Mo Di Mi Do Fr Sa So 
00 00 00 00 00 00 01 
02 03 04 050607 08 
09 10111213 14 15 
16 17 1819202122 
23 24 25 26 27 28 29 
30 31 

Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#172, Januar 2010
#173, Februar 2010
#174, März 2010
#175, April 2010
#176, Mai 2010
#177, Juni 2010
#178, Juli 2010
#179, September 2010
#180, Oktober 2010
#181, November 2010
#182, Dezember 2010

Aktuelles Heft

INHALT #173

Titelbild
Editorial
• das erste: Trübsal in der Krise?
„We only die once“
JMT
Skindred, Forever Never
Erich Mühsam - kein Lampenputzer
MITTE03
HALFTIME
electric island
Martsman
Shoah
Benefizdisco
Saint Vitus
Toxpack
Joey Cape, Tony Sly, Jon Snodgrass
Veranstaltungsanzeigen
• ABC: M wie Metaphysik
• review-corner buch: „Die Zukunft der Erinnerung“
• review-corner buch: Alles nur Wahn?
Von der Volksgemeinschaft zur Weltgemeinschaft
1917 – Anfang und Ende des Kommunismus?
Anzeigen
• das letzte: Die Fäuste ballen

LINKS

Eigene Inhalte:
Facebook
Fotos (Flickr)
Tickets (TixforGigs)

Fremde Inhalte:
last.fm
Fotos (Flickr)
Videos (YouTube)
Videos (vimeo)

Besser spät als nie: am 15. Dezember 2008 referierte Daniel Kulla im Rahmen von „CEE IEH live“ im Conne Island zum Thema „1917 – Anfang und Ende des Kommunismus?“. Auf Grundlage der Veranstaltung entstand nun ein längerer Text, den wir in zwei Teilen drucken. Der zweite Teil wird in der Märzausgabe erscheinen. Die Redaktion

1917 –
Anfang und Ende des Kommunismus?

Teil Eins

Was soll der Blick zurück, was soll der Bezug auf 1917, wurde sich nicht schon genug positioniert, stolz auf die Brust oder mit der Geißel auf den Rücken geschlagen? Was läßt sich aus der alten durchgekauten Geschichte denn noch lernen?

Zunächst, dass es nicht nur eine Geschichte gibt, sondern viele, von denen ich auf die drei wichtigsten über das russische Revolutionsjahr eingehen werde: die leninbolschewistisch-sowjetische, die anarchistisch-sozialrevolutionäre und die bürgerlich-antikommunistische. Es wird sich zeigen, dass von diesen Ereignissen, die gerade etwas mehr als 90 Jahre zurückliegen, nur mehr Zerrbilder übrig sind. Und dass das keineswegs ungewöhnlich ist und mit den oft klar motivierten Hervorhebungen und Ausblendungen schon während des Geschehens zu tun hat. Es gibt etwas zu lernen über Geschichtlichkeit, über den Modellcharakter historischer Erzählungen.

Mit diesem Bewußtsein ausgerüstet kann ins Auge gefaßt werden, was an 1917 bis heute so bedeutsam geblieben ist, in welcher Weise die Geschichte also in der Gegenwart präsent ist: Kommunismus wurde für die Weltöffentlichkeit von der Zielvorstellung zum praktischen Politiklabel, Kommunisten machten sich unter diesem Namen an die Einrichtung der besseren Gesellschaft ohne Klassen und Ausbeutung. Vorher hatte der Begriff des Kommunismus in der politischen Sphäre des frühen 19. Jahrhunderts vor allem die Emanzipation des Vierten Standes bezeichnet, also die Ausweitung der Versprechen von Freiheit und Gleichheit aus der Französischen Revolution auf alle (werktätigen) Gesellschaftsmitglieder. Nun entstand in Rußland das Vorbild für die Kommunistischen Parteien, die sich ab 1917 auf der ganzen Welt gründeten und mit einer ganz bestimmten Marx-Auslegung die gesamte Gesellschaftsordnung zu verändern trachteten. Die spezifische Interpretation prägte fortan Begriffe und Auffassungen bezüglich der Geschichte, des revolutionären Subjekts, der Rolle der Partei, des Staates, des Krieges. Und sie prägte auch das Bild der Kommunisten von sich selbst.

Historischer Hintergrund bis 1917

Um die Ereignisse von 1917 zu verstehen, sei zunächst ihr Rahmen, ihre Vorgeschichte skizziert, zum einen die internationale, zum anderen die spezifisch russische.

Das weitaus wichtigste historische Geschehen dieser Zeit war der Erste Weltkrieg, die bis dahin größte Massenschlächterei, eine Orgie der industriellen Kriegführung zwischen zivilisierten, aufgeklärten, modernen Nationalstaaten. In den Augen gerade vieler Sozialdemokraten war dieser Krieg jedoch gerade erst der Auftakt zu einer ganzen Epoche solcher Kriege, die nach der Aufteilung der Welt unter den Großmächten fortan unvermeidlich scheinen mussten. Unter diesen Umständen erschien diesen Sozialdemokraten die Idee eines letzten Gefechts, das diesen Krieg beenden und für die Zukunft ähnliche oder schlimmere Kriege verhüten würde, als so verheißungsvoll, dass auch ein enormes Ausmaß an revolutionärer Gewalt zu diesem Zweck für vertretbar gehalten wurde.(2)

Im Jahr 1917 traten im April die USA in den Krieg ein und Russland trat nach der Leninschen Machtübernahme Ende des Jahres aus dem Krieg aus. War das erste ein Signal für die baldige Niederlage der feudal-militaristischen Mittelmächte, so half zweiteres, den Krieg noch um ein weiteres Jahr mit allen Folgen – weitere Millionen von Toten und Verletzten, die folgenreiche deutsche Interpretation des Kriegsendes – zu verlängern.

In vielen Staaten der Erde war bereits eine aktive Arbeiterbewegung entstanden, vorherrschend blieb jedoch ein Kapitalismus ohne Demokratie, ohne die für spätere und heutige Gesellschaften so charakteristische Einbindung der Massen über fein kontrollierte Mitbestimmung und Beteiligung am nationalökonomischen Erfolg. In weiten Teilen der Welt herrschten noch feudale Strukturen, und gerade die Mittelmächte Deutschland und Österreich suchten deren Fortexistenz zu sichern.

In fast allen kriegführenden Staaten gab es auch unter den Sozialdemokraten Kriegsunterstützer, doch aus unterschiedlichen Gründen. War es in der Entente, gerade in England, wichtig, durch den Sturz der mitteleuropäischen Monarchien dem sozialen Fortschritt neuen Auftrieb zu geben, schlugen sich eben dort in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, Sozialdemokraten offen auf die Seite der Monarchie, begeisterten sich für den „Kriegssozialismus“, bejubelten die Kontrolle des autoritären Staats über die Ökonomie, sahen sich in einer klassenübergreifenden nationalen Schicksalsgemeinschaft im Kampf einerseits mit den britischen und französischen Kolonialreichen, ihrer Völkervermischung und Dekadenz, andererseits mit den kulturell niedrigen slawischen Horden des Ostens. In diesem geistigen Milieu, in dem zum ersten Mal das politische Label „Nationalsozialismus“ Verwendung fand(3), entstanden auch zwei der Grundauffassungen der später siegreichen Lenin-Bolschewiki: dass die völlig zentralisierte Staatswirtschaft die beste Voraussetzung für kommunistische Aneignung biete und dass der nationale Befreiungskampf gegen den Imperialismus der stärkste Motor für eine kommunistische Revolution sei.

Exemplarisch äußerte sich Trotzki, für den es „nur ein einziges Land unter den kriegführenden Staaten“ gab, „das dank seiner kapitalistischen Entwicklung über solche riesigen ökonomischen, geistigen und kulturellen Mittel verfüge, dass es im Falle seines Sieges – vielleicht auch gewaltsam – den so nottuenden Zusammenschluss der ganzen Kulturwelt verwirklichen und dadurch einen großen Schritt vorwärts tun könne. Dieses Land sei – Deutschland!“(4)

Wie sah es nun in Russland selbst aus? Hier spielten sowohl die Arbeiterbewegung als auch das Bürgertum eine viel geringere Rolle als in den anderen Großmächten, vor allem, da die Bevölkerung zu 80-90% aus Bauern bestand, die unter feudalen Bedingungen oder zu großen Teilen auch jenseits staatlicher Gewalt in archaischer Selbstverwaltung lebten. Auch die städtische Arbeiterklasse bestand größtenteils aus bäuerlichen Saisonarbeitern, die während der Ernte zurück aufs Land gingen.

Zu dieser Bevölkerungsmehrheit gab es unter den revolutionären Parteien diametrale Auffassungen. Für die aus der Volkstümler-Bewegung („Narodniki“) hervorgegangenen Sozialrevolutionäre, 1917 die bei weitem größte politische Partei in Russland, waren die Bauern aufgrund ihres Gemeineigentums und ihrer tiefen Staatsfeindschaft das revolutionäre Subjekt. Den Marxisten und Sozialdemokraten galten die gleichen Bauern als reaktionär, antiwestlich, antimodern, als Verfechter überkommener Gemeinschaft gegen moderne Gesellschaft, als religiös verblendete Analphabeten, die von der städtischen Welt allenfalls kleinbürgerliches Besitzdenken übernommen hätten.

Schon 1905 hatte es in Russland eine Revolution gegeben, durchaus eine massive Erschütterung der Zarenherrschaft, deren schon greifbares Ende jedoch in Ermangelung einer Alternative ausblieb. Da weder die bereits kühn auftretenden Arbeiter noch das Bürgertum in der Lage waren, die Macht zu übernehmen, schien der Zar nach der blutig erstickten Revolution sogar noch fester im Sattel zu sitzen. Der naive Volksglaube an den „Guten Zaren“, welcher sich mit demütigen Bittschriften zu einer gerechten und guten Regentschaft bewegen lassen würde, blühte wieder auf.

Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs waren die Millionen von Bauernsoldaten in der russischen Armee immer kriegsmüder geworden, erwiesen sich aber als motivierbar gegen die Deutschen, wenn ihre Offiziere (wie z.B. Großfürst Brussilow) eben just den „Guten Zaren“ beschuldigten, unter dem Einfluss deutscher Hofschranzen und Spione die Front absichtlich schlecht zu versorgen und schlechte strategische Entscheidungen (oder auch einfach keine) zu treffen. Viele Bauern kämpften also weiterhin für den „Guten Zaren“, den sie durch die Niederlage der Deutschen vom diabolischen westlichen Einfluss befreien wollten, damit er ihnen wieder väterlich sein Gehör schenken würde.

Unterdessen organisierte das Bürgertum im Hinterland bald die gesamte Logistik selbst, die notdürftige Versorgung der Bevölkerung wie auch den ebenfalls knappen militärischen Nachschub. Überzeugt, damit zum Rückgrat der Kriegsanstrengungen geworden zu sein, drängte das Bürgertum nun auch zur politischen Macht, wollte vom Staat im Staate zur herrschenden Klasse werden, an die Stelle der Aristokratie und der zaristischen Bürokratie treten, welche mehr und mehr als Hindernisse für den Erfolg auf dem Schlachtfeld wie auf dem Weltmarkt wirkten.

Das leninbolschewistisch-sowjetische 1917

Als erste Version der Ereignisse des Revolutionsjahres 1917 möchte ich die Siegergeschichte behandeln, diejenige der Lenin-Fraktion der Bolschewistischen Partei, also des berufsrevolutionären Flügels der russischen Sozialdemokratie. Anfang 1917 war diese Minderheit der Minderheit in der revolutionären Bewegung Rußlands wenig bedeutend; gerade ihr zügiger Aufstieg während des Jahres zur revolutionären Regierungspartei und Stifterin einer internationalen kommunistischen Bewegung sollte später immer wieder leuchtendes Beispiel für die Siegeschancen kleiner Politsekten sein.

Aus Sicht der Leninbolschewiki verhalf im Februar 1917 zunächst eine spontane Erhebung von Arbeitern dem Bürgertum zur Macht. Ein DDR-Geschichtslehrbuch(5) fasst das so: „Zunächst ging es in Rußland um eine bürgerlich-demokratische Revolution, in der, wie schon die Lehren aus der Revolution von 1905 bis 1907 gezeigt hatten, die Arbeiterklasse als führende Klasse auftreten mußte.“ Selbstredend sind die eigenen Leute für den großen Wurf verantwortlich, auch wenn das historisch nicht haltbar ist: „Aufrufe der Bolschewiki machen aus der Revolte einen Generalstreik, schließlich den bewaffneten Aufstand.“ Von der ausbrechenden Revolution auf dem Land ist aufgrund der beschriebenen Position gegenüber den Bauern meist nur am Rande die Rede.

Im Laufe des Jahres sieht diese Geschichtsversion Sozialverräter am Werk, die sozialrevolutionären und menschewistischen Führer in der Provisorischen Regierung, die nur stärker waren, weil sie bis 1917 legal gewesen waren. Nur Bolschewiki seien konsequent für Räte, Frieden und Land eingetreten (und zwar alle Bolschewiki). Der Juliaufstand wurde von den Verrätern niedergeschlagen.

Endlich kommt im Oktober die Große Sozialistische Oktoberrevolution dem – später als faschistisch bezeichneten – Putsch des Generals Kornilow zuvor (ein Putsch, der zwar geplant war, jedoch angesichts der Stärke der revolutionären Bewegung praktisch keine Chance auf Erfolg hatte). Anschließend beginnt ein den Bolschewiki aufgezwungener Bürgerkrieg, Sowjetrußland ist umzingelt von Feinden, nicht zuletzt weil die Revolutionen in Europa (noch) ausbleiben oder niedergeschlagen werden.

Willy Huhn: „Der Mythos der russischen Revolution lautet etwa: als Abschluss einer großartigen, auf dem Programm und der Organisationsform der leninistischen Partei beruhenden, kompromißlosen Politik, wurde im Oktober 1917 planmäßig ein bewaffneter Aufstand unter der Führung der Bolschewiki unternommen, der nach seiner siegreichen Beendigung die beabsichtigte Diktatur des Proletariats verwirklichte und damit den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ermöglichte und einleitete.“(6)

Das sozialrevolutionär-anarchistische 1917

Die zweite Version repräsentiert die sozialrevolutionäre (und teilweise die menschewistische) Sicht. Die Sozialrevolutionäre (SR) waren 1917 mit Abstand die größte Partei in Russland und entsprechend auch die größte revolutionäre Fraktion; grob vereinfacht lassen sie sich als linke Sozialdemokraten und Agrarsozialisten mit anarchistischer Tradition einordnen. Den Hauptunterschied zu den Bolschewiki bildete die Ablehnung einer Verstaatlichung des Bodens; die SR propagierten eine dezentrale Vergesellschaftung und eine Stärkung der ländlichen Gemeinden.

Sie waren in der bürgerlichen Übergangsregierung vertreten und stellten mit Kerenski für mehrere Monate den Regierungschef, der aber bereits als Vertreter des äußersten rechten Parteiflügels agierte. Linke Sozialrevolutionäre waren noch bis Anfang 1918 in der bolschewistischen Regierung und sogar im Tscheka-Ausschuss und wurden erst später, vor allem nach der einsetzenden Verfolgung durch ihre bolschewistischen Genossen, zu erbitterten Gegnern und zur feindlichen Bürgerkriegspartei.

Aus der Sicht der SR fegte im Februar eine glorreiche Manifestation des Volkswillens, des „Narodnoje Wolja“, wie auch eine der Vorgängerorganisationen der SR hieß, Zar und Staat hinweg. Die Massen organisierten sich selbst, bildeten Räte, nahmen eigenständig überall Enteignungen vor und richteten Fabrikkontrolle ein. Das Jahr über wurden dann Vorbereitungen für eine neue Verfassung und eine neue Gesellschaft getroffen, während die Bolschewiki politische Wühlarbeit leisteten und versuchten, die Unorganisierten und Ungeduldigen mit Maximalforderungen gegen die siegreiche Revolution aufzuwiegeln. So ging im Laufe des Jahres das Etikett „Anarchisten“ von den einst staatsfeindlichen SR auf die marxistischen Bolschewiki über, gegen die nun paradoxerweise die einstigen Staatsfeinde (im Bündnis mit anderen Fraktionen) die gesellschaftliche Vermittlung verteidigten. Der Historiker Helmut Altrichter schildert die Situation so:

„Da war die Sowjetführung eben dabei, eine gemeinsame außenpolitische Linie zu finden, die die Forderung eines „Friedens ohne Annexionen und Kontributionen“ mit der Bereitschaft, die neugewonnene Freiheit zu verteidigen, verband, da hielt ihr Lenin, gerade zwei Tage und mit deutscher Hilfe zurück, entgegen, die „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“ sei etwas „kleinbürgerliches“, ein „Betrug der Bourgeoisie an den Massen“, ja der „schlimmste Feind der weiteren Entwicklung“. Da hatten es die gemäßigten Sozialisten im Innern gerade geschafft, die Ordnung aufrecht, die Zentralverwaltung in Funktion, die Produktion am Laufen und die Front intakt zu halten, da wurden sie vom gleichen Kritiker mit der Forderung einer generellen Abschaffung von Armee, Polizei und Beamtenschaft konfrontiert, anscheinend ohne Rücksicht auf die Folgen. Da wurden von ihm Institutionen zu Keimzellen eines neuen Staatstypus hochstilisiert, auf die zuvor keine der sozialistischen Gruppierungen einen programmatischen Gedanken verschwendet hatte, Institutionen, die gerade fünf Wochen alt, weit davon entfernt waren zu funktionieren, und die in ihrer großen Mehrheit die ihnen angetragene Macht gar nicht haben wollten. Da machte sich jemand zum Fürsprecher der Massenspontaneität, der früher schlichtweg geleugnet hatte, daß diese Massen zu einem revolutionären Bewußtsein fähig wären, es sei denn, sie würden von einer straff organisierten Kaderpartei von Berufsrevolutionären angeführt. Und dubios erschienen auch die Konzessionen an die Bauernschaft: Denn wie ernst war die Forderung zu nehmen, die Großgrundbesitzer zu enteignen und die Bestellung des Bodens den Bauern zu übertragen, wenn gleichzeitig im Parteiprogramm stand, daß die bäuerliche Familienwirtschaft keine Zukunft habe?(7)

Den Bolschewiki wurde nicht nur eine Wühlarbeit zum Zwecke ihrer eigenen Machtübernahme vorgeworfen, sondern auch unterstellt, für die Deutschen zu arbeiten.(8) Besonders von den Menschewiki sind zahlreiche Positionierungen dazu bekannt: „Es ist dringend notwendig, durch aktiven Kampf und Propaganda die Revolution vor dem Dolchstoß zu bewahren, der gegen sie vorbereitet wird.“(9) Noch zugespitzter rief einer der menschewistischen Führer aus: „Das schlimmste, was uns passieren kann, wäre ein separater Friede. Das wäre der Untergang der russischen Revolution und der internationalen Demokratie.“ Die russische Revolution wäre dann verpflichtet, auf Seiten der deutschen Koalition zu den Waffen zu greifen.(10) Und: „Für uns ist es klar, daß jetzt, wo unser Land von außen bedroht ist, die russische revolutionäre Armee stark und imstande sein soll, in die Offensive zu gehen. (...) Genossen, die Untätigkeit, die es da an der Front gibt, stärkt nicht unsere Revolution und die Armee, sondern schwächt und desorganisiert sie.“(11) – Im Juli wird die Desertionspropaganda der Bolschewiki und anderer Gruppen gar zum konterrevolutionären Dolchstoß erklärt: „Wir werden den Frieden nicht sichern, wenn wir durch Desorganisation der Armee die schon angelaufene Offensive aufzuhalten suchen, wie das die Leninisten getan haben. Ihre Taktik ist ein direkter Dolchstoß in den Rücken jener, die zu Tausenden auf den Schlachtfeldern zugrunde gehen. Sie hat schon zu ernsthaften militärischen Niederlagen geführt. Sie wird zu allseitiger Verbitterung, zum Bruderhaß unter den Soldaten an der Front, zur Auflösung der revolutionären Armee und vielleicht zu einer neuen Invasion durch Hindenburg führen.“(12)

Gegen die Bolschewiki hielten die SR und die Menschewiki an dem Versuch fest, die Revolution nach Mitteleuropa zu tragen. Unter beständiger Berufung auf die Französische Revolution und Napoleon wurde der Sieg über die militaristischen Monarchien zur revolutionären Pflicht erhoben. Die Soldaten revoltierten kaum gegen „das Versprechen, die Freiheit siegreich zu verteidigen“, sahen aber nicht mehr ein, „den Krieg bis zum Erwerb der Dardanellen fortsetzen zu müssen“(13). Je mehr es den Bolschewiki gelang, die „Verteidigung der Revolution“ als bloße Parole und jede weitere Kriegsanstrengung als Handlangerdienst für den Imperialismus hinzustellen, desto mehr Zulauf hatten sie und desto mehr Desertionen lösten sie aus.

Dennoch: „Die Front hielt – trotz aller Verfallserscheinungen – bis in den Oktober hinein.“(14) Von denen, die ihre Einheit verließen, um zu Hause nach dem Rechten zu schauen, kehrte ein erheblicher Teil wieder zurück.(15) Ganz unabhängig von den Kriegszielen war allerdings klar, daß die Soldaten „nicht bereit“ waren, „sich darauf einzustellen, einen weiteren Winter in den Schützengräben zu verbringen“, gerade „weil man auf einen raschen Frieden hoffte...“(16)

In der Einschätzung der Sozialrevolutionäre fand dann im Oktober ein Putsch gegen die Revolution statt, der zur Errichtung einer Partei- und Terrorherrschaft führte. Dass Lenin erklärtermaßen den Bürgerkrieg der fraktionenübergreifenden revolutionären Koalition vorzog(17) und die aktive Herbeiführung dieses Bürgerkrieg dann mit den zur „Reinigung der Gesellschaft“ notwendigen „Strömen von Blut“ rechtfertigte, wurde ihm ebenso vorgeworfen wie die bald folgende Kapitulation vor den Deutschen. Für die Sozialrevolutionäre machten die Bolschewiki unter Missachtung aller Warnungen auch aus den eigenen Reihen Frieden mit der ausländischen Reaktion und bekriegten und vernichteten stattdessen alle anderen revolutionären Fraktionen in Russland.

Das bürgerlich-antikommunistische 1917

Die drittwichtigste Version des Revolutionsjahrs war damals durch die Partei der liberalen Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“), aber auch durch die Monarchisten repräsentiert, von denen sich die Mehrzahl später bei der „Weißen“ Bürgerkriegspartei wiederfanden. Im Revolutionsjahr versuchten die Kadetten als einzige nicht-sozialistische Regierungspartei, die gesellschaftlichen Veränderungen soweit wie möglich auf einen Austausch des Herrschaftspersonals und die Einführung bürgerlicher Freiheiten zu begrenzen, wollten letztliche eine erfolgreichere Regierung. Ihre Deutung ist aus begreiflichen Gründen spätestens seit 1990 wieder einflußreicher geworden und paßt viel besser in heutige Geschichtsbilder.

Die „Hungerrevolte“ im Februar ermöglichte demnach überfällige Veränderungen, eine Modernisierung des Staats, vermehrte Kriegsanstrengungen. Das Bürgertum schickte sich endlich an, die Klassenherrschaft des Adels zu übernehmen, in seine Rolle einzutreten und Rußland an die Spitze der Großmächte zurückzuführen.

Doch die Bolschewisten wühlten, auch in dieser Version oft für die Deutschen. Die Linken in der Regierung lassen sich von Räten und Gewerkschaften erpressen und verspielen so den Kriegserfolg und den Triumph der bürgerlichen Ordnung. (Je nach politischer Couleur und Entstehungszeit der Geschichtsdarstellung wird hier die Einbindung der Massen in den bürgerlichen Staat, die ihn erst zu einem modernen solchen macht, als ursprüngliches Ziel aufgeführt.)

Im Oktober kam es in dieser Darstellung dann zu Zusammenbruch und Extremistenherrschaft. Das Volk wehrt sich gegen die Roten, die es aber mit Terror in die Unterwerfung zwingen. Jegliche Unterstützung für die Rote Bürgerkriegspartei gegen die Weißen wird fortan nur so erklärt.

***


Das sind die drei Versionen des Revolutionsjahres, die bis heute je nach politischer Richtung vorherrschend geblieben sind. Im zweiten Teil des Textes werde ich diese drei Geschichten vergleichen und besonders darauf eingehen, was in allen von ihnen fehlt. Aus der genaueren Betrachtung der Leninschen Version werde ich dann die Konsequenzen für den heutigen Umgang mit dieser Geschichte und für eine kommunistische Position skizzieren.

Daniel Kulla

Schwarzbücher

Anmerkungen

(1) Orlando Figes: Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 512

(2) Diese Einschätzung ging insbesondere darin fehl, den Soldaten der Weltkriegsarmeen unterschiedslos eine wachsende Kriegsmüdigkeit zu unterstellen, was sich rächen sollte, als die Sympathisanten der Revolution in Scharen desertierten und die Parteigänger der Reaktion munter weiterschossen.

(3) Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus, Freiburg 2003; lange Rezension im CEE IEH: http://www.conne-island.de/nf/161/17.html

(4) Elias Hurwicz, nach: Willy Huhn: Trotzki - der gescheiterte Stalin, West Berlin 1973, S. 103

(5) Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9, Volk und Wissen Berlin (DDR) 1987, S. 10f.

(6) Willy Huhn: Trotzki – der gescheiterte Stalin, West-Berlin 1973, S. 75

(7) Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S. 169

(8) Die Diskussion über die faktische Grundlage dieser Beschuldigung hält an. Ohne Frage wurde Lenin vom Auswärtigen Amt mit dem Auftrag nach Rußland geschickt, es zu destabilisieren und aus dem Krieg ausscheiden zu lassen; ebenso zweifellos wurden dafür gewaltige Geldbeträge an die Bolschewiki transferiert. Offen bleibt, einen wie großen Einfluß das letztlich auf die Entwicklung hatte und wer letztlich wen ausnutzte.

(9) Kommentar der Thesen in der Rabotschaja Gaseta, in: Sozialistische Revolution in einem unterentwickelten Land, Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937, Junius Hamburg 1981, S. 50

(10) Tseretelli auf dem 1. Allrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917, ebenda, S. 52

(11) Ebenda, S. 53

(12) Aufruf der Organisationskomittees der Menschewiki, ebenda, S. 55

(13) Altrichter, S. 156f.

(14) ebenda, S. 316

(15) ebenda, S. 319

(16) ebenda, S. 326

(17) Figes, S. 497f.

22.01.2010
Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
Tel.: 0341-3013028, Fax: 0341-3026503
info@conne-island.de, tickets@conne-island.de