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Zum nebenstehend dokumentierten Flugblatt der Roten Antifaschistischen Aktion Leipzig (R.A.A.L.)
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„Die Arbeiter haben kein Vaterland“

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Kommentar zum RAAL-Flugblatt

In dem Flugblatt der R.A.A.L. zu Kurdistan und zur PKK wird positiv darauf Bezug genommen, daß „die Kurdinnen und Kurden (...) mit ihren ca. 30 Millionen Menschen eine der größten Bevölkerungsgruppen der Erde (seien), welche keine staatliche Vertretung (besäßen) und denen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert“ würde.
Unverkennbar gilt hier der R.A.A.L das sogenannte Selbstbestimmungsrecht eines Volkes als positiver Wert. Dieses Recht überhaupt anzuerkennen, setzt voraus, daß die Unterdrückung einer sich selbst als Volk deklarierenden Gruppe von Menschen gesehen wird.
Zwillinge, 3.2k „eine sich selbst als Volk definierende Gruppe von Menschen“
In aller Regel versteht ein Volk Selbstbestimmung als Unabhängigkeit von einem Gemeinwesen, einer Nation zu dem oder zu der es bislang gehörte bzw. gezählt wurde. Separatistische Bestrebungen dieser Art gelten als nationalistisch. Nicht zuletzt deshalb, weil das Ideal der sogenannten Selbstbestimmung in der Konstitution als eigene Nation besteht.
„Ein Volk kann nicht frei sein, das andere Völker unterdrückt.“ Dieser Satz stammt von Marx und Engels. Jenen Ausspruch nannte Lenin „das Grundprinzip des Internationalismus“ und entwickelte auf dieser Basis den Begriff vom proletarischen Internationalismus, ohne außer Acht zu lassen, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest niederschrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“
Der proletarische Internationalismus verlange, so Lenin, „(...) daß die Interessen des proletarischen Kampfes in jedem einzelnen Lande den Interessen des proletarischen Kampfes im Weltmaßstab untergeordnet werden (...)“.(1) In diesem Sinne sei es von seiten der Kommunisten und Sozialisten notwendig, „nicht nur die bedingungslose und sofortige Befreiung (...) zu fordern (...), sondern (...) auch revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern entschieden (zu) unterstützen“.(2) Lenin maß dem Zusammenwirken von organisierter Arbeiterbewegung und nationaler Befreiungsbewegung entscheidende geschichtliche Bedeutung bei. Folglich hielt er es für richtig, die bekannte Losung von Marx und Engels entsprechend zu ergänzen. Sie lautete für ihn fortan: „Proletarier aller Länder und unterdrückter Völker, vereinigt euch!“ Lenin konkretisierte, was bereits Engels anmerkte, nämlich daß nationale Bestrebungen allein danach zu beurteilen wären, inwieweit sie den mutmaßlichen Interessen des internationalen Proletariats dienten. Lenin gelang es, insbesondere in der Korrespondenz mit Rosa Luxemburg, Leo Trotzki und Karl Kautsky, die Differenzierung durchzusetzen, nach der der Nationalismus einer sogenannten Unterdrückernation nicht mit dem Nationalismus einer „unterdrückten Nation“ zu verwechseln sei. Damit öffnete er jedoch faktisch einer Aushebelung der Aussage, wie sie im Kommunistischen Manifest niedergeschrieben wurde, Tür und Tor.
Dadurch war also klargestellt, daß Nationalismus als solcher von der Linken nicht grundsätzlich als negativ zu betrachten wäre, zumal, wie Lenin festellte, „jeder bürgerliche Nationalismus einer unterdrückten Nation (...) einen allgemein demokratischen Inhalt, der sich gegen die Unterrückung richtet“, besäße, und dieser Inhalt wäre „unbedingt“ zu unterstützen.(3) Obwohl Lenin eindringlich davor warnte, „für jede nationale Entwicklung, für die ‘nationale Kultur’ schlechthin“ zu sein, sagte er „unbedingt ja“ zum „Kampf gegen nationale
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Unterdrückung“.(4) Als Befürworter eines Kampfes für die Demokratie glaubte Lenin daran, durch eine Entwicklung mutmaßlichen Fortschrittes „den Kapitalismus in Sozialismus zu verwandeln“. Mit dieser Prognose aber war er nicht nur zu kühn, sondern irrte auch. Er leitete jedoch daraus die „unbedingte Pflicht des Marxisten“ ab, „auf allen Teilbereichen der nationalen Frage die entschiedensten und konsequentesten Demokratien zu verfechten.“ Er bezeichnete allerdings diese „Pflicht“ als eine „negative Aufgabe“, womit er aber gleichzeitig eine instrumentell positive Bezugnahme auf die Sozialdemokratie nicht ausschließen konnte. So konnten sich letztlich doch viele in der kommunistischen Bewegung taktisch mit folgender Feststellung des Sozialdemokraten Eduard Bernstein anfreunden: „Der Satz, daß der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augenblick an, wo und in dem Maße modifiziert, als derselbe als vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat und dessen Einrichtung nach seinen Wünschen zu gestalten vermag“.(5)
Josef W. Stalin trieb die Natonalismusbefürwortung in den Zwanzigern auf die Spitze. Danach stellt sich gerade jener Nationalismus der sogenannten unterdrückten Völker als „historisch gerechtfertigt“ dar, welcher sich als die „unterste Stufe des antiimperialistischen Bewußtseins“ interpretieren lasse. Also insbesondere bei Bauern und all jenen Bevölkerungsschichten, die sich nicht unter dem Begriff des Industrieproletariats subsumieren ließen. Schon 1912/13 definierte Stalin die Hauptmerkmale einer Nation wie folgt: es müsse sich um eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen handeln, entstanden auf der Grundlage gemeinsamen Territoriums, gemeinsamen Wirtschaftslebens, gemeinsamer Sprache und der sich „in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart“. Mit dieser Defintion bot Stalin die abstrakte Interpretation von Nation feil, die sich insbesondere für die einsetzende Verwissenschaftlichung des Marxismus-Leninismus anbot, und die bis heute in der Linken auf der ganzen Welt weit verbreitet ist.
Dieses Verständnis von Nation fußt auf einer materialistischen Weltanschauung, die dem Marxismus immanent ist. Diese schließt, wie alle materialistischen Anschauungen, aus, etwa Nationen als etwas naturgegebenes zu begreifen.
Insbesondere problematisch aber ist die Wissenschaftlichkeit, die der Marxismus sich einerseits selbst zuschreibt, anderserseits aber ihm viel mehr zugeschrieben wurde. So wird davon ausgegangen, daß der Materialismus einer Gesetzmäßigkeit unterliege und dementsprechend auch als historischer Materialismus begriffen werden müsse. Nach marxistischer Lesart definiert sich dieser historische Materialismus wie folgt. Er ist „die Wissenschaft von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft“.
Dem wissenschaftlichen Anspruch des historischen Materialismus ist es zu verdanken, daß die Stalinsche wie auch die Leninsche Formel des Verhältnisses zum Nationalismus einer abstrakten Kategorisierung unterzogen wurden. Alles wurde in ein Korsett der Gesetzmäßigkeit gepreßt. So galt jemand wie Leo Trotzki als unnachgiebiger Abweichler von der Lehre. Und dessen Analyse, daß im Ergebnis einer bürgerlichen Revolution, einer Nationenkonstituierung, in der Periode der Konsolidierung und Ausdehung parlamentarischer Demokratie, auch die Bewegung der arbeitenden Klasse von dieser Herrschaftsform entscheidend durchdrungen werde und so für den Nationalstaat gewonnen, als schlichtweg konterrevolutionär.
Nach dem 2. Weltkrieg machte bekanntlich die sogenannte Neue Linke von sich reden. Ihre Stellung zum Nationalismus und zur nationalen Befreiung läßt sich am besten aus der Schrift ihres Mentors Franz Fanon ablesen. Mit dem Werk „Die Verdammten dieser Erde“ schuf er die
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Grundlage für eine Art neulinker Verschwörungsanalyse, nach der impliziert wurde, „daß jeder Nationalstaat politisch wie ökonomisch nur die untere Ordnungsinstanz eines global sich reproduzierenden kapitalistischen Weltsystems darstellte“.(6) Fanons Nationen-Apologie spitzt sich u.a. wie folgt zu: „Wenn die Kultur eine Äußerung des Nationalbewußtseins ist, so zögere ich nicht zu sagen, daß das Nationalbewußtsein die am meisten entwickelte Form der Kultur ist. (...) Innerhalb des Nationalbewußtseins entwickelt und belebt sich das internationale Bewußtsein“.(7)
Leider ist es so, daß selbst im Angesicht der faschistischen Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre in der Linken kaum ein weiteres nuanciertes Verständnis vom Nationalismus Einzug hielt. So blieb es als eine der ersten Hannah Arendt vorbehalten, auf die notwendige Differenzierung zwischen westlichem und völkischem Nationalismus zu verweisen: „Der völkische Nationalismus (...) unterscheidet sich von dem westlichen (...). Psychologisch gesprochen ist der Unterschied zwischen dem verrücktesten Chauvinismus (westlicher Prägung – R.) und (...) völkischem Nationalismus immer noch der, daß der eine sich immerhin mit der Welt und ihren greifbaren Realitäten beschäftigt, (...) während das Völkische selbst in seiner harmlosesten Form sich nach innen richtet und anfängt, die menschliche Seele als die ‘Verkörperung’ allgemeiner Stammeseigenschaften anzusehen, und da die Seele ja offenbar nicht etwas sein kann, was ‘verkörpert’ findet man seine Aushilfe im ‘Blut’.“(8)
Aus all den vorgenannten Zitaten und Feststellungen lassen sich also durchaus konkrete Kriterien ableiten, nach denen ermessen werden kann, welchen Charakter eine nationale Befreiungsbewegung trägt. Grundsätzlich sollte aber jede Befreiungsbewegung in der Peripherie, nicht im Zentrum(!) als eine Bewegung zur Herstellung von Demokratie innerhalb eines Staatengebildes begriffen werden.(9) Anders läßt sich – mit wenigen Ausnahmen und insbesondere in der Situation ohne staatssozialistischen Block und dessen mögliche Hilfen – historisch nicht argumentieren.
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Bevor man seine linke Solidarität anbietet, sollte man jedwede sich als links oder fortschrifttlich definierende Befreiungsbewegung nach zwei Dingen befragen: Erstens, welche Art von Demokratie schwebt ihnen im Falle eines Sieges vor? Und zweitens, wie sieht dann die Priorität aus, kommt zuerst das Links-Sein oder die Nationalität?
Und im übrigen: Im Flugblatt der R.A.A.L. steht außerdem folgende Losung: „Kampf dem Faschismus, heißt Kampf dem imperialistischen System!“ In aller Güte möchte ich – hier speziell im Verweis auf Hannah Arendt – anmerken, daß, bevor der Faschismus überhaupt die Macht an sich reißen kann, das Völkische die Oberhand gewinnen muß. Es ist aber nun mal so, daß gerade das Völkische in den Zentren des Imperialismus fast schon immer nur periphere Erscheinung war und mit ganz großer Sicherheit auch bleiben wird. Mit der Ausnahme von Deutschland – aber das ist fast schon wieder ein anderes, neues Thema.

Anmerkungen:

(1)W.I.Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (Für den Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale)
(2)W.I.Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Thesen)
(3)W.I.Lenin: Über das Selbstbestimungsrecht der Nationen
(4)W.I.Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage
(5)zitiert aus: Arbeitsheft zur theoretischen Konferenz „Links ist da, wo keine Heimat ist“ - über Nation, Nationalismus und Antinationalismus, Dresden 1994
(6)ebenda: Andreas Fanizadeh, Antiimperialismus und Neue Linke in der BRD
(7)in: Franz Fanon, Die verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main 1981
(8)hier zitiert nach: Jürgen Elsässer, Schafft zwei, drei viele Sarajewo – die Linke und die nationale Frage; in: Arbeitsheft zur theoretischen Konferenz „Links ist da, wo keine Heimat ist“ – über Nation, Nationalismus und Antinationalismus, Dresden 1994
(9)Für das Zentrum gilt, was Heiner Möller in der Zeitschrift Bahamas Nr. 12, Winter 1993/94 feststellte: „Die Subjekte eines linksradikalen Projektes lassen sich nicht klassenmäßig sozial definieren, sondern nur politisch. Wenn die Arbeiter des 19 Jahrhunderts kein Vaterland hatten, dann sind in den imperialistischen Metropolen diejenigen, die kein Vaterland haben (wollen), die ‘Arbeiter’ des ausgehenden 20. Jahrhunderts.“

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last modified: 28.3.2007