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Dabei sein ist alles – 1. Mai Berlin 2003


Ein Walpurgisnachtstraum mit Geisterprozession


Auch diesmal wieder musstet Ihr wohl einmal mehr vor Eltern und den redlicheren unter Euren Bekannten standhaft versichern, dass Ihr es anders haltet mit den Krawallen am Ersten Mai in Berlin. Und so habt Ihr es dann bei Ausflüchten in politische Beweggründe oder Feiertagstourismus belassen, anstatt zu offenbaren, dass euch der politische Heckmeck um den Tag der Arbeit schon lange am Arsch vorbeigeht und Ihr eigentlich nur noch darauf aus seid, zu prüfen, ob das mit dem Adrenalin in der Blutbahn noch richtig funktioniert, wenn Ihr euch flüchtender Weise vom „Schnittlauch“ durch die Berliner Obst- und Gemüseläden der Stadtteile Kreuz- und Prenzelberg scheuchen lasst. Und tatsächlich gab es wieder das, was alle schon von vornherein wussten und worauf Ihr das ganze Jahr so sehnsüchtig gewartet habt – Brennen in den Augen, Rauchschwaden am Kreuzberger Oranienplatz und das Geräusch zerberstenden Glases. Doch dieses Jahr, so versichern uns die Medien einheitlich, hat das Ganze, was Ihr oder zumindest Eure Kumpels aus der radikalen Linken schon seit Jahren versucht, nämlich dem Spektakel einen politischen Gehalt einzuhauchen, endgültig ein Ende. Man hat Euch enttarnt als „desillusionierte arbeitslose Jugendliche ohne Perspektive auf irgendeine Zukunft und ohne politisches Konzept“. Wenig verwunderlich, möchte man meinen, in einer Gesellschaft, in der „weniger Sozialstaat mehr Jobs bringt“ (Werbeplakat der BfA zum Ersten Mai). Das ist offensichtlich nicht mehr als ein Tritt in den Hintern eben jener, die schon heute werktags entweder früh um 8 Uhr vorm nächstliegenden Getränkemarkt auf rosige Zeiten anstoßen, oder wie Ihr, es grad eben mal noch schaffen, vor Ladenschluss die Voraussetzungen des gleichen Rituals mit etwas weniger Zukunftsdusel heranzuholen, um den Stress und die schon angesprochene Perspektivlosigkeit etwas mehr anonym im Dunkel der Nacht zu ertränken. Die Randale, so heißt es weiterhin fast durchgängig in allen gutbürgerlichen Zeitungen, seien zunehmend „unpolitisch“ und gingen nicht mehr von den einstmals so gefürchteten „revolutionären Demonstrationen“ der Radikalen Linken aus. Immer mehr sei zu beobachten, dass die Störenfriede gar nicht so „linksalternativ“ aussähen, sogar teilweise „anständig gekleidet“ wären. Sind es etwa Wohlstandskids, die von Familie und Staat nicht mehr erfahren, was Liebe und Zuneigung heißt? Worin besteht ihre Motivation zur Gewalt? Und was haben sie mit den auch immer stärker in Aktion tretenden arabischen Jugendlichen zu tun, die größtenteils wohl selbst aus dem Bezirk stammen, den sie in Schutt und Asche zu legen trachten? Was verbindet beide Gruppen? Wo sind die Linken, die eventuell die entsinnlichte Gewalt kritisch thematisieren könnten? – Alles Fragen, die sich bestimmt nicht nur der Feiertagsreporter des „Neuen Deutschlands“ und der Fahrrad fahrende Demo-Dauergast Ströbele stellen, sondern die auch Ihr Euch stellen solltet, um mitreden zu können, bei dem, wovon man eigentlich nicht so gern spricht – von Randale. Wie dies ganze Prozedere diesmal vor sich ging, soll im Folgenden in nicht ganz ernsthafter Weise kommentiert werden.

Walpurgisnacht

Es ist kurz vor Mitternacht, als im Naherholungszentrum Mauerpark des Bezirks Prenzlauer Berg der Frühjahrsflug der Pollen einheimischer Gewächse plötzlich Konkurrenz bekommt durch den Flug mehr oder weniger geleerter Glasgefäße, die aus einer vermeintlich friedlichen Menge mehrerer Tausend junger Leute in Richtung der vermeintlich friedlichen Menge junger kerniger Schutzmänner und Schutzfrauen fliegen. Doch entgegen dem letzten Jahr, als sich einige Beamte beim wilden Sturm der gleichen Lokalität aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse im Park etwas verschätzten, hat sich die Staatsmacht diesmal besser vorbereitet und postierte sich schon vorab auf den umliegenden Hängen, ebenso auch umfangreiches Kameramaterial, was die erlebnisorientierten Jugendlichen unter der so großen Partygemeinde aber nicht davon abhält, munter das nächtliche Spiel mit Kampfgebrüll zu eröffnen.
Dass gegen Pollenflug eventuell das Verdecken des Gesichts hilft, wissen einige der anwesenden Jugendlichen, aber dass gegen Glasgefäßflug nur Helme helfen oder eine schnelle Flucht aus der Gefahrenzone, merken sie spätestens, als sie aus den Reihen der Aggressoren immer häufiger fehlgeleitete Munition vor den Schädel bekommen. Als wenig später auch die letzten Feiernden merken, dass mit einem feuchtfröhlichen Versacken im Park bis in die Morgenstunden wohl nicht mehr zu rechnen ist, weil den Parteien des Spiels anscheinend alles außer Action egal ist, verlassen schlagartig alle Nichtschaulustigen und Leute jenseits der 30 den Park. Und so hat die Horde in grün auch wenig Mühe in Kehrmaschinenmanier die städtische Grünfläche von ohnehin nur müllproduzierenden Jugendlichen zu räumen.
All denjenigen, den an diesem Abend die Übernachtung in einer der Gefangenensammelstellen erspart blieb, blieb eins jedoch nicht erspart: der nächste Tag in den Reihen der „Ihrigen“.

Geisterprozession – Analogie zum „Walpurgisnachtstraum“ – eine Auswahl(1)

THEATERMEISTER.
(...)
Alter Berg und feuchtes Tal,
Das ist die ganze Szene!

[same people, same location as every year]

HEROLD.
Dass die Hochzeit golden sei
Soll’n funfzig Jahr sein vorüber;
Aber ist der Streit vorbei,
Das golden ist mir lieber.
(...)

[jede Menge Bündnispolitik]

NEUGIERIGER REISENDER.
Ist das nicht Maskeraden-Spott?
Soll ich den Augen Trauen?
(...)

[links = rechts?, rechts = links?]

NORDISCHER KÜNSTLER:
Was ich ergreife das ist heut
Führwahr nur skizzenweise;
Doch ich bereite mich beizeit
Zur italien’schen Reise.
(...)

[tutte bianchi!]

PURIST.
Ach! mein Unglück führt mich her:
Wie wird nicht hier geludert!
Und von dem ganzen Hexenheer
Sind zweie nur gepudert.
(...)

[Oder sind’s doch mehr?]

KRANICH.
In dem Klaren mag ich gern
Und auch im Trüben fischen;
Darum seht ihr den frommen Herrn
Sich auch mit Teufeln mischen.

[meinte sicher auch der neugierige Reisende]

WINDKIND.
Ja für die frommen, glaubet mir,
Ist alles ein Vehikel;
Sie bilden auf dem Blocksberg hier
Gar manches Konventikel.
(...)

[nicht nur in Berlin!]

FIDELER.
Das hasst sich schwer das Lumpenpack
Und gäb sich gern das Restchen;
Es eint sie hier der Dudelsack
Wie Orpheus’ Leier die Bestien.

[...immer die gleiche Leier]

DOGMATIKER.
Ich lasse mich nicht irre schrein;
Nicht durch Kritik noch Zweifel.
Der Teufel muss doch etwas sein;
Wie gäb’s denn sonst auch Teufel?
(...)

[Bewegung ist dort, wo sie passiert?]

IRRLICHTER.
Von dem Sumpfe kommen wir,
Woraus wir erst entstanden;
Doch sind wir gleich im Reihen hier
Die glänzenden Galanten.
(...)

[Nazis war’n auch da]

DIE MASSIVEN.
Platz und Platz! Und ringsherum!
So gehn die Gräschen nieder,
Geister kommen, Geister auch
Sie haben plumpe Glieder.
(...)

[„Wasser marsch, zwei Stöße zu 12 bar in die Manteuffelstraße – linke Gehwegseite.“]

ORCHESTER (Pianissimo).
Wolkenzug und Nebelflor
Erhellen sich von oben.
Luft im Laub und Wind im Rohr,
Und alles ist zerstoben.

[Berlin Kreuzberg, 2. Mai früh am Morgen]

Zusammengestellt von Roman

Fußnote:
(1) Im Folgenden ausschließlich zitiert nach Goethes „Faust. Der Tragödie Erster Teil“, ergänzt durch Kommentare in eckigen Klammern.


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last modified: 28.3.2007