beispiel diese: „Der Wert ist die gesellschaftliche Gegenständlichkeit der Ware, auch der einzelnen Ware, der Ware vor dem (!) und unabhängig vom (!!) sekundären Austauschverhältnis...“ (9, 96). Das Problem ist: In einer Tauschgesellschaft gibt es unabhängig vom Austausch nichts Gesellschaftliches, also auch keinen Wert(2).
Offensichtlich laboriert die Wertkritik noch am Substanzialismus. Wenigstens aber wird beim neuen Projekt EXIT! Klärungsbedarf gesehen.

Ein von wertkritischer Seite viel gescholtener Autor, der Berliner Politologe Michael Heinrich, kann uns allen vielleicht auf die Sprünge helfen.
Soweit ich sehe, hakt seine Interpretation am Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ ein. Nur diese nämlich gilt als wertbildend, wie auch Marx weiß. Per Gleichheit der Arbeiten, argumentiert Marx, gilt die Gesamtarbeitskraft der Gesellschaft als eine menschliche Arbeitskraft, die aus vielen individuellen zusammengesetzt sei (21, 43). Da die individuellen Arbeiten aber unterschiedlich kompliziert seien, gälten sie als multiplizierte einfache, diese Definition „einfacher Durchschnittsarbeit“ holt Marx ein paar Seiten später nach (21, 49). Und bei dieser Verausgabung einfacher Durchschnittsarbeit, lässt sich interpretierend anfügen, wird eben nicht gebummelt, sie wird so zeitsparend wie möglich verrichtet, so wie es der gesellschaftliche Durchschnitt verlangt.
Ist damit schon die Bestimmung dessen erschöpft, was „gesellschaftlich notwendig“ ist? Es fehlt eine zweite Bedingung: „Obgleich jeder einzelne Artikel oder jedes bestimmte Quantum einer Warensorte nur die zu seiner Produktion erheischte gesellschaftliche Arbeit enthalten mag und von dieser Seite her betrachtet der Marktwert dieser gesamten Warensorte nur notwendige Arbeit darstellt, so ist doch, wenn die bestimmte Ware in einem das gesellschaftliche Bedürfnis dermalen überschreitenden Maß produziert worden, ein Teil der gesellschaftlichen Arbeitszeit vergeudet, und die Warenmasse repräsentiert dann auf dem Markt ein viel kleineres Quantum gesellschaftlicher Arbeit, als wirklich in ihr enthalten ist.“ (22, 213)
Zusammengefasst: Beim Arbeitszeit-Verausgaben nicht zu bummeln einerseits und nur das herzustellen, von dem eine Warengesellschaft dokumentiert, es zu benötigen andererseits sind notwendige Bedingungen für die Wertbildung. Wie bekommt man das letzte raus? Durch die Umsetzung des Produzierten in Geld. (Was sich nicht in Geld darstellt, ist in einer Warengesellschaft offensichtlich unnötig.) Wie sichert man die erste Bedingung? Durch die Konkurrenzvermittlung.
Diesen Gedankengang fasst Heinrich (13, 49 f.) zusammen als die drei Reduktionen der Wertbildung, wobei zu bedenken ist, dass das Wertverhältnis ein Geltungsverhältnis ist:
  1. „Individuell verausgabte Arbeitszeit wird auf gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit reduziert.“ (...),
  2. „Wertbildend ist nur diejenige Arbeitszeit, die ... zur Befriedigung des zahlungsfähigen gesellschaftlichen Bedarfs notwendig ist.“,
  3. „Die Arbeit höher qualifizierter Arbeitskraft ist ‘komplizierte’ Arbeit. Sie gilt in höherem Maß wertbildend als einfache Durchschnittsarbeit.“
Unabweisbar ist: Stünde – wie es die substanzialistische Auffassung will – direkt nach der Produktion die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit fest, bräuchte es keine Umsetzung dessen, was sie verkörpert, in Geld. Denn: Man hätte die Gewissheiten, dass 1.) etwas Notwendiges und 2.) dieses Notwendige unmittelbar auf dem gegebenen Produktivitätsniveau produziert worden wäre. Das aber wäre voreilig. Erst innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Tauschzusammenhangs lässt sich wirklich entscheiden, was notwendig war und was nicht(3). Werttheorie ohne Geldtheorie kann die Nähe zur von Marx so heftig kritisierten Stundenzettelei nicht verleugnen.
Das bloße Zugeben der Tatsache, dass es keine Abkopplung des Wertverhältnisses vom Geldverhältnis geben darf, macht die Werterklärungstheorie selbst nicht zur monetären. Dass „das Geld nicht nur als allgemeines Äquivalent, sondern als Form des Kapitals, als prozessierender Selbstzweck und als Realisationsform des Mehrwerts immer schon vorausgesetzt“ (9, 98) ist, wird jeder halbwegs reflektierte Arbeiterbewegungsmarxist, der mal Backhaus gelesen hat, locker einräumen. Auch zu ML-Zeiten war es gängige Formulierung, dass der Wert zwar in der Produktion entstünde, sich aber woanders (in der Zirkulation) realisiere. Doch mit dieser so klar klingenden Aussage werden die Probleme verdeckt, statt gelöst. Denn wie soll man sich das vorstellen – eine Entstehung ohne Realisierung, eine Realisierung nach der Entstehung?
Man muss Heinrichs Interpretation nicht teilen. (So sollte man auf alle Fälle kritisieren, dass er keine Vorstellung von kapitalistischer Totalität hat und den „Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion“ auseinanderreißt in die Schaffung von nützlichen Dingen in einer Sphäre und das Hinzutreten von Wert in einer anderen(4). Wer den Wert ausschließlich im Tausch entstehen lässt und ihn nicht als regulierendes Prinzip von Produktion/Zirkulation einer tauschvermittelten Gesellschaft zu bestimmen versucht, kann sich nicht vom Vorwurf freisprechen, eine reine Zirkulationstheorie des Werts geschrieben zu haben. Unten dazu mehr.) Nur: Den von ihm aufgeworfenen Problemen wird man sich schon stellen müssen.
Es muss endlich eingestanden werden: Zwischen den Wendungen, abstrakte Arbeit bilde (produziere) Wert, werde im Wert ausgedrückt, sei die (gesellschaftliche) Substanz des Werts oder stelle sich im Wert dar (vgl. 21, 42- 49, 173) klaffen Lücken.

Richtiges Schuhwerk, 12.0k Noch einmal zurück zur „abstrakten Arbeitszeit“:
„Es ist sehr wohl feststellbar, dass eine Maschine zur Herstellung von Radiergummis mehr wert ist, als ein auf ihr hergestellter Einzelradiergummi. Ganz ohne Zahlen, empirische Geldbeträge und unzulässige Rückrechnerei von Preis auf Wert, lässt sich die Ungleichung begründen: Wert der Maschine > Wert des Radiergummis, denn gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung der Maschine > gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung des Radiergummis.“ schrieb ich in Nummer 97 dieses Heftes (27). Was da so offensichtlich klingt, sagt nichts übers Wertproblem und trägt schon gar nichts zum Komplex „finale Krise“ bei. Zwar lässt sich darüber spekulieren, ob ein Exemplar von Warensorte A einen größeren/kleineren Anteil gesellschaftlicher Arbeitszeit verkörpert, als ein Exemplar von Warensorte B. Doch selbst der realisierte Preis des konkreten Einzelfalls würde für die Entscheidung über Wertquantitäten nichts hergeben, weil auf ihn zu viele andere Einflüsse – z.B. Angebot und Nachfrage – wirken. Man kann lediglich wissen, dass die Herstellung aller gegen Geld umgesetzten Waren die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gekostet und diese somit sich anteilig auf alle diese Warenexemplare verteilt hat. Vor dem Geld lässt sich also über Wertmengen nichts aussagen, mit der Hereinnahme des Geldes allerdings auch nichts, denn Geld kommt im Tausch real nun mal nur als Preis vor.

Schlussfolgerung:
Die substanzialistische Wertauffassung (= Wert ist direkt in den Waren enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit) ist nicht länger haltbar. Die Beweislage gegen sie ist erdrückend(5).
Dennoch: Es ist sonnenklar, dass – unabhängig von Begriffsbestimmungen –, ganz real menschliche Lebenskraft zur Erhaltung dieser Gesellschaft vernutzt werden muss; der beständige Nachschub von menschlicher Energie bestätigt geradezu, dass etwas, was sie frisst, erhalten wird, schließlich kann nicht nichts mit etwas gefüttert werden. Offenkundig wird ein Prinzip dadurch ganz real am Leben erhalten, dass man es zu jedem Zeitpunkt seines Daseins als geltend unterstellt und danach handelt (29, Ende des 6. Kapitels). Ebenfalls unabweisbar ist, dass die Produktion in der Warengesellschaft nur darauf zielt, auf einem gegebenen Produktivitätsniveau soviel wie möglich Arbeitskraft anzuwenden und gleichzeitig das Produktivitätsniveau durch Verwissenschaftlichung der Produktion immer weiter zu erhöhen. Offensichtlich spielt Arbeitszeit in der Produktion eine wesentliche Rolle. Wie verträgt sich das mit der Behauptung, erst im Tausch werde wirklich klar, welche Arbeitszeit gesellschaftlich notwendig verausgabt wurde?

Roswitha Scholz hilft weiter

Der Wert ist die gesellschaftliche Gegenständlichkeit der Ware, auch der einzelnen Ware, der Ware vor dem und unabhängig vom sekundären Austauschverhältnis... (Robert Kurz, 9, 96)

... die Gesellschaftsmitglieder ... produzieren isoliert voneinander Waren, die erst durch den Austausch auf dem Markt zu gesellschaftlichen Produkten werden. (Roswitha Scholz, 32, 13)

Denkt man über die o.a. Zitate nach, liegt die Annahme nahe, dass es in der EXIT!-Redaktion wohl noch einigen Diskussionsbedarf gibt. Doch das soll nicht unser Thema sein.
Die Grundzüge von Scholz’ Theorie können hier mittlerweile vorausgesetzt werden. Wiederholt sei nur, dass die Autorin die Kritik des als universell, geschlechtsneutral (miss-)verstandenen Werts durch Kritik der Wert-Abspaltungsdialektik ersetzt. Nicht eine Einheit sei das Grundprinzip dieser Gesellschaft, sondern eben diese Dialektik.
Es fällt auf, dass Scholz Wert und abstrakte Arbeit identifiziert: „Mit Wert-Abspaltung ist ... gemeint, daß weibliche Reproduktionstätigkeiten, aber auch damit verbundene Gefühle, Eigenschaften, Haltungen usw. ... vom Wert, der abstrakten Arbeit strukturell abgespalten sind.“ (32, 109; s.a. 32, 18-21) Was eine problematische Ungenauigkeit ist (schließlich ist abstrakte Arbeit die Substanz des Werts, der somit eben noch etwas anderes sein muss), erweist sich hier als nützlich. Abstrakte Arbeit ist reales Wirken von etwas – Abstraktem (Realabstraktion), nur eben keine irgendwo niedergelegte, aufgespeicherte Menge. Identifiziert man jene mit dem Wert, macht man implizit klar, dass Wert nichts anderes sein kann, als ein Prozess bzw. ein Antrieb, ein Pol einer Dialektik. Dieses Prinzip ist m.E. direkt zu identifizieren mit der „Zeitsparlogik“ (32, 92 ff. im Anschluss an den Begriff von Frigga Haug). Seine Macht, Dinge seines Einflussbereiches in eine Form zu pressen, korrespondiert der „Form der Formlosigkeit“ (32, 21), dem Abgespaltenen, seiner stummen Voraussetzung, die sich gerade deswegen seinem Gesetz (rationaler Zeiteinsatz) nicht fügen kann.

In der obigen Lesart hieße das: Das Problem ist das Unterworfensein unter das Formprinzip „Wert“ und nicht welche Menge gespenstiger Gegenständlichkeit die Einzelware(6) verkörpert. Dieses Formprinzip ist charakterisiert durch die Zeitsparlogik – „Ökonomie der Zeit, darein löst sich schließlich alle Ökonomie auf.“ (25, 89) – und wird folgerichtig auch bei Scholz zu einem Zusammenhang amalgamiert: „Der Wert, die abstrakte Arbeit, die ‘Zeitsparlogik’ und der Markt, der nach Rentabilitäts-, Konkurrenz- und Profit-Gesichtspunkten funktioniert, brauchen ihr Anderes, die ‘Hausarbeit’...“ (32, 117).
Doch wie soll man sich das vorstellen: die Regulierung der gesellschaftlichen Reproduktion mittels Zeit?

Umstellung von Statik auf Dynamik

... das Verhältniß der Arbeitsproducte zueinander als Ausdrücke dieser selben Einheit ist ihr Werthsein. Und nur durch dieß Verhältniß werden aus blossen Arbeitsprodukten, nützlichen Gebrauchsgegenständen – Waaren.
(Karl Marx, 23)

Kleidung und Mode, 18.6k Heinrich (12, 217) stellt fest: „Die Wertgegenständlichkeit entzieht sich aber beiden Zugriffen: gegenüber einer nur subjektiven Zuschreibung erweist sie sich als sachlich-objektiv, aber ohne daß in diese Objektivität irgendeine physische Größe eingehen würde.“ Was aber ist etwas Objektives, nicht durch die Einnahme einer anderen Stellung zu ihm Verschwindendes, das nicht aus Physischem besteht? Was ist eine Substanz ohne spezifische Größe? Offensichtlich ein materiell wirkendes, substanzielles Prinzip, eine Anleitung zum Handeln. Stärker: Ein Zwang, der – selbstreferenziell wie es die Kette G-W-G’ zeigt – in jedem Moment seines Bestehens sein eigenes Gelten reproduziert(7).
Hat man das erst einmal begriffen, wird schnell klar, dass die Fassung vom Wert als in den Waren verkörperte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit viel zu harmlos ist. Es sei denn, man besteht pingelig darauf, dass die Aufspeicherung von Zeit ein Riesenproblem ist, ein Problem, das nur dadurch lösbar wird, dass man eine höhere logische Ebene erklimmt. Also: Entweder ist der Wert ein in Waren gespeichertes Unproblematisches(8), dann ist er kein gesellschaftliches Verhältnis. Oder er ist die permanente Lösung des Problems der Aufspeicherung von grundsätzlich nicht Speicherbarem (Zeit), dann ist er etwas, was sich auf die Art der Zeitverausgabung bezieht, ein in jeder Pore der gesellschaftlichen Reproduktion sitzendes Prinzip. Es liegt also eine Art logisches Ebenenproblem vor. Die Ebene des (möglichst sparsamen) Zeit-Investierens in die Herstellung von Waren ist der Ebene untergeordnet, die das Prinzip der alleinigen Geltung von Zeit ausmacht. Jene ist Ausfluss von dieser. Die Institution des Gelten-Sollens ist von größerer logischer Mächtigkeit, als das einzelne Handeln nach diesem Gelten-Sollen(9). Das scheint auch Backhaus (3, 35) so zu sehen: „Handelt es sich um ‘gesellschaftliche Bestimmungen’ der Arbeit, die ‘verkehrt’, nämlich als Wert ‘erscheinen’ oder sich ‘darstellen’, also nicht bloß um die sog. ‘Arbeitsmenge’ des Ökonomen, ist auch der Wert selbst ein mannigfaltig Bestimmtes, ein ‘Ganzes’ von ‘Momenten’, ‘allgemeinen Charakteren’ oder ‘qualitativen Bestimmungen’.“
Diese Verschiedenheit der logischen Ebenen zeigt sich auch an folgendem Missverständnis von Marx: Waren seien „Äquivalente ... nur als gleiche Quanta vergegenständlichter Arbeitszeit“ (26, 30). Nun ist Äquivalenz aber nicht quantitative Gleichheit, sondern Gleichwertigkeit. Die Redewendung: „beide sind einander wert“ heißt eben nicht, dass die beiden identisch sind, sondern dass sie einander auf einem bestimmten Gebiet vollständig ebenbürtig sind, was wiederum nur möglich ist, wenn dieses Gebiet beiden als wichtig gilt, sie auf ihm sich also messen wollen/müssen und können(10). (Mit sehr viel gutem Willen lässt sich selbst das Marxzitat in diese Richtung interpretieren: Waren wären Äquivalente, insofern sie Gleiche sind – als vergegenständlichte Arbeitszeit. Dafür müssen in ihnen nicht gleich große Quanta Arbeitszeit vergegenständlicht sein.)
Norbert Trenkle hat – vgl. das obige Zitat aus (34) – also Recht, wenn er auf der Wertförmigkeit („fetischistische[n] Form des Wertdings“) von Dingen als Voraussetzung ihres Eintritts in die Zirkulation besteht, er hat unrecht, wenn er von dieser Wertförmigkeit auf das Vorhandensein einer ganz bestimmten Menge abstrakter Arbeit („Wertgrösse“) schließt. Das qualitative Prinzip Wert kann selbstverständlich wirken ohne dieses Wirken in einer bestimmten Menge abstrakter (d.h. immer: gesellschaftlicher!) Arbeit statisch aufzuspeichern.

Es wäre also zu prüfen, ob man evtl. mit der Unterscheidung Wertförmigkeit / Wertgegenständlichkeit weiterkommt. Gegenständlichkeit impliziert Umrisse, Grenzen, damit eine Ausdehnung, eine Größe. Und von dieser spezifischen Wertgegenständlichkeit kann auch der wertkritische Theoretiker wenig mehr aussagen, als das, was schon Marx wusste: dass sie eben eine „gespenstige“ (21, 42), eine „rein phantastische“ (23) sei.
Eine Parallele(11): Judith Butler beschreibt das Wirken der Macht als Zitieren des Gesetzes durch einen Richter der jeweiligen Situation (5, 309 f.). Erhellend könnte sein, die „Macht“ durch das automatische Subjekt zu ersetzen, das die permanente Herstellung von Waren und deren Tausch gegen Geld, um erneut Waren zu produzieren und sie wiederum gegen Geld umzusetzen, ebenso zum Leben braucht wie die Macht das periodische Zitieren des Gesetzes. Das automatische Subjekt wäre also zu verstehen als eine – der eigenen Logik nach – unendliche Kette von Akten, deren jeweilig letzter aus den vorherigen seine Gültigkeit bezieht. Eine weitere gewaltsame, aber vielleicht hilfreiche Parallelisierung: Insofern ein Akt gezwungen ist, das Gesetz (als durch alle vorangegangenen Akte der Macht zustandegekommen) anzuerkennen, befindet er sich unter der Form der Macht (vgl. Wertförmigkeit); insofern er selbst in nachfolgenden Situationen als im Gesetz sedimentiert zitiert wird, kommt ihm selbst eine das Fortbestehen dieser Kette erhaltende Kraft zu (vgl. Wertgegenständlichkeit). Einfacher ausgedrückt: Wertförmigkeit erhalten Waren als im Zusammenhang der Warenproduktion hergestellte Güter, Wertgegenständlichkeit als diesen Zusammenhang aktiv reproduzierende (durch Bewältigung des „salto mortale“ [21, 111]).
Wert hat in der Wertförmigkeit seine (wesentliche) qualitative und in der Wertgegenständlichkeit seine (nachgeordnete) quantitative Bestimmung. Diese Ansicht kann sich auf Hans-Georg Backhaus berufen (3, 41f.): „Er [der „Werth“ in Backhaus’ Deutung von Marx – Mausebär] fungiert nicht als Bestimmungsgrund des quantitativen Austausch-Verhältnisses, des sog. ‘relativen Preises’, sondern als Konstituens des Preises als Preis; und zwar des Tauschwerts bzw. des Preises in seiner qualitativen Struktur als ‘Moment’ einer existierenden selbstbezüglichen Relation, des ‘wechselseitigen Daseins füreinander’ (MEW 13, 28) der Dinge – eines zirkulären Verhältnisses, in dem das eine das andere voraussetzt, die Ware das Geld und umgekehrt.“
Wenn Robert Kurz vom „Wert-Ding“ (9, 96; überhaupt: 92-100) spricht, meint er eben das Wertförmigkeitsding und hat sich damit aus der Belagerung durch den Substanzialismus freigeschossen. Und so muss man ihm auch überhaupt nicht widersprechen, wenn er anmahnt, dass „die Arbeits-Abstraktion oder Realabstraktion konsequent als Produktionslogik“ zu denken ist und nicht „zirkulativ verkürzt“ (9, 92) bleiben darf. Wer die Produktion von Waren von der Wertförmigkeit freispricht und sie wie Heinrich als die Herstellung von Gütern – bei der, nach Marx, der Wert nur „in Betracht“ komme (13, 53 f. Fußnote 12; zur Kritik daran: 9, 97) – kennzeichnet, verfehlt offensichtlich den Charakter des kapitalistischen Produktionsprozesses.

Die Krise denken

Vollendeter kapitalistischer Universalismus ist die vollendete Universalität der Katastrophe, heute ablesbar auf allen Lebensgebieten. (Robert Kurz, 19, 320)

Wir haben gesehen, dass der Wert nicht als statische Menge zu fassen ist, sondern eher als selbstreferenzielles Zwangsprinzip der Einsparung von Zeit (was immer auch heisst: Abtötung sinnlicher Bedürfnisse) beschrieben werden kann.
Wird damit die Konstatierung einer Fundamentalkrise der Warenproduktion hinfällig? Ganz und gar nicht. Die Kritik an der Mengenvorstellung des Werts ist eben keine „Kritik am materiellen Substanzcharakter der abstrakten Arbeit“, muss also auch keineswegs im Dienste „einer Abwehr der substantiellen Krisentheorie und damit der Leugnung einer absoluten inneren Schranke des Verwertungsprozesses“ stehen, wie Robert Kurz argwöhnt (9, 62). Mindestens ist die Annahme einer „absoluten, inneren (!) Schranke“ nicht notwendig für die Krisentheorie. Es folgen ein paar Thesen darüber, wie Krise nach der mikroelektronischen Revolution zu denken ist:
1. Nicht nur für die Einzelware, sondern auch gesamtgesellschaftlich gilt: Die Bedingung alles Wertes ist der Gebrauchswert (22, 686). Damit führt irreparabler Raubbau am Gebrauchswert an das Ende des Werts. Direkt vernutzbarer Gebrauchswert für wertförmige Produktion und Konsumtion existiert nur in den gegebenen Arbeitskraftbehältern (Menschen) bestimmter Energie und in natürlicher Umwelt (= ohne menschliche Vorproduktion zu Vernutzendes). Die Voraussetzungen für die Geltung des Kapitalprinzips, die nicht in ihm selbst liegen, werden durch es selbst unterminiert: Objektive Schranken der Warenproduktion im Wortsinne gibt es somit auf zwei Gebieten. Die Gemeinsamkeit beider, ihre Eigenschaft der „Objektivität“, ist die Involvierung „physischer“ Notwendigkeiten – von Lebenskörpern: Arbeitskraftbehältern und von ihnen zu vernutzende Stoffe.

2. Arbeitsverausgabung verliert endgültig ihre integrierende Kraft in der Gesellschaft. Das ist empirisch beobachtbar. Wer leugnet, dass es im Zuge der mikroelektronischen Revolution mit ihrem Aufstieg des durchflexibilisierten Programmiernomaden zur Erosion der Normalarbeitsverhältnisse gekommen ist, hat sich wohl von der Wahrnehmung der Realität abgemeldet.
Doch aus der Tatsache, dass Arbeit als Betätigung für die menschliche Reproduktion immer mehr an Bedeutung verliert, ist eben maximal auf die Erosion der Wertgegenständlichkeit zu schließen und nicht ein definitives „Ende der Arbeit“ (das mit dem Ende der Wertform zusammenfällt) abzuleiten. Das Verenden der Arbeit, ihr objektiver Verfall ist offensichtlich, nicht der endgültige Kolbenfresser von Wertförmigkeit. Die Krise der Arbeit ist nicht deckungsgleich mit der Krise der wertförmigen Vergesellschaftung. Zwar ist etwas, das sich im Prozess des Verendens befindet, irgendwann tot. Doch dieser Zeitpunkt sollte nicht das Problem des Gesellschaftskritikers sein. (Es wäre gut, sich Lenins Imperialismusdefinition zu erinnern und zu fragen: Wann ist „Faulendes“ endgültig verfault?)
Robert Kurz definiert den Begriff „produktive Arbeit“ folgendermaßen: „... kreislauftheoretisch [und damit gesamtgesellschaftlich – Mausebär] ist nur diejenige Arbeit kapitalproduktiv, deren Produkte (und damit ihre Reproduktionskosten) in den Akkumulationsprozess des Kapitals zurückkehren, d. h. deren Konsumtion wieder in die erweiterte Reproduktion eingespeist wird.“ (18, 34). Das ist „dann der Fall, wenn Produkte der Konsumgüterindustrie von ihrerseits kapitalproduktiven Arbeitern verzehrt werden, deren Konsum nicht etwa verfällt, sondern in Form des ‘Feuers’ kapitalproduktiver Energie wieder in einen neuen Produktionszyklus des Mehrwerts zurückkehrt“. (18, 34 f.). Ebenso bei der Produktion von Investitionsgütern: „auch diese Arbeit ist nur dann kreislauftheoretisch produktiv, wenn der Konsum ihrer Produkte seinerseits wieder im Kontext der Mehrwertschöpfung stattfindet, also in den Produktionszyklus des Mehrwerts zurückkehrt“. (18, 35) Diese Definition – Heinrich hat darauf hingewiesen – ist zirkulär. Produktiv ist, was von Produktiven vernutzt wird. Der Hinweis ist völlig richtig, nur eben als Vorwurf ungeeignet, denn Kurz könnte auf die Zirkularität der Realität verweisen. Und hier sind wir wieder beim Geltungsproblem: Es ist bewusstlos ausgehandelte Geltung, was zum Standard des variablen Kapitals (v) gehört(12). Etabliert sich für einen produktiven Arbeiter der Standard „Haarschnitt“, muss eben die Ausgabe für den Friseur zum früheren v addiert werden. Ob er sich aber etabliert, ist keine rein ökonomische Frage(13): Was als notwendig für den Standard des v gilt, ist nicht von vornherein ausgemacht (sondern u.a. Ergebnis von Kämpfen – egal ob auf der Straße, im Betrieb oder im Feuilleton). An der ökonomischen Oberfläche der Realität kann sich das so zeigen: Manfred Ragati, Bundesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt führt Beispiele an, welche Tätigkeiten Langzeitarbeitslose künftig verrichten könnten: Ältere in Heimen ausführen, Kinder beaufsichtigen. Er äußert „die Hoffnung, daß hierdurch auch das Bewußtsein (!) für nötige Veränderungen (!) wachse und Tätigkeiten, die jetzt als zusätzlich gälten (!), künftig als notwendig erachtet (!) und regulär finanziert (!) würden.“ (10, 11). Ragati setzt also darauf, dass sich die Menge dessen, was als finanzierungswürdig gilt, zugunsten sozialer Dienstleistungen verändert. Wenn sich gesamtgesellschaftlich allerdings die Meinung etabliert, Alte sollten weniger an die frische Luft gelangen, wird die als finanzierungswürdig geltende Tätigkeitsmenge (= Arbeitszeit) wieder abnehmen.
In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass mindestens handwerkliche Hausarbeit teilweise monetarisiert werden kann, doch die innergesellschaftliche Geltung sich eben (noch?) nicht auf dieses Gebiet erstreckt(14).

3. Die stofflichen Grundlagen der Warenproduktion, die fatalerweise mit den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zusammenfallen, werden vom Wert bis zum letzten ausgequetscht. Ein Prinzip, das nichts anderes kennt, als seine Ausdehnung, muss alles was es nicht ist, tendenziell verschlucken wollen, ein absoluter Raubbau an der natürlichen Umwelt wird die Folge sein. Da die geographische Erweiterungsmöglichkeit des Kapitals absolut erschöpft ist (Wo es heute nicht ist, kommt es nie mehr hin: Die von den internationalen Finanzmärkten gesetzten Produktivitätsstandards sind für unentwickelte Regionen uneinholbar hoch.), bleibt dem Kapital nichts übrig, als den erschlossenen Teil der Welt mit Waren immer zweifelhafteren Gebrauchswerts zu überschütten. Gnadenlose Verdrängungskonkurrenz, Missachtung jeglicher Umweltauflagen und die Zurichtung von Menschen zu sprechenden und scheißenden Biotech-Automaten kennzeichnen den Autokannibalismus des kapitalistischen Systems. Eine kurzfristige Ordnung innerhalb dieses Zerstörungsprozesses könnte das Modell China bieten. Die Etablierung einer globalen Erhaltungsdiktatur könnte dem Vorbild dieser Entwicklungsdiktatur folgen: gegeneinander konkurrierende Provinzfürsten, Einsatz der Todesstrafe zu populistischen Zwecken, Entwohnung von gebäudebestandenen Flächen, um sie Immobilientycoons in den Rachen zu werfen, willkürliche Verbote unliebsamer Zeitungen, Ströme nomadisierter Wanderarbeiter, die von einem Ende des Landes zum anderen ziehen und ihr Privatleben längst aufgegeben haben (instruktiv dazu: 16).
Der „Erfolg“ (mittlerweile muss die Konjunktur vor Überhitzung bewahrt werden) gibt China recht und begründet seine Attraktivität für die westliche Welt, die sich den Luxus schwerfälliger bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit nicht mehr lange leisten können wird (Agamben lesen!).

4. Der Kapitalismus ist zwar einer allgemeinen Anstrengung zur Rettung der Ware Arbeitskraft nicht fähig, benötigt aber ganz bestimmte Grundbedingungen und Proportionen (vgl. bspw. die Reproduktionsschemata im zweiten Band des „Kapital“), damit er als System weiterleben kann. Das heißt u.a.: die Reproduktion der Ware Arbeitskraft durch ausreichende Löhne, Etablierung von Triebverzicht durch Eltern, Schule, Institutionen (Althusser lesen!), das Gelingen der Anpassung an normale (oder auch sich verschärfende, weil verdichtete) Arbeitsverhältnisse. All diese Grundbedingungen sind unterm Diktat der „betriebswirtschaftlichen Praxis“ immer weniger zu garantieren, denn in ihr findet „eine umfassende Reduktion sozialer und überhaupt lebender Materie auf tote physikalische Gegenständlichkeit“ (9, 121) statt. „Menschen werden wie Tiere und Pflanzen behandelt, aber Tiere und Pflanzen werden wie Steine und Metalle behandelt“ (9, 121). Von der Richtigkeit dieser Diagnose kann man sich nicht nur bei Peter Singer, sondern auf jedem Sozialamt überzeugen. Die Wracks, die dort von den Schergen bundesdeutscher Sozialbürokratie herumgeschubst werden, gelten nicht länger als erwachsene Menschen, sondern als irgendwie physisch durchzubringende Tiere. Diejenigen, die noch Arbeit haben, werden Schritt für Schritt durch immer längere Arbeitszeiten, häufigere Urlaubssperren, verschärfte Arbeitshetze ihren Familien und Freunden entwöhnt und einer Wertschöpfungsgemeinschaft zwangsintegriert – mit fatalen Folgen für ihre psychische Verfassung und die ihrer Nachkommen (s.a.: 9, 120 ff.).

Krisentheorie hat nicht nötig, die Abnahme produktiver Arbeitszeit zu diagnostizieren. Problem für den Gesellschaftskritiker ist nicht, ob real Wertgegenständlichkeit auffindbar ist, sondern, ob die menschliche Reproduktion unterm Bann der Wertförmigkeit stattfindet, oder nicht(15). Das heißt: Solange es für die Geltung eines fatalen Prinzips irrelevant ist, ob es eine empirisch dingfest zu machende Grundlage hat, braucht der Wertkritiker auch nicht nach ihr zu suchen. In diesem Zusammenhang lohnt es sich m.E. erneut, ins feindliche Vokabular zu wechseln und sich den Begriff der Performativität genauer anzuschauen (hier eine kurze Begriffserklärung: http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4). Das automatische Subjekt, das in seinen und nur durch seine Äußerungen sich macht, ist nichts als „eine „ritualisierte Produktion, ein Ritual, das unter Zwang und durch Zwang wiederholt wird“ (Butler [5, 139] über den Begriff „performative Ausführung“). Diese Wiederholungen werden nicht von einem selbstbewussten Einzelsubjekt ausgeführt, sondern ermöglichen ein Subjekt (5, 139). Dieses Subjekt ist offensichtlich das – automatische. Hinter seinen Äußerungen ist – nichts. Es gibt nur permanente normierte Wiederholung, Anschluss gleichartiger Operationen aneinander – Selbstreferenz. Der Diskurs bringt durch fortlaufende Wiederholung das hervor, was er selbst benennt (5, 22). Nur durch Bezug auf vorangegangene gleichartige Operationen erhält die Einzeloperation selbst „Macht“. Marx findet für die Beschreibung dieser sich-selbst-begründenden und sich-selbst-rechtfertigenden Struktur eine Formulierung, die wie eine moderne systemtheoretische Verlautbarung klingt: „Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältniß das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussezt und so jedes Gesezte zugleich Voraussetzung ist (!), so ist das mit jedem organischen System der Fall.“ „Dieß organische System“ hat die Eigenschaft „alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus (!) zu schaffen“ (zit. bei Reichelt: 30, 104).
Ein System, das so gestrickt ist (Luhmann würde es im Anschluss an Maturana „autopoietisch“ nennen), hat keine absolute innere Schranke, ist aber sehr wohl in der Lage, seine äußeren Voraussetzungen irreversibel zu untergraben (s.o.)(16).
Der Kapitalismus wird von allein nicht sterben, es sei denn durch Herbeiführen des unmittelbaren Exitus’ aller von ihm Beherrschten. Dagegen lässt sich nur der bewusste Aufstand aller von ihm Geknechteten mobilisieren.
Die o.a. Thesen lassen zwei Themen der Gesellschaftskritik sichtbar werden: 1. das immer stärkere Einschnüren des physischen Menschen bis zur Reduktion auf nacktes Leben, 2. die immer rabiatere Umweltzerstörung als ultimative Unterminierung der Möglichkeit des Kommunismus’.
In genau diesem Sinne muss Widerstand überall dort ermutigt werden, wo Menschen den Wahnsinn subjektloser Herrschaft direkt spüren. Ob sie von der bürokratischen Menschenverwaltung Sekkierte sind, oder noch arbeitende Normalbürger, die nicht einsehen können, dass auch die letzten verbliebenen baumbestandenen Flecken zubetoniert werden müssen, ob sie im weltweiten Flüchtlingslagersystem vegetieren oder täglich unter der ganz normalen Homophobie leiden – im unwiderruflichen Absturz der Warengesellschaft, dessen Vorschein die vollständige Streichung aller sozialen Errungenschaften darstellt, ist jede Aktion für die Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen von Menschen automatisch ein Sargnagel für den Kapitalismus.

Finale Krise der Linken

Darauf [muß man den Jüngling hinweisen – Mausebär], daß er einen geringen Wert setze in den Genuß der Ergötzlichkeiten des Lebens. Die kindische Furcht vor dem Tode wird dann wegfallen. Man muß dem Jünglinge zeigen, daß der Genuß nicht liefert, was der Prospekt versprach. —
Auf die Notwendigkeit endlich der Abrechnung mit sich selbst an jedem Tage, damit man am Ende des Lebens einen Überschlag machen könne in betreff des Wertes seines Lebens. (Immanuel Kant, 15(17))
How with this rage shall beauty hold a plea / Whose action is no stronger than a flower? (William Shakespeare, 33)

Es ist nicht zu erwarten, dass die Politszene, die sich theoretisch reflektiert dünkt, diese Implikationen von „Krise“ in den Blick bekommen wird – zu unwirklich geworden ist der Zusammenhang der eigenen Reproduktion mit dem, was man als sich kritisch halluzinierendes Einzelindividuum so treibt.
Das eigene leere Portemonnaie wird von ihm wahlweise mit dem Kapitalprinzip im allerallgemeinsten Sinne oder mit persönlichem Pech in Verbindung gebracht – eine Vermittlung derart, die Sicherung der eigenen Reproduktion in die Kritik an der Gesellschaft einzubringen, wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Das Kritikerleben findet am Schreibtisch statt – sobald man ihn verlässt, geht man im Warenmonadendasein vollständig auf und gibt allen, die das ein wenig sprunghaft, um nicht zu sagen schäbig finden, Bescheid, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe.
Ich hoffe gar nicht mehr, dass es ein Problem für die coolen Szenies wird, dass „die Hälfte aller 43 000 HIV-Positiven in Deutschland ... an der Armutsgrenze (leben)“ und dass es zum „Trend“ wird „daß immer mehr HIV-positive Menschen aus finanziellen Gründen auf ihre Medikamente verzichten ... und ihre Therapie abbrechen“ (2). Doch vielleicht sollte diese Szene es mitbekommen, dass immer mehr Leute aus ihren eigenen Reihen sich schlicht und einfach selbst die Sozialpreise in linken Projekten nicht mehr leisten können und bzgl. der Duldung mitgebrachter Getränke auf das Wohlwollen der Barkeeper angewiesen sind. Wenn die eigene Reproduktion lediglich unreflektierte (und eben darum selbstverständliche) Voraussetzung für Kritik ist, liegt es auch nicht nahe, sich die Zeit fürs Adorno-Lesen mit Normalbürgern herbeizudemonstrieren – zu nett hat man sich eingerichtet im Studentenleben.
Jedem, der auf lebensweltliche Details der Fundamentalkrise hinweist, wird achselzuckend erwidert, ob man sich denn vom Kapitalismus ein schönes Leben erwartet hätte? Es ist die dummfreche Arroganz der Vollinformierten, Abgeklärten mit der wieder und wieder jede Krisenempirie verdrängt wird. Nur merkwürdigerweise werden dieselben Leute um so empiriegeiler, wenn es gegen die geht, die sich die finsteren Zumutungen des Krisenkapitalismus’ nicht länger gefallen lassen wollen. Da wird jede Anti-Hartz-Demonstration, ja jedes dumme Schild und jeder blöde Spruch auf ihr Gegenstand heftigsten Abscheus. Die jetzt so schwer Empörten seien zurückgefragt: Was habt ihr denn erwartet? Wohlangezogene Marxkenner, immer ein paar Adorno-Zitate auf den Lippen? Gar eine Armee aus Michael-Heinrich-Klonen mit Streetfight-Erfahrung?
Das Verhältnis zur althergebrachten radikalen Bewegungslinken ist ambivalent: Zwar ist die Abneigung gegen ihren Habitus, ihre Hygienegewohnheiten und Sprachregelungen riesig, doch wo auch immer unsere kritischen Kritiker hinfahren suchen sie nach Linken, weil sie längst verlernt haben, mit anderen Menschen auch nur zu reden. Bei allem Hass gegen „Zottel“ und „stinkende Zecken“ – man will ihre Gegenwart und scheißt auf die normale Bevölkerung.
Die Bonsai-Horkheimers, die jeden Tag irgend etwas von „verzweifelter Anstrengung“ erbrechen und damit das Lesen schwieriger Bücher meinen, staunen Bauklötzer, wenn man ihnen auf diesem Schwindeltrip nicht folgen will, wenn man es als lächerlich empfindet, dass ein paar Jungmänner ihr Delektieren an den „Minima Moralia“ als Leiden an der Gesellschaft auslegen. (Wie die forcierte Rede von der „kommunistischen Kritik“ sind auch das „Leiden“ und die „verzweifelte Anstrengung“ Bestandteile jenes Jargons der Leidenschaftlichkeit, den heute jeder beherrschen muss, will er nicht als Verfechter einer „verkürzten Kapitalismuskritik“ oder schlimmer – als Wertkritiker dastehen.)
Doch trotz aller manischen Adorno-Lektüre – Dialektik ist ihnen nichts weiter als eine Wunderwaffe (dazu: 13, 34 ff.), die jedes logische Hindernis nimmt. Ihre grundstürzende Kraft lässt sich in der Wendung „einerseits – andererseits“ zusammenfassen. Bezogen auf die Aufklärung heißt das: „Früher war auch nicht alles schlecht.“ (bezeichnenderweise der Standard-Satz aller Naziopas und SED-Bonzen). Mit diesem einerseits/andererseits-Quark ist es locker möglich, Fan der Aufklärung zu sein und gleichzeitig von „Schönheit und Genuss“ zu schwafeln, die verteidigt gehörten. Dass Aufklärung eine einzige Verschwörung gegen Schönheit und Genuss ist, muss die elaborierten Dialektiker da nicht weiter stören.
Und so geht es also weiter, immer weiter im linken Betrieb: Lesen, Bewegungsbeschimpfung, Selbstmitleid und – nach kurzem Abschütteln der „verzweifelten Anstrengung“ – intellektuelles Pausieren bei Antifa-Anekdötchen. Das alles wird bis auf weiteres attraktiver sein, als eine ernsthafte Durchdringung der Wertgesellschaft mittels der Kritik der politischen Ökonomie.

Es geht überhaupt nicht darum, die Proteste gegen Hartz IV als gesellschaftskritische Bewegung abzufeiern, zu offensichtlich ist der positive Bezug auf Arbeit, unüberhörbar der Standort-Nationalismus erklärter und versteckter Nazis, nicht zu leugnen der Obskurantismus rechtskonservativer Sekten. Doch was dagegen mobilisiert wird, ist reiner Idealismus pseudokommunistischer Nörgler, die völlig aufgehen in ihrer Kommunismus-Esoterik, im Hass gegen alles verschmelzen, was an Bewegung auch nur entfernt erinnert und sich vollständig identisch machen mit einer Ideologie, die ihnen die eigene physische Reproduktion als belanglos erscheinen lässt. So lange die Bewegung nicht das macht, was der adornitische Schnösel will, gehört sie bekämpft. Nur kurz seien die kommunistischen Studenten daran erinnert, dass sie ihre Zeit damit zubringen, sich auf meine Steuerzahlerkosten den Arsch in Uni und Lesekreis breitzusitzen, statt das zu tun, was ihr hassgeliebter Ober-Guru als vornehmstes Ziel allen Gesellschaftskritikern anempfohlen hat: „etwas aus sich zu machen“.

Doch auch ich bin Dialektiker: Ich kämpfe gegen Hartz IV und hoffe darauf. Nachdem die Szene, soweit sie die Massenproteste nicht vollkommen ignoriert, lediglich gegen sie gepöbelt hat(18), werden hoffentlich mindestens die Multiplikatoren möglichst bald nach ihrem Studium in den Genuss dieses Maßnahmepakets kommen und neben dem Bezug von 331 € plus Wohngeld stundenweise in Supermärkten oder Grünanlagen schuften müssen. Vor allen einer gewissen Susanne Fischer (11) ist dies zu wünschen. In der Jungle World missbilligt sie die Proteste gegen den neuesten Sozialkahlschlag. Zunächst: „Die Leute sind mit Recht unzufrieden.“ Hartz IV und Arbeitslosigkeit und so. Die Leute sind unzufrieden, aber demonstrieren dürfen sie gegen den Gegenstand ihrer Unzufriedenheit nicht: „Doch so berechtigt die Kritik am Arbeitslosengeld II ist, so wenig hat sie erst mal mit einem emanzipatorischen, herrschaftskritischen Denken zu tun.“ Susanne Fischer macht vermutlich schon nach dem Aufstehen was Emanzipatorisches, Herrschaftskritisches und ernährt sich im Übrigen von Luft, Liebe und Kritik. Gegen ALG II muss gefälligst jedeR herrschaftskritisch agieren; wer sich nicht, wie die Autorin, der Strömung zurechnet, die auf ihr logisches Problem stolz ist, mit Bewegungsbeschimpfung Bewegung machen zu wollen, hat Pech gehabt und soll gefälligst zu Hause bleiben, falls er noch eins hat. Die unzufriedenen Bürger als völkische Masse zurechtzulügen, schafft die wie wild projizierende Zynikerin mit links: „Niemand scheint für die eigenen Bedürfnisse und schnöde materielle Verbesserung zu demonstrieren.“ Scheißegal, dass die Leute auf Schildern dokumentieren, keinen Bock auf Zwangsarbeit zu haben, dass ein verdi-Vertreter unter tosendem Beifall die Notwendigkeit der 30-Stunden-Woche verkündet, dass einige DemonstrantInnen ein Existenzgeld fordern und ein nicht zu überhörender Block „Fuck Standort Deutschland!“ ruft. Wenn eine Phase 2-Redakteurin der Größenwahn packt, findet sie zum Stil eines drittklassigen Feuilleton-Plappermäulchens (Spezialgebiet: Extremismus), das sich durch intensive Auswertung von Pressemappen für den Job eines VS-Zuträgers qualifizieren will: „Das Beste an den Demos ... ist, dass sie ganz schön lahm und ruhig daherkommen. Sie scheinen derzeit nicht so gefährlich wie 1989“. Man weiss nicht, was man dieser würdigen Repräsentantin einer lächerlichen Checkerbande, die außer der liebevollen Pflege von Verschwörungstheorien über Europa nichts, aber auch nichts gelernt hat, eher an den Hals wünschen soll: Die nächsten zehn Jahre Zwangsarbeit bei Billiglohn oder die Rückkehr in die Stasi-DDR.

Das ist schon ein schweres Schicksal: Linke, die nichts mehr wollen, als den status quo des neoliberalen Betriebs aufrechtzuerhalten und in ihrer Freizeit die albernen Faschingsrituale ihrer links-hooliganistischen Szene aufzuführen, werden im ausgereiften Krisenkapitalismus immer öfter mit Leuten konfrontiert, die sich partout nicht durch die Wertmühle drehen lassen wollen. Jede dokumentierte Unzufriedenheit mit den unverschämten Sozialkürzungen weist den Protestierenden als „Teil des Problems“ aus – Mob eben. Berechtigte Wut von völkischem Dreck, Kapitalismuskritik von Antisemitismus und den Kampf gegen Billiglöhne von „Sozialneid“ zu unterscheiden, machen sich die Szenies schon längst nicht mehr die Mühe.
Neben vielem anderen muss auch diese Linke erst untergehen, ehe der Weg für menschliche Emanzipation frei ist.

Literatur

Zitierweise: In Klammern folgt die u.a. Publikationsnummer, dahinter wenn nötig die Seitenzahl.

(1) Agamben, Giorgio: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002
(2) Ärzte Zeitung, 07.09.2004
(3) Backhaus, Hans-Georg: Die Irrtümer der nationalökonomischen Marx-Kritik als Grundmängel der nationalökonomischen Theoriebildung, S. 32-47 in: Brentel, Helmut (Hg.): Gegensätze. Elemente kritischer Theorie, campus, Frankfurt am Main, 2000
(4) Backhaus, Hans-Georg und Helmut Reichelt: Wie ist der Wertbegriff in der Ökonomie zu konzipieren?, Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Argument, Berlin Hamburg, 1995
(5) Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1997
EXIT! – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Horlemann, Bad Honnef, 2004. (6)-(9):
(6) Haarmann, Petra: Copyright und Copyleft, S. 184-200.
(7) Haarmann, Petra: Im Westen nichts Neues, S. 160-165.
(8) Höner, Christian: Die Realität des automatischen Subjekts, S. 130-159.
(9) Kurz, Robert: Die Substanz des Kapitals, S. 44-129.
(10) FAZ: „10000 Ein-Euro-Jobs für die Wohlfahrt“, 07.09.04
(11) Fischer, Susanne: Unmögliche Dialektik, http://www.jungle-world.com/seiten/2004/37/3919.php
Heinrich, Michael:
(12) Die Wissenschaft vom Wert: Die Marxsche Kritik..., Westfälisches Dampfboot, Münster, 1999
(13) Kritik der politischen Ökonomie: Eine Einführung, Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2004
(14) Theoretical Deficits of the Left and the Struggle for Hegemony, http://eszmelet.tripod.com/angol2/heinrichang2.html
(15) Kant, Immanuel: Über Pädagogik, http://www1.uni-bremen.de/~kr538/kantpaed.html
(16) Karl: China – Das Fließband läuft., wildcat #69, http://www.wildcat-www.de/wildcat/69/w69china.htm
(17) Kim, Kyung-Mi: Hilferding und Marx: Geld und Kredittheorie in Rudolf Hilferdings „Das Finanzkapital“ und im Marxschen „Kapital“, PapyRossa, Köln, 1999
Kurz, Robert:
(18) Die Himmelfahrt des Geldes: Strukturelle Schranken..., Krisis 16/17, Horlemann, Bad Honnef, 1995
(19) Marx lesen: Die wichtigsten Texte..., Frankfurt am Main, Eichborn, 2000
(20) Tabula Rasa – Wie weit..., Krisis 27, Horlemann, Bad Honnef, 2003
Marx, Karl:
(21) Das Kapital I, Dietz, Berlin, Volksausgabe, 1953
(22) Das Kapital III, Dietz, Berlin, Volksausgabe, 1953
(23) Ergänzungen und Änderungen zum ersten Band des „Kapitals“ (1871/72), in: Marx/Engels-Gesamtausgabe, Zweite Abt., Bd. 6, Dietz, Berlin, 1987
(24) Fragment des Urtextes von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1858), abgedruckt in: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
(25) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
(26) Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, Dietz, Berlin, 1990
(27) Mausebär: Kein Schein ohne Scheinendes, cee ieh #97 http://www.conne-island.de/nf/97/24.html
(28) Meschkowski, Herbert: Moderne Mathematik: Ein Lesebuch, Piper, München Zürich, 1991
Reichelt, Helmut:
(29) Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im „Kapital“, http://www.marx-gesellschaft.de/Texte/ReicheltGeltung.pdf
(30) Warum hat Marx seine dialektische Methode versteckt? in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1996, Argument, Berlin Hamburg, 1996
(31) Roman: Die phantasmagorische Form, cee ieh #95, http://www.conne-island.de/nf/95/16.html
(32) Scholz, Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus: Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Horlemann, Bad Honnef, 2000
(33) Shakespeare, William: Sonette, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1989. hier: aus dem 65. Sonett
(34) Trenkle, Norbert: Was ist der Wert? Was soll die Krise?, http://www.krisis.org/n-trenkle_was-ist-der-wert.html

Fußnoten

(1) vgl. Backhaus (3, 35): Wert als „ein mannigfaltig Bestimmtes, ein ‘Ganzes’ von ‘Momenten’, ‘allgemeinen Charakteren’ oder ‘qualitativen Bestimmungen’“.
(2) Kurz verficht hier das Korrelat zu Heinrichs Problem. Lässt Heinrich den Wert erst im Tausch entstehen (12, 214 ff.; 13, 51 ff.), statt lediglich darauf zu beharren, dass ein Tauschzusammenhang notwendig für die Wertkonstitution ist, setzt Kurz den Wert in dieser Passage unabhängig vom Austauschverhältnis, statt lediglich darauf zu beharren, dass zur Wertkonstitution auf Produktion nicht verzichtet werden kann. Beide Sichtweisen sind hochproblematische Verabsolutierungen (s.o. im Text).
(3) Zum Thema „Ort der Wertentstehung“ findet man für jedes Marxzitat „pro Produktion“ eines „pro Zirkulation“. Es hat wenig Sinn, sie hier alle auszubreiten. Wer Lust darauf hat, ein paar „pro Zirkulation“ nachzulesen, kann das hier tun: 12, 198-219; 17, 22-31. Eins, das wegen seines Bezugs auf Gesellschaftlichkeit -und damit auf die Gesamtarbeitskraft der Gesellschaft (21, 43) – interessant ist, soll hier aber doch stehen: „Die Zirkulation ist die Beweg[ung], worin das eigne Produkt als Tauschwert (Geld), d. h. als gesellschaftliches Produkt, und das gesellschaftliche Produkt als eigne[s] (individueller Gebrauchswert, Gegenstand der individuellen Konsumtion) gesetzt wird.“ (24, 904 f.)
(4) Backhaus/Reichelt (4, 68) werfen Heinrich vor, dass es für ihn „eine absolute Zweiteilung der Ökonomie in naturale Realsphäre, in der keine Waren, sondern Produkte hergestellt werden, und der Sphäre des Austausches“ gäbe. S.a. die neue Kritik von Robert Kurz: 9, 92-100.
(5) Auch ich habe versucht, den Substanzialismus – wenn auch in einer esoterischen Version- zu retten. Damals hieß es: „Er [der Wert – Mausebär] ist bestimmt, aber für uns unbestimmbar; nicht fixierbar (= festzuhalten als länger gültig), aber fixiert (= festgehalten in jedem Zeitpunkt gesellschaftlicher Reproduktion).“ (27). Ich hoffe, jetzt deutlich gemacht zu haben, dass diese Interpretation nur dann richtig ist, wenn Bestimmtheit und Fixiertheit auf Geld bezogen werden. Roman, der damalige Opponent, ist sehr viel näher an die relevanten Fragestellungen herangekommen, als ich es damals wahrhaben wollte, s. bspw.: „Wert erscheint im Verhältnis (!), ist weder der einen noch der anderen Ware zuzuschreiben, aber ist geltend für jedes Verhältnis innerhalb der Mannigfaltigkeit der Warenwelt.“ (31). Der vorliegende Text ist in jeder Hinsicht eine Revision meiner früheren Ansichten zu diesem Thema.
(6) Ein „Gespenst“ ist nicht zu fangen, da es dort ist, wo es sich nicht darstellt. Schon insofern ist die Annahme, eine reale Einzelware könne eine gespenstige Gegenständlichkeit „haben“, widersprüchlich. Gespenstige Gegenständlichkeit zeigt sich nur in einem Verhalten, ist also nur insofern real, als sie zu etwas Realem veranlassen kann. Damit aber wären wir wieder beim Zwangsprinzip.
(7) G’ ist qualitativ nun mal nur Geld. Und mit Geld kann die Warengesellschaft tatsächlich nichts anderes anfangen, als es zu mehr Geld zu machen, es also zum G eines neuen Prozesses werden zu lassen.
(8) das ein kritischer „Chemiker“ entdecken können müsste. (vgl. 21, 89)
(9) Vielleicht ist die Unterscheidung Potenz/Akt, die Giorgio Agamben im Anschluss an Aristoteles’ dýnamis/enérgeia trifft, zur Illustration für die zwischen Wert/Einzelhandeln nach dem Wertprinzip geeignet. Die Potenz existiert autonom, ist sie selbst dadurch, dass sie zum Akt übergehen kann oder auch nicht, muss aber immer auf den Akt bezogen sein, um Potenz zu sein. Sie verflüchtigt sich nicht im Akt, sondern erhält sich in ihm (vgl. 1, 55 ff.).
(10) Diese Überlegung hat die Mengenlehre auf ihrer Seite. Äquivalenz zweier Mengen ist dort durch die Möglichkeit eineindeutiger Zuordnung ihrer Elemente definiert. „Eine Menge von sieben Männern ist zu einer Menge von sieben Hüten äquivalent.“ (28, 104 f.). Männern und Hüten ist der Bezug auf umkehrbar eindeutige Zuordnung gemeinsam – insofern sind sie äquivalent, und nicht, weil ein Mann mit einem Hut identisch ist. Die Menge der natürlichen Zahlen ist der der geraden Zahlen äquivalent, doch nicht einmal der hartgesottenste Steinzeitmarxist würde behaupten, dass beide gleich sind!
(11) Sorry für das (post)strukturalistische Vokabular in diesem Absatz. Doch Butler weiss mehr als so mancher Marxist von der Beschaffenheit „subjektloser Herrschaft“ (Robert Kurz). Und von dem, was sie weiß, sollte man lernen – ohne Ressentiment.
(12) Auch hier – nicht nur bei der Erklärung des Geldes – reicht es also, dass etwas gilt, damit es ist. Wäre es anders – läge also für jeden der Widersinn sinnlicher Übersinnlichkeit (des Geldes) auf der Hand – hätte eine Fetischgesellschaft keinen Augenblick länger Bestand. dazu: 29, 4. Kapitel
(13) allerdings auch – In Krisenzeiten wird die Möglichkeit, sich selbst die Haare zu schneiden, schnell wiederentdeckt.
(14) Roswitha Scholz ist dafür zu kritisieren, dass sie Tätigkeiten wie Abwaschen, Essenzubereitung u.ä. umstandslos auf die abgespaltene Rückseite des Werts verweist, zusammen mit Lebensäußerungen wie Zuwendung, Beziehungsaufbau und -erhaltung, die sich tatsächlich dem Verwertungsimperativ entziehen. vgl.: 32, 109
(15) Insofern schließe ich mich Roman an. Es geht um die „einsichtige(n) Forderung nach Abschaffung der zwanghaften Form des Kapitals und des sie reproduzierenden Bewußtseins. Dies wäre im Kern die rational einsichtige Notwendigkeit des Reichs der Freiheit und dessen praktische Umsetzung als Konsequenz.“ (31)
(16) Auch in dieser Beziehung – also bei der Frage: Weshalb sterben Systeme? – wäre eine Sichtung der Hauptwerke von Niklas Luhmann hilfreich. Stichworte: strukturelle Kopplung, Autopoiesis, Integration.
(17) Wer bei dieser Passage sich nicht an die faschistischen Islamisten erinnert, dem ist wohl nicht mehr zu helfen. Anscheinend ist Robert Kurz, der knarzige wertkritische „Baggerfahrer mit der Abrissbirne“ (20, 100) einer der wenigen, die Kant so zu würdigen verstehen, wie er es verdient: „Kant kann man insofern lesen, wie man das Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg besichtigt.“ (20, 107)
(18) Löbliche Ausnahmen waren die Leipziger Libertären, die Linke StudentInnengruppe und die Wertkritischen Kommunisten. Mit knappen (arbeits)kritischen, ganz und gar nicht anbiedernden Redebeiträgen waren sie auf den Leipziger Demonstrationen gegen Hartz IV präsent.


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last modified: 28.3.2007