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kiez sweet kiez, 1.5k
An einer Hand kann man sie abzählen, die Orte, an denen Horden kahlköpfiger Idioten nicht mordbrennend durch die besetzten Straßen ziehen und die zahlreich herumliegenden Mülltüten in ein zerstörerisches Feuer versetzen; wo kein Polizeibeamter sich hineintraut und Stadtplaner immer Angst haben müssen, daß Kiezkämpfer auf den Fluren zur Sanierung freigegebener Häuser morgens zuwenig Restalkohol aufweisen; Orte ohne Gesetz und ohne Moral: Die Kieze.

Zahlreich aber sind die Städte mit den anderen, den menschenunwürdigen Lebensverhältnissen, wo die Provinzschergen des Kapitals mit Knebelverträgen Massenmilitanz auf den Straßen unterbinden und die Bewegungsautonomen der 80er Jahre auf den geschickt unter prunkvollen Bankenvierteln und gepflegten Grünanlagen verborgenen Schutthaufen der Geschichte schippen; drüber joggen unbehelligt die Yuppies, bevor sie in der Innenstadt auf den Wochenmärkten die frischen Sachen kaufen und dann mit Freunden ein gutes Pils genießen. Keine Kiezmiliz sorgt hier für die sozialen Rahmenbedingungen, in denen das Leben erst lohnt. Sehr unerfreulich dort überall, wo Millionen roboten gehn und nachts zuhause sitzen und Angst haben - also Ortswechsel: Dorthin, wo wir es endlich satt haben, daß andere hungern. Dort, wo der Feind weit ist und die Nähe um sich greifend Kraft gibt. Zwischen brennenden Mülltonnen, die heimelige Wärme in die Kälte der modernen Metropole verströmen, sitzen abgekämpfte Antifas und singen den Blues, der von der rauhen Zärtlichkeit der Völker handelt und auch davon, daß man weiß, wofür man einst kämpfte: Den Freibeuterraum, den man nun hat und den die Soldschreiber der Pigs als „Erdkrater und Häuserstümpfe“ gottseidank erfolglos zu denunzieren versuchen. Ab und zu bahnt sich einer von ihnen vermittels seiner Hunde (bester Freund des Menschen) den Weg zur Theke, dem Brett, das die Welt bedeutet, mit der der Kiez verschmolz. Dort besorgt er das Bier, mit dem die Jammergeige neu gefettet wird. Plötzlich passiert das Ungeheuerliche: Kahlköpfige Idioten, zwischen sich eine ungefähr nochmal so hoch wie breite Anzahl antifaerfahrener Punks geklemmt, ziehen die Straße hinauf, um „Sieg“ zu gröhlen. Das hat es schon lange nicht mehr gegeben im Kiez, die Verwirrung ist groß. Es erhebt sich die Frage: Was ist der Kiez? Erstens: Hier. Zweitens: Immer. Drittens: Heilig. Viertens: Sauber.
Daß die Faschos dasselbe von ihrem Wurzen glauben (Marcus Müller & seine Kameraden wollen hier mal eine Kieztour nach ihrer Vorstellung organisieren - der Empfang wird stahlhart wie bei's Krupps) - nun, das können wir ihnen nicht rauben. Kleinbürgerliche und sozialdemokratische Vereine würden sowas einfach „Schrebergärtensiedlung“ nennen. Was also stiftet die Identität? Revolutionär sein kann man auch woanders (jesus walkin'on the water). Es ist der Schutz, der rätselhaft im engen Dreieck von Straßen wabert, für deren Bestand man viel unternimmt: Kiez pour Kiez. Gebadet wird im Mythos reinsten Wassers, ungefähr alle zwei Monate einmal. Dafür wird dann auch mal ein 10 Meter langes und 1 Meter breites Lagerfeuer entzündet, da man das woanders nicht kann, wo kein Kiez ist. Trotzdem erscheinen Polizeibeamte, doch nur im Schutze der Dunkelheit. Sonst trauen die sich natürlich nichts. So scheint der entscheidende Unterschied zwischen Kiez und nicht Kiez doch darin zu liegen, ob es sich um einen Kiez handelt oder nicht. Mehr ist einfach nicht rauszukriegen. Auf die Frage, wo links sei, kann im Kiez nur geantwortet werden, wo unsere Heimat ist, also erübrigt die Frage sich in ihrer Umkehrung, in der sie sich darbietet. Noch Fragen?
Die eigenen Vier Wände sprengen und mit deren Trümmern „das Viertel“ überziehen oder nur Erstere auf Letzteres ausdehnen, dazwischen besteht kein Unterschied. Beidem gemeinsam bleibt trotz aller herausgehängter oder nicht herausgehängter Bettücher, mit denen das soziale Gewissen alias Klassenbewußtsein alias Achwasdennallessonstnoch aufgerüttelt wird oder nicht aufgerüttelt wird, doch Eines: Die Welt muß mein Heim werden und wird es und damit das klappt, verkürze ich die Welt auf: Kiez.
Der oben festgestellte verblüffend einfache Unterschied wirkt sich auch auf die Lebensqualität aus: An keinem Ort werden mehr Sterbehelferteams auf die Bühne geschickt wie im network alternativer Läden, wo sie den Geist der roaring seventies runterschrammeln können; nirgends sonst ist das Publikum der Party so eng verschworen wie vor den Kiezbühnen taumelnd („Born in the Ki-he-hiez“). Das führt dann zu so merkwürdigen Zusammenschlüssen wie dem zweier Läden dies- wie jenseits der Parthe (Leipziger Antifaschistischer Kiezsüdschutzwall), der schon so manchem Kiezstrategen oder Ladenbartender das Leben-heißt-Kämpfen-Leben (bis es dann gegen 02.00 Uhr füh's gemütlich zusammenbricht) gesäuert hat und ihn den Kiezhammer schwingen ließ, um die Erkenntnis zu verbreiten, daß was jenseits der Parthe an schlimmen Dingen passiert, diesseits nicht hingehört: Es geht um den Kiez und - erstaunt diese Formulierung? - um nicht mehr und nicht weniger. Übersetzt bedeutet nicht mehr ungefähr dasselbe wie gemütlich verasseln können und nicht weniger dasselbe wie, daß man mehr als das nicht mehr nicht braucht: Kiezdialektik, die unmittelbar einleuchtet. Also heimleuchtet und so kiezleuchtet. Garanten bleiben natürlich Bäckersfrau und arbeitsloser Trinker von nebenan, die können nicht widersprechen, denn - wie ich finde, gottseidank - fragt die keiner. Der Kiez bietet immerhin Ablageplatz für Flyers auch mal politischen Inhalts, die sich im Laufe eines Abends dann wenigstens mit Bier vollsaugen können: Auch ein Zweck von Kiez (und der Kulturmeile Süd). Aber was wären wir ohne ihn? Der Kiez hat uns zu Menschen gemacht. Und wieviel braucht der Mensch? Nicht mehr als drei Straßen. Der Weg zum Getränkestützpunkt wäre doch sonst zu weit.
Zum Schluß (für Kiezkämpfer: Last Exit Markkleeberg-West/Nitzsche-Str.) muß aber auch ich ein glühendes Bekenntnis zum kiezy way of life ablegen und kann mich kaum dazu hinreißen lassen, mich bei demnächst anstehenden Kämpfen (von heftigem Brand bleibt die Glut zurück) einem drängenden Gefühl zur Zwangssolidarisierung zu verweigern. Immerhin liegt die Bedrohung für uns überall dort, wo nicht Kiez ist, wo also kaum unsre Heimat zu finden wäre.
Oder? Sonst lohnt ein Blick ins „Subidiotikon“, das ein Kollege anfertigte, dort u.a.: Absprache, unzureichend zustandegekommene, die oder...?

- kr b -


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last modified: 28.3.2007