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Hitchcock in Deutschland oder wie die Nazis zu Dealern wurden

Der Versuch einer psychoanalytischen Darstellung der deutschen Schuldabwehr am Beispiel von „Notorious“

Noch bevor ich in die Schule kam, hatte ich bereits viel über „das deutsche Schicksal“ erfahren. Meine Eltern und ich waren öfters bei einer älteren Dame zu Gast – wir spielten Mau- Mau und aßen Chips. So richtig gemütlich wurde es dann, wenn die Karten weggepackt waren und mein Vater die ältere Dame bat, doch noch mal von früher zu erzählen. Gruselige Geschichten aus ihrer Jugend gab es dann und ich durfte länger aufbleiben. Der Russe hatte es damals aus irgendeinem Grund auf sie abgesehen, weshalb sie immer wegrennen musste und großen Hunger hatte. Ich ärgerte mich, dass die Bösartigkeit des Russen nie gesühnt worden war, aber offensichtlich ging es der Dame jetzt ja besser. Irgendwann kannte ich die Kartoffelackergeschichten auswendig, mir wurde langweilig und ich durfte eh aufbleiben.
Einige Jahre später nach meiner Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank und diverser dtv-Juniorbände über das Dritte Reich kam mir die richtige Vermutung, dass die Geschichten der alten Dame und das Gelesene irgendetwas miteinander zu tun haben mussten. Zu ermitteln was, überstieg meine damaligen Fähigkeiten, denn weder Nazis noch Juden kamen in ihrer Erzählung vor.

Die 50er Jahre sind es, die als Hochzeit des Beschweigens deutscher Vergangenheit gelten und während derer diese sich als Taktik deutscher Schuldabwehr geltend machte. Als ausgezeichnetes Beispiel für einen Versuch in den 50ern, Spuren des nationalsozialistischen Verbrechens aus der medialen Öffentlichkeit zu verbannen, soll heute die erste deutsche Notorious, 5.6k Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ von „Notorious“ dienen. „Notorious“ wurde 1946 unter der Regie von Alfred Hitchcock in den USA gedreht. Es geht hier um Alicia Hubermann - Tochter eines verurteilten deutschen Nazis –, die im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes nach Brasilien geht, um dort mit einer Bande von Nazifreunden ihres Vaters aufzuräumen. 1951 erschien unter dem Titel „Weißes Gift“ in Deutschland eine den Inhalt verfälschende Synchronisationsfassung. In dieser ersten deutschen Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ wird aus Alicia Hubermann Elisa Sombrapal - Tochter eines verurteilten Drogenbosses –, die in Brasilien Kompagnons ihres Vaters zur Strecke bringt. Erst 1969 erscheint eine neue – inhaltlich dem Original adäquate – Synchronisationsfassung „Berüchtigt“.
Mein Vortrag soll die Beziehung eines Publikums zum Film zum Gegenstand haben. Oder vielmehr die Frage: Warum hätte das deutsche Publikum keine Beziehung zu einer dem Original „Notorious“ adäquaten Synchronisation in den 50ern aufbauen können.
Zuerst werde ich die Gestalt des Publikums als massenpsychologisches Subjekt insbesondere unter dem Aspekt der Schuldabwehr in den 50er Jahren umreißen. Ich erlaube mir, eingangs kurz an ein, zwei Bemerkungen Adornos zur Psychoanalyse zu erinnern, um dann über die Darstellung von Aspekten von Freuds „Massenpsychologie und Ich- Analyse“ schließlich erst zur Dynamik der Schuldabwehr zu kommen.
Im zweiten Teil werde ich einige Spezifika des hitchcockschen Films herausstellen und an Filmbeispielen aus der ersten Fassung veranschaulichen, in denen die Beschaffenheit der hitchcockschen filmischen Objekte und der berühmten Suspense als Funktionsweise des Spannungsaufbaus die Hauptrollen spielen werden.
Von Hitchcocks Filmen wird oft gesagt, dass sie wie eine Maschine funktionieren, die perfekt die Emotionen des Publikums manipulieren.
In der Zusammenführung der beiden Teile soll dies zum Schluss mit Hilfe der abwehrenden Deutschen widerlegt werden. Damit soll aufgewiesen werden, wie die Struktur des Films mit den unbewussten Wünschen des Publikumsin Beziehung tritt oder eben auch nicht.
Denn die Abwehr deutscher Verbrechen tangiert die Beziehung zwischen dem Film und dem Publikum. Die Deutschen hätten den Film in seiner adäquaten Synchronisation nicht nur nicht gemocht, die für die 50er typische Form der Abwehr hätte eine so fundamentale Irritation der Beziehung zwischen Publikum und Film bedeutet, dass die für diesen Film spezifischen Funktionen von filmischen Objekten und Suspense blockiert gewesen wären.

TEIL I: Deutsche in der Masse

Man macht sich zu Recht leicht verdächtig, bedient man sich der Psychoanalyse als Methode für die Betrachtung von Phänomenen, die über das Individuelle hinausgehen. Das ist hier der Fall, denn ich möchte aus psychoanalytischer Perspektive etwas über das faschistische Kollektiv und die Deutschen in den 50ern und über die Beziehung von Film und Publikum aussagen. Vorsicht ist gegenüber diesem Anliegen geboten, gleichwohl aber auch gegenüber vorschnellen Einwänden, die die Psychoanalyse überhaupt als Methode in den Giftschrank bürgerlicher, und damit ideologischer Wissenschaften verbannen wollen.
In der Tat kommt die freudsche Psychoanalyse theorieimmanent ohne einen Gesellschaftsbegriff aus, in der Tat werden allzu oft im Falle der Betrachtung kollektiver Phänomene individualpsychologische Dynamiken verabsolutiert. Der Vorwurf einer mangelnden materialistischen Rückbindung an gesellschaftliche Struktur oder der einer allzu leichtfertigen Verwandlung von Individualpsychologie in Sozialpsychologie vom Standpunkt der Kritik treffen die Psychoanalyse und treffen sie nicht. Es darf einer psychoanalytischen Deutung sozialer Phänomene in der Tat nicht darum gehen, Gesellschaftliches zu psychosexualisieren. Das mündet notwendig darin, die Katastrophen der Menschheitsgeschichte anhand von Begrifflichkeiten erklären zu wollen, die der individuellen Entwicklung vorbehalten sind. Der Nationalsozialismus folgte nicht aus einer falschen Wickeltechnik deren Resultat anale Charaktere sind. Die Schlussfolgerung wird gezogen: Die Psychoanalyse taugt nicht zur Erklärung von Gesellschaftlichem.
Einen Ausweg verspricht das Vorgehen, vom Individuum auszugehen und die Beschränkung der klassischen Psychoanalyse aufs Individuum damit zu überwinden, alles Seelische als direkte Konsequenz des Gesellschaftlichen zu verstehen. Eine andere Schlussfolgerung wird gezogen: Spricht man vom Individuum so unmittelbar von der Gesellschaft.
Beide Möglichkeiten ziehen der Psychoanalyse ihren virtuellen kritischen Stachel, der darin besteht, die Frage nach dem Subjekt und seinen objektiven Bedingungen nicht nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen – sondern diese gar nicht erst zu stellen, und gerade dadurch im Individuum seinen gesellschaftlichen Charakter im Leiden aufzuweisen.
Adorno schreibt, dass „[...] die radikale Psychoanalyse, indem sie sich auf die Libido als ein Vorgesellschaftliches richtet, phylogenetisch wie ontogenetisch jene Punkte erreicht, wo das gesellschaftliche Prinzip der Herrschaft mit dem psychologischen der Triebunterdrückung koinzidiert.“ (Adorno, 1995, S.27) Die freudsche Psychoanalyse bewährt sich als Methode, nicht obwohl, sondern weil sie den vereinzelten Einzelnen zu ihrem Gegenstand hat. Reproduziert sie damit den Schein der bürgerlichen Gesellschaft, eine Abstraktion jenseits der Individuen zu sein, so ist dieser Zwickmühle nicht beizukommen, indem man so tut, als hätte die Psychoanalyse diesen Schein eigens hergestellt und als würden nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst Individuation als zutiefst gesellschaftliche hervorbringen. „Freud hatte Recht, wo er Unrecht hatte. [...] so hat Freud eben durch seine psychologische Atomistik einer Realität, in der die Menschen tatsächlich atomisiert und durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt sind, adäquat Ausdruck verliehen. Das ist die sachliche Rechtfertigung seiner Methode, in die archaischen Tiefen des Individuums einzudringen und es als Absolutes zu nehmen, das nur durch Leiden, Lebensnot an die Totalität gebunden ist.“ (Th. W. Adorno, 1995, S.35)
Reflektiert Freud nicht die objektiven Bedingungen der Vereinzelung, so liefert die Psychoanalyse dennoch Aufschluss über die Widersprüchlichkeit bürgerlicher Subjektivität in ihrer subjektiven Genese, deren objektive Bedingtheit es kritisch einzuholen gilt.
Freud begreift die Geschichte des Individuums als Geschichte des Triebverzichts. Nach ihm konstituiert sich das Individuum in der Begegnung mit der äußeren Welt. War Freud für diese sicher nicht der Spezialist, so immer noch Marx, nach dem sich die gesellschaftliche Vermittlung in der bürgerlichen Gesellschaft dem Individuum als abstrakte, außerhalb seiner selbst darstellt – sie objektiviert sich im Geld. Gemäß seiner Formulierung trägt das Individuum als Geld seine gesellschaftliche Macht wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich. „Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produktes, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten ihrer gegeneinander, sondern als ihr Unterordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehen [...]“ (K. Marx, Grundrisse, S.75)
Muss das Individuum sich als bürgerliches Subjekt tagtäglich als Arbeitskraft und Staatsbürger neu beweisen, so muss es sich selbst gegenüber, bedrohliche Triebe und Lüste in ihre Schranken verweisen können. Der abstrakte Charakter bürgerlicher Vergesellschaftung spannt das Individuum in ein ambivalentes Verhältnis zur Objektwelt. Erscheint die Gesellschaft dem bürgerlichen Subjekt als äußerlicher Zwang, dem es sich zu unterwerfen gilt – so gleichsam als Versprechen, durch Treue nicht von dieser abzufallen. Die Bemächtigung der Außenwelt ist verbunden mit der Unterwerfung- dahinter droht die Ohnmacht. „Die Angst vorm Ausgestoßenwerden [...] ist geschichtlich zur zweiten Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unverderbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozess.“ (Th. W. Adorno, 1995, S.47) „‚Psychodynamik‘ ist die Reproduktion gesellschaftlicher Konflikte im Individuum, aber nicht derart, dass es die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen bloß abbildet. Sondern es entwickelt auch, indem es als ein von der Gesellschaft Abgedichtetes, Notorious, 9.5k Abgespaltenes existiert, nochmals die Pathogenese einer gesellschaftlichen Totalität aus sich heraus, über der selbst der Fluch der Vereinzelung hängt.“ (Adorno, 1995, S.55/56)
Die Entstehung des Ichs freilich, gemeinhin die Instanz, der dem Subjekt seine Fähigkeiten verdankt, sich zu seiner Umwelt ins Verhältnis zu setzen und dadurch die Erfahrung, was es heißt, das Unheil der gesellschaftlich- institutionellen Zurichtung am eigenen Leib zu erfahren, liegt weit vor der zweifelhaften Erfüllung seiner Bestimmung, sich als Ware Arbeitskraft zu Markte tragen zu müssen. Hier möchte ich beginnen. Psychologische Dispositionen sind keine Ursache für die Zusammenrottung eines völkischen Kollektivs, doch sind in diesem psychologische Dynamiken wirksam. Und die Verfolgung der Wirkmächtigkeit unbewusster Wünsche und infantiler Phantasien wird nach ihrer Bestimmung heute bis ins Kino der 50er Jahre führen.
Lilli Gast beschreibt das Setting jenes frühkindlichen phantasmatischen Raums, in dem sich die Herausbildung des Ichs vollzieht, als cineastisches Szenario: „Ein [...] Kinosaal mit einer riesigen [...] 360 Grad rundumlaufenden Leinwand. Die Leinwand verdeckt die dahinterliegenden Fenster und Türen und lässt nur schwaches Licht von draußen hindurch in den Raum dringen. Auf der Leinwand werden Episoden aus Horror- und Liebesfilmen alternierend, zuweilen auch gleichzeitig dargeboten, und zwar von einem technisch überaus versiertem Filmvorführer [...] Dieser Filmvorführer wiederum erhält seine Anweisungen von einem Regisseur, der für den inhaltlichen Ablauf und für den Schnitt der Szenen verantwortlich und ebenfalls zugegen ist. Im Kinosaal sitzt ein Publikum, das eintaucht in das Geschehen [...] und es emotional begleitet [...] Allerdings nimmt das [...] Happening [...] eine nachgerade surrealistische Wendung: Der Regisseur, der Filmvorführer, die auf der Leinwand agierenden Schauspieler und auch das Publikum sind ein und dieselbe Person [...] sie befinden sich [...] im Cyberspace virtueller Realitäten und zwar als schieres „Spaltprodukt“ und Widerschein der Funktionsfacetten jener einen allesinszenierenden Person.“ (L. Gast, 1996, S.167)
Die allesinszenierende Person ist das kleinste Kind , dessen Welt ein halluzinatorischer, phantasmatischer Raum der grausamsten Szenen und Erfüllung des Glücks in Einem sind. Und es gibt anfangs nur diesen Zustandsraum in dem Innen und Außen, Realität und Phantasie, Subjekt und Objekt untrennbar sind. Ist nach Freud das Ich keine ursprüngliche Einrichtung des Individuums, so stellt sich ihm die Frage nach der Bewegung des ersten Aufscheinens psychischer Regung. Denn das Ich tritt nicht aus dem Nichts hervor. Ursprünglich vorhanden ist nach Freud jedoch der Trieb. Die Außenwelt ist dem kleinsten Kind nach Freud gleichgültig, es befindet sich im Auf und Ab von körperlichen Spannungszuständen. Die Lust- und Unlustempfindungen werden erst in einem zweiten Schritt mit den Attributen Außen und Innen belegt.
Dies ist im eigentlichen Sinne die erste psychische Aktivität, wenn das Kind in Reaktion auf die Wahrnehmung von Lust und Unlust diese koppelt mit Phantasien von Innen und Außen. Die Differenzierung von Außen und Innen fällt eindeutig zu Gunsten des Kindes aus. Mittels Introjektion und Projektion erschafft sich das Kind einen Innenraum, der als lustvoll erlebt wird, und eine unlustvolle Außenwelt. Alles Lustvolle wird als Eigentum des Kindes proklamiert, alles, was Unlust verursacht, hat mit ihm nichts zu tun und scheint von außen zu kommen.
Die Ausdifferenzierung des fiktiven Selbstobjekts zu einem „Selbst- bewussten Ich-Subjekt“ ist als Prozess des Ineinandergreifens von libidinösen und subjektkonstituierenden Prozessen zu denken. „Es handelt sich [...] um eine dialektische Bewegung an der Basis der Ichkonstitution, in deren Verlauf ein narzisstisches Vor-Ich die „dissoziierten Sexualtriebe“ zu einer Einheit verlötet, indem es sich selbst als Objekt gegenübertritt und dergestalt der Libido anbietet.“ (Lilli Gast, S.1996, S.172)
Zu Beginn des Seelenlebens bildet sich das Ich im narzisstischen Selbstbezug, ist demnach das Allmächtigste und Potenteste. Unter der Bündelung der unorganisierten Triebimpulse konstituiert sich das Ich in einer phantasmatischen Konstellation von Innen und Außen. Das Ich formiert sich in einem interaktiven Raum, als Verinnerlichung einer intersubjektiven Beziehung die unablösbar mit der Phantasietätigkeit verbunden ist. Die Aufsplittung von Innen und Außen nach dem Prinzip von Lust und Unlust ist – wie Lilli Gast schreibt eine „[...] phantasmatische Überformung jenes Faktums des eigenen Ausgeliefertseins an eine unlustvolle Realität sowie der [...] existentiellen Objektangewiesenheit.“ (L. Gast, 1996, S.170) Die Fähigkeit, zwischen Vorgestelltem in der Phantasie und dem Wahrgenommenen in der Realität zu unterscheiden, bietet die Realitätsprüfung. In der Erinnerung des Kindes wird ein Befriedigungserlebnis in der Phantasie wiederholt. Das reale Ausbleiben der Befriedigung gibt den Anstoß die strikte Einteilung Lust = Innen - Unlust = Außen aufzugeben, und im Außen nach Objekten zu suchen, die Befriedigung versprechen. In der Realisierung des Ausbleibens, des Mangels von körperlicher Befriedigung wird der libidinöse Selbstbezug aufgebrochen und gleichsam nach außen gekickt. Fortan ist es der Wunsch, der das Subjekt zum Objekt treibt.
Dies vollzieht sich freilich nicht in einem Sprung, und dieser Prozess bedeutetet auch nicht die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip, sondern vielmehr die Sicherung der Wunscherfüllung auf Kosten der unmittelbaren Triebabfuhr. Freud entwirft für das Ich das Bild des Reiters dessen Pferd das Es ist. „Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin er gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre.“ (Freud, 2000, S.265) So steht das fragile kindliche Ich im Zeichen der übermächtigen Triebansprüche des Es und lernt langsam unter dem Eindruck von Versagungen jedoch zu unterscheiden, ob etwas der Außenwelt zugehörig ist, nicht zuletzt, um aktiv von der Außenwelt die Erfüllung seiner Wünsche einzufordern.
Freuds majesty the baby mausert sich zum selbstbewussten kleinen Tyrannen, der durchaus weiß, was er begehrt.
Es geht in der ersten Zeit des Lebens ums Ganz oder gar nicht, um Verschlingen und Verschlungenwerden - nicht um Heterogenität und Geschlechterdifferenz. Das Kind begehrt sowohl Mutter als auch den Vater und nimmt sich beide gleichzeitig zum Vorbild, d.h. Identifizierung und rein sexuelle Objektwahl sind in dieser Zeit kaum getrennt dingfest zu machen. Ein unvorstellbares Chaos von Beziehungen und widerstreitenden Gefühlen herrscht in dem Elternhaus des kleinen Kindes, bis die Ordnung eintritt, die das Chaos und die eigenen Triebregungen mit einem wirkmächtigen Verbot belegt. Unter der Drohung der Kastration muss das Kind sich von den inzestuösen Bestrebungen trennen. Die ungehemmt sexuelle Besetzung der Elternteile wird mit einem Verbot belegt und ins Unbewusste verlagert während die erlaubte Identifizierung, als von Sexuellem desinfizierte eine Kerbe im Ich wie zwischen den Geschlechtern schlägt.
Die Geschichte des Individuums - von Freud entworfen als Geschichte des Triebverzichts -tritt in eine neue Phase: Das Ich als Reiter hat fortan nicht nur mit seinem wütenden wie wollüstigen Pferd zu tun, sondern auch noch mit einem weiteren Kumpan, der die Peitsche führt. Die Peitsche heizt nicht nur dem Pferd weiter ein, sondern auch das Ich hat sich seiner Gewalt zu beugen. Im Inneren richtet sich das väterliche Verbot auf, das bei Befolgung eben nicht den großen Preis – die Mutter – verspricht. Darauf steht die Höchststrafe Kastration-, aber das Verbot fungiert fortan als Motor der Lust auf die Welt zahlloser Objekte, die sich fast ebenso zur Verköstigung anbieten – aber eben nur fast. Und deshalb immer mit dem Mangel und dem Verzicht auf das primäre Objekt als direktes sexuelles, der Mutter, verbunden sind. Dazu Sybille Berg: „Die Einsamkeit beginnt, wo wir anfangen und nicht mehr Teil unserer Mutter sind. Toll ist das nicht.“ (Sybille Berg)
Folge des ödipalen Konfliktes ist also die Ausdifferenzierung des Ichs, das infolge der Introjektion des väterlichen Inzestverbotes eine Spaltung erfahren muss. Das Ideal: So wie der Vater sollst Du sein und gleichzeitig das Verbot: Wie der Vater darfst du nicht sein, werden in das Ich hineingenommen.
Das Ich müht sich, der Idealität Genüge zu tun – gleichzeitig ist genau diese Erfüllung mit dem wirkmächtigen Verbot belegt. Die ödipale Ordnung, in der man das, was man sein soll nicht sein darf ist errichtet auf der Verdrängung direkter sexueller Strebungen nach den primären Objekte und der Akzeptanz, dass der präödipale Vater bis in die Ewigkeit die Alleinherrschaft des lust- wie angstbesetzten Reiches hemmungslosen Genießens besitzt.
Wer kann es dem bürgerlichen Subjekt verdenken, dass auch der Wunsch virulent bleibt, der ödipale Vater wäre nie gewesen, und die Zeiten, in der das eigene Ich noch identisch mit seinem Ideal gewesen war, mögen wiederkehren.
Gefährlich wird es, wenn sich die Subjekte als faschistische Horde in der Realisierung dieses Wunsches zusammentun: „Das Bild des Führers befriedigt den doppelten Wunsch der Gefährten, sich der Autorität zu unterwerfen und zugleich selbst Autorität zu sein. Dies entspricht einer Welt, in der irrationale Herrschaft ausgeübt wird, obwohl sie durch universelle Aufklärung ihre innere Überzeugungskraft verloren hat. Die Menschen, die dem Befehl der Diktatoren gehorchen, fühlen zugleich, dass sie überflüssig sind, und sie lösen den Widerspruch durch die Vorstellung, selbst der rücksichtslose Unterdrücker zu sein.“ (Adorno, 1971, S.50/51)
Die Gestalt der Autorität in der Masse ist nach Freud nicht die einer ödipalen, sondern wird als die des mythischen Urvaters bestimmt, der in der präödipalen Vorgeschichte des Einzelnen seine Wirksamkeit zeigte. In der Masse gibt der Einzelne sein individuelles Ichideal zugunsten des im Führer verkörperten Massenideals auf. Im NS findet die Uniformierung Notorious, 12.5k der äußeren Erscheinung im Inneren ihre Entsprechung: das Wesen der Masse ist die Gemeinsamkeit der Iche, ihr Ich- Ideal an eine „Verbindung von King- Kong und Vorstadtfriseur“ – so Adornos Charakterisierung Hitlers – abgetreten zu haben.
„Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ (S. Freud, 1999, S.70/78)
Freud geht also von zwei unterschiedlichen Objektbindungen in der Masse aus, die Ergebnis differenter libidinöser Bindungsvorgänge sind. Die Bindung der Massenmitglieder untereinander ist eine andere als die Bindung der Massenmitglieder an den Führer der Masse. Die Masse beruht auf einer libidinösen Doppelbindung. Die Identifizierung der Massenmitglieder untereinander erfolgt nur unter der Voraussetzung, dass die Einzelnen den Führer als Massenideal an die Stelle ihres individuellen Ichideals setzen, d.h. die eine kollektive Ichidealersetzung vollzogen wird. Es tritt eine Entlastung der innerpsychischen Spannung zwischen Gewissensinstanz und Ideal, dem Ich und dem Es ein. Die Masse ermöglicht und evoziert aufgrund ihrer spezifischen Bindungsstruktur ein Erleben des eigenen Selbst und der äußeren Welt, das dem beschriebenen frühkindlichen Phantasieleben entspricht.
Die Welt spaltet sich auf in Allmacht und Ohnmacht, in Verfolger und Verfolgte, in Gut und Böse. War man nicht selbst in der Position des allmächtigen Urvaters im narzisstischen Rausch – gleichzeitig alles zu sein und alles zu haben? In der Idealisierung des Führers wird zugleich die des eigenen Ichs geliebt. Die Masse – so Freud – „[...] hat das Gefühl der Allmacht, für das Individuum in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen.“ (Freud, 1999, S.41)
Die mangelnde Fähigkeit, zwischen äußerer und innerer Realität zu unterscheiden, hervorgerufen durch eine Dominanz unbewusster Dynamiken, führt dazu, dass dem Antisemiten die äußere Objektwelt in Gestalt der irrationalen Bilderwelt seines Unbewussten erscheint. Es reicht jedoch nicht hin, zu sagen, im Faschisten reinszenierten sich infantiler Narzissmus, Verfolgung- und Größenwahn. Das ist sicherlich richtig, doch handelt es sich nicht lediglich um eine individuelle innere Reinszenierung. Der Nationalsozialismus bietet den äußeren Rahmen für die Verwirklichung infantiler Phantasmen. Das Problem des Kindes besteht darin,dass die äußere Welt der Umsetzung der Phantasien einen Strich durch die Rechnung macht. Das Kind ist kein Faschist, sondern die Darstellung seiner Entwicklung zeigte seinen Versuch auf, angestoßen durch die Erfahrung der eigenen Ohnmacht, Ambivalenzen zu integrieren und Abschied zu nehmen von nie wiederkehrender Fülle, Macht und Geborgenheit, die jedoch stets unwillkürlich aufbricht und den dahinter liegenden Abgrund von Exzess und Verschlungenwerden freilegt. Die Unterwerfung unters väterliche Gesetz - die nicht eine Willensentscheidung, sondern Zwang ist, wie jeder Kindergarten, Schule und pädagogisches Handbuch beweisen - diese Unterwerfung bedeutet Verzicht aber auch ein Versprechen - dass dieses von der bürgerlichen Gesellschaft nicht eingelöst werden kann, zeigt sich nicht erst an den pathologischen Fällen. „Schon Benjamin hat das Ideal des Genitalcharakters [...] einen blonden Siegfried getauft. Der im Sinn des Freudschen Entwurfs „richtige“, also von der Verdrängung unverstümmelte Mensch sähe in der bestehenden [...] Gesellschaft dem Raubtier mit gesundem Appetit zum Verwechseln ähnlich [...] Die Selbsterhaltung glückt den Individuen nur noch, soweit ihnen die Bildung ihres Selbst missglückt, durch selbstverordnete Regression.“ (Th. W. Adorno, 1995, S.66-67, 69-70) Die Masse erlaubt dem Individuum, im „Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs“ wie Adorno formulierte, schuldfrei Aggression nach außen zu verlegen und zu verfolgen. Der autoritäre Charakter des Antisemiten darf nicht als Gegenentwurf zum bürgerlichen Subjekt oder pathologische Abweichung von der bürgerlichen Subjektform verstanden werden, sondern als Konsequenz dieser Subjektform selbst. „In den liberalen Phasen kapitalistischer Produktion gewinnen die Einzelnen Identität aus der Abgrenzung gegen „unzivilisierte“ Nicht- Bürgerliche im Rassismus und in der Identifizierung mit ihrem Nationalstaat. Rassismus und Nationalismus sind aber nur Vorläufer von Antisemitismus und Volksstaat.“ (B. Krapp, 2001, S.102)
Eine Lösung unzumutbarer realer Ansprüche des kapitalistischen Alltags scheint die Unterwerfung, die Identifikation mit dem Aggressor zu sein. Die bürgerliche Identifikation mit dem Staat ist ein Versuch, die Drohung der Konkurrenz und damit die Gefahr, aus dem gesellschaftlichen Ganzen herauszufallen, zu mindern. Die gesellschaftlich bedingte, reale Ohnmacht die das Ich zu erfahren hat, mobilisiert Abwehr des Ichs. Die Abwehr dieser Ohnmacht als narzisstischer Rettungsversuch des Ich verbannt die Ohnmachtserfahrung selbst ins Unbewusste. Der Nationalsozialismus bot die wirkliche Möglichkeit, das einzelne Ich aus der Zange zu nehmen zwischen Anforderungen des Ich- Ideals bzw. Über – Ichs und dem Drängen des Es.
Der faschistische Staat machte sich an die Verwirklichung, die Subjekte ihrer privaten Sorge um die eigene Verwertbarkeit mittels der Verstaatlichung der Ware Arbeitskraft faktisch zu entheben. Fortan kann das völkische Kollektiv sich konkurrenzlos genüsslich in der Erfüllung infantiler Omnipotenzphantasien ergehen, geschützt in der wohligen Bindung an den Führer. Die Auslöschung von Ambivalenz bedingt, dass das Alles des deutschen Volkes sich in der Vernichtung des drohenden Anderen bestätigen muss.
Der Primat des deutschen Volkes – vor dem der Einzelne nichts war – schien eben jene Ambivalenz zwischen individueller Ohnmacht und objektiver Macht abzuspalten: aus dem homogenen Volkskörper als Ichersatz mussten alle Mängel und Widersprüche ausgesondert werden. Das Abgespaltene fand seinen Platz im Bild des Juden als Negativ zu der nun noch herrlicher erscheinenden Herrenrasse, die sich auf die Jagd machte, im Außen die drohenden nicht zu integrierenden Ambivalenzen zu eliminieren.
Was geschah nun aber, als sich mit 45 dem Tod des Führers das kollektivierte Ich- Ideal und mit dem Sieg der Alliierten die Realisierung des völkischen Allmachtsstrebens erledigt hatten? Freud schreibt unmissverständlich: „...mit der Bindung an den Führer schwinden – in der Regel – auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zerstiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat.“ (S. Freud, 1999, S.60/61)
Nach dem Sieg der Alliierten, der für die meisten Deutschen Schock und Notorious, 13.3k Niederlage bedeutete, mussten Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit, die bis 45 faschistisch im Kollektiv aufgehoben waren, reorganisiert werden. Bei der Auflösung einer Masse sind spezifische individuelle Reaktionen auf den Verlust des Kollektivideals und der affektiven Bindung an die anderen Mitglieder zu erwarten: Panik und Angst zum Beispiel oder Melancholie und Trauer. Nicht so in Deutschland. Die Leerstelle, die der Führer und die institutionelle Bündelung des faschistischen Volkskörpers in der Psyche der Einzelnen hinterlassen hatten, wurde nicht mit einer Verarbeitung dieses Verlustes begegnet. Der Grund dafür ist, dass es zwar einen Verlust von Repräsentanzen gab, die libidinöse Bindung der Masse jedoch - wenn auch in modifizierter Form - aufrechterhalten werden konnte. Die eigentlich zu erwartende Melancholie oder Panik der Masse bei Wegfall der narzisstischen Gratifikation, die der Volkskörper und sein Führer bereitgestellt hatten, wird in erheblichem Maß abgewendet.
Grund dafür ist die bei aller Starrheit faschistischer Charakter verbleibende Möglichkeit, die Stelle des Führers durch anderes zu ersetzen und so das Fortbestehen der libidinösen Massenbindung zu gewährleisten. Ein deutsche Trick der 50er ist die Entwirklichung der Vergangenheit. „Die faschistische Schuld wurde weder geleugnet noch akzeptiert; sie wurde vielmehr in den Zustand der „Unleserlichkeit“ versetzt [...]“ (Seeßlen, 1994, S.31) Auszüge aus Schüleraufsätzen aus dem Jahr 1977 zum Thema „Was ich über Adolf Hitler gehört habe“ belegen dies: „Einmal in der Woche war Eintopftag.“ „Hitler hat den Erfinder der Atombombe aus dem Deutschen Vaterland gejagt.“ „Hitler hatte was für die Kirche übrig.“ „Einmal wurde er zum Mann des Jahres gewählt, weil er der unbeliebteste Mann auf der Welt war.“ „Und die, die sich gegen ihn stellten, nannte er Nazis. Er steckte Nazis in die Gaskammern.“ ( Boßmann, 1977, S.118/128/131/133/149) Die deutschen Nazikinder wissen nicht einfach nichts, was als Folge eines lückenhaften Curriculums gelten könnte, sondern sie wissen eine Menge und der aufmerksame Leser wird erahnen, welche Phantasien der vorhergehenden Generation aus der Abspaltung schlüpften. Hitler wird zum Oberlümmel – das deutsche Volk zum Opfer. „Adolf, die feige Sau, hat sich die meiste Zeit im Bunker aufgehalten.“ „Er hat die Mauer zwischen DDR und BRD bauen lassen.“ (D. Boßmann, 1977, S.263/202)
Mit 1945 musste dem Konkreten der NS-Vergangenheit, den Orden, den Aufmärschen, dem Führer die libidinöse Besetzung entzogen werden, doch erhalten blieb die Identifizierung mit dem völkischen Kollektiv. Verbindendes Glied der Deutschen war nun nicht mehr der Führer sondern die gemeinsame Arbeit an der Verzerrung, Verleugnung, Abspaltung der Geschichte und am Wiederaufbau Deutschlands. „Die Bindungskräfte des „verhärtetesten Kollektivs der Welt“, wie Horkheimer über die Deutschen (nach 45, S.W.) schrieb, glichen denen einer Gangsterbande: Nicht Sympathie, nicht eine gemeinsame Idee, sondern das gegenseitige Wissen, dass jeder seine Leiche im Keller hat... hielt die Landsleute zusammen. Die Demokratie konnten sie schließlich akzeptieren, insofern diese unter Beweis gestellt hatte, den Zusammenhalt nicht zu gefährden, durch Amnestiegesetze wie durch Verfassungsvorschriften... sogar zu ihrer eigenen Sache zu machen.“ (C. Dehnert/ L. Quadfasel, 2002, S.59) Und ist es nicht bemerkenswert, dass der Nazi aus „Notorious“ in „Weißes Gift“ wirklich zum Gangster wird?
In der Abwehr der Schuld zeigt sich die Kontinuität der autoritären Disposition, die auf die Identifizierung mit dem völkischen Kollektiv zurückzuführen ist. Die Abwehr kollektiver Schuld war in den 50ern weit affektiver besetzt als die individuelle. Die Ergebnisse der Forschung des Frankfurter Institut zeigten, dass je stärker sich das Subjekt mit dem Kollektiv identifiziert, desto stärker die Abwehraggression dagegen war, die völkische Identität in Frage zu stellen. Freud lehrte, dass das Abgewehrte als verkleidete in neuem Gewand immer wieder zum Ausdruck kommen muss. Abwehr ist gemäß der freudschen Psychoanalyse gegen Vorstellungen, Erinnerungen, Phantasien gerichtet, die an einen Reiz gebunden sind, der die Konstanz des Ichs in Frage stellt. Der Abwehrvorgang ist somit ein Versuch, in der Zurückweisung solcher Vorstellungen die Stabilität des Ichs zu sichern. Wenn jeder vermeintliche Angriff auf die deutsche Identität – z.B. die Phantasie einer vom Ausland verhängten Kollektivschuld über die Deutschen – als Angriff auf das eigene Selbst gewertet wird, zeigt sich darin die fortbestehende affektive Verbundenheit die schon vor 45 bestand. Die Schuldabwehr ist das Symptom dafür, dass die Identifikation transformiert fortwest. Wo kein autonomes Ich war, wird sich über Nacht auch keines einstellen. Dass jede Frage nach der Vergangenheit eine Frage der Schuld ist, können jene nicht ertragen, deren Ich nichts ist außerhalb der Macht des Kollektivs – und bestünde diese im gemeinsamen Gefühl der Ohnmacht und der Inszenierung der Nation und der Einzelnen als Opfer. Daraus folgt der Wunsch, als Nation von dieser „Schmach“ befreit – „wieder wer“ zu sein.
Denn gleichzeitig ist die Verleugnung auch der Versuch der Wiederherstellung der beschädigten nationalen Identität und die Entwirklichung deren Voraussetzung- daraus motiviert sich der deutsche Eifer beim Wiederaufbau der gleichwohl Ausdruck des Bestrebens ist, unsichtbar zu machen, was gewesen ist.
„Dass der Faschismus nachlebt [...] kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung [...] verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. [...] Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential.“ (Th. W. Adorno, 1971, S.22)
Das Identische der verschiedenen Äußerungen der Schuldabwehr liegt darin, ein schuldfreies nationales Kollektiv zu imaginieren und Schuld und Verantwortung nach außen zu delegieren.
Eine der externalisierten Schuldinstanzen waren den Deutschen „die Juden“. 1947 häuften sich die Schändungen jüdischer Friedhöfe und antisemitische Übergriffe, und auch in den folgenden Jahren zeigte sich insbesondere im Umgang mit den Displaced Persons antisemitische Pogromstimmung in ganz Westdeutschland. Insbesondere in der Phase von 1950 bis 1953 – in die das Entstehungsjahr der Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ fällt – häuften sich in der westdeutschen Öffentlichkeit manifest antisemitische Äußerungen. „Skandale um den der Deutschen Partei angehörenden Bundestagsabgeordneten Hedler, der es in einer Wahlkampfrede dahingestellt sein ließ, ob die ‚Judenvernichtung das richtige Mittel zur Lösung der Judenfrage‘ gewesen sei, um die Aufführung neuer Filme des belasteten ‚Jud Süß‘-Regisseurs Veit Harlan u. a. ließen das Thema und entsprechende Ressentiments wieder hervortreten. Eine Umfrage von 1952 belegt, dass antisemitische Einstellungen gegenüber 1949 sogar noch angewachsen waren.“ (W. Bergmann, 04, S.56)
Die Opferinszenierung machte sich in Westdeutschland auch im ambivalenten Verhältnis zu den Amerikanern geltend. Zeigten sich auf der einen Seite starke antiamerikanische Ressentiments, so bot gleichzeitig die Identifizierung mit den Amerikanern die psychische Gratifikation, sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus zu inszenieren. Die imaginierte Vergeltungssucht stellt sich als relevant bezüglich der ersten Synchronisationsfassung dar, in deren ersten Sequenz die Amerikaner nicht über einen deutschen Nazi zu Gericht sitzen, wie in der originären Fassung „Notorious“. Gerichtet wird in „Weißes Gift“ über einen Drogengangster, womit für deutsche Zuschauer die Legitimität der richterlichen Instanz hergestellt ist.
Die Shoah wurde überhaupt bis in die 60er Jahre nur sehr begrenzt öffentlich thematisiert. Doch trotz des Rückzugs ins Private werden Nationalsozialismus, Krieg und die Vernichtung der europäischen Juden schon in den ausgehenden 40ern in deutschen Filmen thematisiert. Doch Krieg und Notorious, 13.6k die Shoah erscheinen als Gesamtkatastrophe, die über die Deutschen hereingebrochen sei. Die Deutschen klittern sich zur Schicksalsgemeinschaft. Diese Tendenz setzt sich in den 50er Jahren fort und vermischt sich hier mit anderen Stereotypen, die insbesondere in Heimatfilmen reproduziert werden, wie etwa dem ehrenwerten deutschen Soldaten, der nur seine Pflicht erfüllte, die Thematisierung des deutschen Widerstands, der von hohen Militärs geleistet wurde, die Teilung Deutschlands als Quelle des menschlichen Leids und die Dämonisierung des „Wirtschaftsbosses“. Die Frage der Schuld wird nicht nur vollkommen ausgespart, deutsche Täter werden in den Filmen der 50er explizit zu Opfern erklärt. Die allgemeine Tendenz der 40er, 50er und 60er Jahre ist also die Herstellung der kollektiven Unschuld mittels Entstellung, Verleugnen und Verschweigen der Vergangenheit – und diese kollektive Taktik ist das neue libidinöse Bindemittel der deutschen Nachkriegsmasse. Dass Onkel Willi sich auf Familienfesten Hitler zurück wünscht und die Juden zum Teufel und Mama immer noch weiche Knie bei Erinnerungen an den Führer bekommt steht dieser These nicht entgegen. Denn die Deutschen der 50er wissen wohl, wie sie sich zu verhalten haben in der neuen Demokratie, deren Akzeptanz kein Wunder war. „Es ging in dieser Kultur der Entschuldung, die nach dem Krieg einsetzte und mehrfach die Gestalt wechselte, aber im Ziel immer konstant blieb, um die Fähigkeit des faschistischen Menschen, sich mit der militärischen Niederlage und den Formen der Demokratie zu arrangieren, seiner Vergangenheit und seinen Verbrechen öffentlich abzuschwören und sie im Inneren zu bewahren.“ (G. Seeßlen, 1994, S.19)
In einem Artikel über die verfälschte Synchronisation von Notorious heißt es: „...Freilich ging es weniger darum, das „Nationalgefühl“ ...des Zuschauers vor Kränkungen zu bewahren, vielmehr dominierte die Furcht vor Einbußen an der Kinokasse.“ (T. Bräutigam, 2003, S.22)
Es wäre nun zu zeigen, warum die Furcht vor Einbußen an der Kinokasse zumindest bei klugen Köpfen des Filmbusiness eben sehr wohl mit der Einschätzung einer Kränkung des Nationalgefühls durch eine adäquate Synchronisation in Verbindung hätte stehen müssen.
Es ist die Frage danach, wie die Lust am Film und damit der Erfolg des Films, der ja wohl spekulativ damit zusammenhängt, welche Einnahmen oder Einbußen zu erwarten sind, gerade mit dem Nationalgefühl ohne Tüddelchen zusammenhängen. Die These ist: Der Film selbst konnte aufgrund seiner spezifischen Struktur nur in der Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ funktionieren.

TEIL II: Suspense, MacGuffin und der Blick

„Ein Hitchcock- Film ist nämlich kein Angebot an den Zuschauer, sondern eine perfekt konstruierte und justierte Maschine, die die Emotionen und Affekte des Zuschauers manipuliert.“ ( C. Appelt, 2000, S.54)
Die Maschine ist ein vom Menschen entworfenes Gerät, welches seine Tätigkeit automatisch - im Idealfall ohne weitere äußere Einwirkung - vollzieht. Der Film ist hier die Maschine, die ihr Material: die Emotionen des Publikums in (von Hitchcock) bestimmter Weise umwandelt. Diese Metapher setzt den Film als fixen Gegenstand voraus, während die ZuschauerInnen als formbare Masse begriffen werden. Es sei jedoch eingewandt: Das Material muss der Maschine angemessen sein und vice versa, sonst funktioniert die Bearbeitung nicht. Übertragen wir das auf den Film, so kann man sagen, dass eine Bedingung für das Gelingen der „Manipulation“ der Emotion durch den Film unzweifelhaft die Identifizierung mit Figuren, oder allgemeiner der Blick der Zuschauer und Zuschauerinnen ist. Ganz einfach: Ein Film funktioniert vielleicht wie eine Maschine, aber nur wenn das Publikum mitspielt. Und die These ist: das Publikum der 50er Jahre hätte bei Notorious nicht mitgemacht. Damit der Film seine von Hitchcock konzipierte Funktionsweise beibehalten konnte, war die verfälschende Synchronisationsfassung notwendig, die eine entdramatisierte Beziehungsstruktur präsentierte. Und so wurden die Nazis zu Dealern.
Wie funktioniert nun ein Hitchcockfilm, was ist hier das Besondere an der Beziehung von Publikum und Film? Wer sich diese Frage stellt, kommt um Suspense und den MacGuffin nicht herum. Was ist unter Suspense und MacGuffin zu verstehen? Zum Thema Suspense soll zuerst Hitchcock selbst in einem Gespräch mit Truffaut zu Wort kommen:
„Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat...Dieselbe Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Er möchte den Leuten zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe [...]! [...] Daraus folgt, dass das Publikum informiert werden muss, wann immer es möglich ist.“ (F. Truffaut, 1999, S.58/59)
Hitchcocks Eigenart bestand darin, nicht eine bloße Präsentation von Objekten zu betreiben, sondern vielmehr den Blick des Zuschauers und der Zuschauerin selbst zur Hauptsache zu machen. Das Publikum weiß früher und etwas, was die ProtagonistInnen wissen müssten, meistens deswegen, weil das Fehlen der Information ihnen das Leben kosten könnte. Der Suspense bewirkt die Verdoppelung der Funktion des Blickes. Das, was die Spannung einer Szene erzeugt, ist nicht nur das, was gesehen wird, sondern die Spannung hat ihren Ursprung in dem Mehrwissen des Publikums, welches aber im Bild selbst keine Entsprechung findet. Es braucht keine abwechselnden Bilder vom Mörder, der sich von hinten nähert und der Frau, die ihn nicht sieht und nichts ahnend ihre Socken stopft oder ihr Kleid richtet oder was Frauen in Filmen sonst noch so tun. Das Mehrwissen wird in einer separaten Aufnahme vermittelt, die bewirkt, dass im Blick des Publikums selbst das Mehrwissen eingeschlossen ist, nicht im Bild. Dieses Mehrwissen jedoch verändert das Bild, es wird bedrohlich, in ihm sind die Möglichkeit grausamster Verbrechen geborgen, die aber außerhalb des Feldes des Sichtbaren liegen: nämlich im Blick der Zuschauenden selbst. So gelingt es Hitchcock eine Gleichzeitigkeit von Innen, dem Bild selbst, und Außen, dem wissenden Blick des Publikums, herzustellen. Und der Suspense besteht in dieser Gleichzeitigkeit, in der Überlagerung von Innen und Außen, darin, dass sich das Mehrwissen unsichtbar in das Sichtbare, ins Bild selbst einschreibt. Die Spannung spiegelt sich nicht auf dem Gesicht des Schauspielers, sondern sie entsteht im Vorgang des Sehens. So funktioniert ein Hitchcockfilm nur in Komplizenschaft mit dem Publikum – es geht darum, das Publikum mit den Augen eines anderen sehen zu lassen, dafür muss der Blick des Protagonisten den des Zuschauers treffen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir als ZuschauerInnen uns in den Protagonisten einfühlen, uns mit ihm identifizieren, was gleichzeitig fehlschlagen muss, denn wir wissen mehr als er.
In „Weißes Gift“ sehen wir in einer Sequenz Elisa, Aldro und seine Mutter beim Kaffeetrinken. Aldro bittet Elisa, für ihn einige Besorgungen in der Stadt zu übernehmen.
Eine vollkommen normale Situation, es gibt hier keinen Suspense für diejenigen, die nicht wissen, was hier eigentlich los ist. Der Film beginnt mit dem Ende einer Gerichtsverhandlung gegen eine Rauschgifthändlerbande, die Tochter des Verurteilten – Elisa Sombrapal - tritt aus dem Saal. Darauf sieht man sie mit ihren Freunden eine wilde Party feiern, bei der ein Unbekannter teilnimmt – Dev, ein „Geheimpolizist“, wie sie erkennen muss. Elisa Sombrapal ist eine sexuell recht ungenierte junge Dame, die gerne einen trinkt. Dev hingegen ein Profi, der sich unter Kontrolle und den Auftrag hat, sie zu verpflichten, mit ihm nach Rio de Janeiro zu fliegen und dort die Komplizen ihres Vaters zu überführen. Sie willigt nach einigem Zögern ein. Beide werden ein Paar - sie gelobt, dass mit ihr alles besser würde, er misstraut ihren Beteuerungen und ihre Liebe nimmt ein frühes Ende. Nicht zuletzt, da Elisa einen alten Bekannten ihres Vaters – Aldro Sebastini – heiratet – dies aber nur als unglückliche Folge von Eifersucht, Misstrauen und Missverständnissen zwischen Elisa und Dev. In der Villa, in der Aldro Sebastini mit seiner Mutter und dann auch mit seiner zweiten Frau neben der Mutter Elisa wohnt, befindet sich ein Weinkeller, darin eine Flasche, die einen Grundstoff zur Herstellung einer mysteriösen Superdroge beinhaltet. Elisa, die ja den Auftrag hat, der amerikanischen Polizei Beweismaterial zu liefern, entwendet den Schlüssel zum Weinkeller. Bald darauf ist es dieser Schlüssel, der Elisa auffliegen lässt. Aldro Sebastini und dessen Mutter planen, Elisa langsam zu vergiften. Denn für Aldro würde es den sicheren Tod bedeuten, kämen seine Komplizen, deren Treffpunkt die Villa ist, dahinter, dass Aldro sie alle in Gefahr gebracht hatte, als er Elisa auf den Leim ging. Doch in letzter Minuten rettet Dev Elisa vor dem Vergiftungstod und gibt Aldro der Rache seiner Kumpanen preis.
Nun lüftet sich das Geheimnis der geschilderten Sequenz: Die Tasse Kaffe ist vergiftet. Elisa weiß es nicht, die Bilder selbst enthalten keinen Hinweis. Das Publikum jedoch ist informiert, war doch in der vorhergegangenen Sequenz im Gespräch zwischen Aldro und seiner Mutter der Beschluss, Elisa zu ermorden, gefasst worden.
Die Erklärung des Suspense lässt uns sehen, wie zentral für den Hitchcock Film der Blick des Publikums ist.Der Suspense ist ein Hangen und Bangen, ein das Publikum in der Schwebe lassen zwischen Angst und Lust, ein Mixtur zwischen Wissen und Emotion innerhalb und außerhalb der Filmhandlung. Das Publikum muss einfach mitmachen: Elisa darf nicht das geschehen, worum das Publikum weiß. Die Bilder erfahren eine affektive Besetzung, Sehen ist Schaulust. Wenn nicht nur Kinder beruhigt werden müssen: Es ist doch nur ein Film, so zeigt sich hier eine regressive Form der Wahrnehmung. Die mangelnde Differenzierung von innen und außen, zwischen Phantasie und Wahrgenommenem ist es, die mein Herz klopfen macht, obwohl alles Film ist und ich im Kinosessel sitze. Das Kino ist der Raum affektiver Besetzung und des Wunsches, der aber durch diese Besetzung hindurch sekundäre Bearbeitung erfordert, so dass der Film als sinnvolle Struktur, die Figuren als Identitäten wahrgenommen werden.
Der MacGuffin nun ist keine Funktionsweise, sondern das wohl berühmteste Hitchcocksche Objekt, das Hitchcock im Gespräch mit Truffaut folgendermaßen erklärt: „Das ist eine Finte, ein Trick, ein Dreh [...] In all den Spionagegeschichten [...] ging es ohne Unterschied immer um Raub von Festungsplänen. Und das war der MacGuffin. MacGuffin ist also einfach eine Bezeichnung für den Diebstahl von Papieren, Dokumenten, Geheimnissen. Im Grunde sind sie ohne Bedeutung und die Logiker suchen an einem falschen Ort nach der Wahrheit. Bei meiner Arbeit habe ich mir immer vorgestellt, die Papiere, die Dokumente oder Konstruktionsgeheimnisse der Festung müssten ungeheuer wichtig sein für die Personen des Films, aber ganz ohne Belang für mich, den Erzähler. Und woher stammt der Begriff des MacGuffin? Der Name erinnert an Schottland, und da kann man sich folgende Unterhaltung zwischen zwei Männern in der Eisenbahn vorstellen. Der eine sagt zu dem anderen: „Was ist das für ein Paket, das Sie da ins Gepäcknetz gelegt haben?“ Der andere: „Ach das, das ist ein MacGuffin.“ Darauf der erste: „Und was ist das, ein MacGuffin?“ Der andere: „Oh, das ist ein Apparat, um in den Bergen von Andirondak Löwen zu fangen.“ Der erste: „Aber es gibt überhaupt keine Löwen in den Andirondaks.“ Darauf der andere: „Ach, na dann ist es auch kein MacGuffin.“ Diese Geschichte zeigt Ihnen die Leere, die Nichtigkeit des MacGuffin. F.Truffaut: Das ist komisch. Sehr interessant.“ (F. Truffaut, 1999, S.111) Es gibt eine jugoslawische Variante des „Fremden im Zug-Witzes“, die zwei Schlussversionen des Witzes präsentiert: Auf die Entgegnung, es gäbe im schottischen Hochland doch gar keine Löwen, antwortet der Fremde: „Version 1: „Na, dann ist es bei Truffaut eben auch kein MacGuffin.“ Version 2: „Da sehen Sie, wie gut es funktioniert.“ Liest man die beiden Versionen zusammen, kommt dabei heraus: Der MacGuffin ist kein MacGuffin und deshalb funktioniert er. Aber das ist schon die Erklärung des Witzes, die bekanntlich die Pointe versaut. Freud führte in seinem „Witz und seiner Beziehung zum Unbewussten“ eine Differenzierung der Witztechniken ein. Der MacGuffin-Witz gehört zur Gattung des Gedankenwitzes, dessen Witzigkeit sich der Verschiebung verdankt. Ganz allgemein sind die Verschiebung und die Verdichtung nach Freud die wesentlichen Mechanismen, nach deren Maßgabe unbewusste Vorgänge funktionieren, wie er z.B. am Traum und an der Symptombildung nachwies. Die Verschiebung ist – ganz allgemein gesprochen- die Loslösung einer Besetzungsenergie von einer bestimmten Vorstellung und das Gleiten auf andere, die mit der ersten durch eine Assoziationskette verknüpft sind. Dies findet sich nun auch in bestimmten Witzen wieder, deren Wesen „[...] ist die Ablenkung des Gedankenganges, die Verschiebung des psychischen Akzents auf ein anderes als das angefangene Thema ist.“ (S. Freud, 1975, S.41) Man will wissen, was der MacGuffin ist, und heraus kommt was er ist, kann er nicht sein.
Und nach dieser spaßigen Vorlage funktioniert auch der MacGuffin als filmisches Objekt.
Seeßlen schreibt: „Der MacGuffin [...] ist [...] was die Erzählung anbelangt, ein „Witz“; er schafft nicht nur ein komisches Gefälle zwischen dem Ding an sich und der Wirkung, die es auslöst (Wie die „kleine“ Ursache der Bananenschale, die eine mittlere Katastrophe auslöst), sondern wohl auch eine verzweifelte Suche und absurde Suche nach dem, was dahintersteckt.“ (G. Seeßlen, 1990, S.214)
In „Weißes Gift“ finden wir den MacGuffin als die Flasche mit den Substanzen für die Superdroge. Alles dreht sich um die Flasche, sie ist der Beweis für die Existenz der Verschwörung, für die dubiosen Machenschaften der Drogenmafia. Die Flasche mit der Superdrogensubstanz ist Beweis für die Verschwörung sonst nichts und deshalb läuft die Geschichte. Der MacGuffin ist keine Metapher, kein Symbol in welchem sich anderes bündelt oder ausdrückt. Der MacGuffin funktioniert, wie die Witztechnik des MacGuffin-Witzes, nach dem Muster der Verschiebung.
Die Beziehungen im Film ranken sich um die Flasche die nichts ist, außer diese Flasche zu sein. Es wird nicht thematisiert, was die Schurken mit der Substanz vorhaben, wie sie gemacht wird, wie sie wirkt – dieser Mangel an Information und Sinnhaftigkeit birgt die Relevanz seiner Funktion, die Geschichte in Gang zu setzen, die aber nur ihren Sinn hat, wenn das Publikum sich mit der Liebe von Dev und Elisa Sombrapal ursprünglich Alicia Hubermann einverstanden zeigt, und versteht, worum es eigentlich hier geht. „Wie in einem Kompendium finden sich hier Themen und Motive, die Hitchcock in seinen Filmen immer wieder variiert hat: die sexuelle Leichtfertigkeit der Frau und ihre „Sühne“; zwei Männer, die in die gleiche Frau verliebt sind; die Ehe der Frau mit einem Muttersöhnchen; die Familie als Quelle des Unglücks und Hort des Unbehagens“ (Penning, 1999, S.99)
Die Spionagegeschichte liefert die Folie, sie stellt den Rahmen für die Geschichte der Liebe dar. Der MacGuffin ist der Köder fürs Publikum, um ihn dreht sich hingegen für die ProtagonistInnen alles, für die Geschichte ist er ein Aufhänger. Eifersucht, Vorurteile, Missverständnisse bestimmen den Gang der Handlung. Und das ist ein wichtiger Punkt: Die Spionagestory ist eng verflochten mit dem eigentlichen Drama: dem der Liebe. Die Liebe bei Hitchcock bedeutet die Verurteilung zur Einsamkeit, die Geschichte zweier Liebenden endet nicht in der Verschmelzung beider, sondern zeigt die Selbstzerissenheit jedes Einzelnen.
Doch worum geht es hier jetzt eigentlich – die Ersetzung von Nazis durch Dealer scheint gar nicht relevant zu sein. Alle bisherigen Ausführungen könnten ebenso „Notorious“ - und nicht „Weißes Gift“ – zum Gegenstand haben. Denn es geht um die Inszenierung der Blicke, indem die Spionage nur Anlass ist, Eifersucht, Kontrolle, Machtverlust, Verstellung, Missverständnisse: kurz die hitchcocksche Inszenierung der Liebe selbst in Szene zu setzen – „Das ...weiträumig gespannte Szenario der kontrollierenden Blicke bildet das Hauptgeschehen – das Drama eines Mannes, dem die Macht entgleitet, verläuft parallel und über Kreuz zum Drama der beiden verkappten Spione, die sich verstellen unter den Blicken der Eifersucht und des Verdachts und ein neues Szenario improvisieren, welches das wahre ist, das der Liebe.“ (Desalm, 1999, S.53)
Doch auch um die Liebe geht es nicht wirklich, schenkt man Kracauer Glauben, der über Hitchcock schreibt: „Niemand wird bestreiten wollen, dass die typische Hitchcockfabel alles andere als bedeutungsvoll ist. Seine Filme verwenden Emotion als Reizmittel, bedienen sich irgendwelcher Konflikte und Probleme rein um der Spannung willen und vermeiden es im allgemeinen, ernsthafte menschliche Angelegenheiten zu berühren, oder verabsäumen doch, ihnen gerecht zu werden.[...] Seine Filme gipfeln demnach in materiellen Dingen und Vorgängen, die nicht nur Spuren eines Verbrechens darstellen und Hinweise für die Identifizierung des Verbrechens geben, sondern zugleich trächtig sind mit äußerem sowohl wie innerem Leben. [...] Obwohl es den Hitchcock- Thrillern an Tiefe mangelt, enthalten sie eine Fülle zwar embryonaler, aber virtuell bedeutungsreicher Stories.“ (S. Kracauer, 1985, S.363)
Anbei sei erwähnt, dass Hitchcock selbst natürlich auch eine antifaschistische Motivation hatte – die ebenso anderen Projekten zugrunde liegt. Hier geht es jedoch um die Logik der filmischen Objekte und des Spannungsaufbaus, für die zentrale Elemente der inhaltlichen Ebene austauschbar sind.
Die Zentralität der Dynamik der filmischen Objekte, der Räume und Blicke demonstriert ein weiterer Objekttypus, der einen besonderen Platz im Zentrum der intersubjektiven Beziehungen im Film einnimmt. In „Weißes Gift“ handelt es sich um den Schlüssel zum Weinkeller, in dem sich der MacGuffin befindet. Könnte der MacGuffin vollkommen abwesend sein in den Bildern des Films, ist hier die materielle Anwesenheit des Objektes relevant. Es handelt sich um ein Objekt des Austausches, das zwischen den Personen des Films zirkuliert. Es gibt für ihn kein Gegenstück, kein Zweites: das ist der Grund für die Notwendigkeit seines Zirkulierens durch die Hände der Protagonisten.
Dieses zweite Objekt ist das Gegenstück und Ergänzung zum MacGuffin: Der MacGuffin ist nichts als ein Unsinn, ein Trick, welcher eine absurde Suche initiiert, innerhalb deren Verlauf sich ein Liebesdrama abspielt. Das zirkulierende Objekt hingegen – der Schlüssel – ist jene Materialität, die die Figuren untereinander verbindet.

Teil III: Die Rettung des MacGuffins

Hitchcock sagt: „Mich interessieren nicht so sehr die Geschichten, mich interessieren vielmehr die Mittel,
mit denen ich erzähle.“ (zit. nach T. Elsässer, 1990, S.29)
Wenn die ganze Story mit den Nazis in „Notorious“ also zum einen eh nur Rahmen für die Liebesgeschichte, aber alles eigentlich nur der Inszenierung von Suspense und MacGuffin dient, warum dann die Synchronisationsfassung „Weißes Gift“?
Die Story konnte nur auf Grundlage ihrer Irrelevanz geändert werden. Hitchcock selbst betont: „In Notorious geht es einfach um einen Mann, der verliebt ist in eine Frau, die in offiziellem Auftrag mit einem anderen Mann geschlafen hat und gezwungen wurde, ihn zu heiraten. Das ist die Geschichte. [...] Wenn unsere Geschichte nicht mit dem Krieg zu tun hätte, hätten wir vielleicht etwas mit einem Diamantendiebstahl gemacht, aber das ist doch alles ganz unwichtig.“ (Truffaut, 1999, S.140)
Wie hätte die Story mit den Nazis in Deutschland in den 50ern trotzdem Relevanz haben können in Bezug auf die Beziehung zwischen Film und Publikum? Was macht die Präsentation von Nazis mit der Wahrnehmung des Publikums - speziell vom MacGuffin?
Als ich anfing, über diesen Sachverhalt nachzudenken, erinnerte ich mich, als ich bei Seeßlen seine Bestimmung des MacGuffin als Witz las, folgender kleiner Szene: Ich muss so fünf Jahre alt gewesen sein und befand mich anlässlich des Geburtstags meiner Oma allein unter Erwachsenen. Ich wollte wohl zur allgemeinen Heiterkeit auch meinen Anteil tun und erzählte einen ziemlich langen Witz, den ich seitdem nie wieder erzählt habe und auch jetzt nicht erzählen werde. Das peinliche Schweigen der Kaffeerunde war noch bedeutend länger als mein Witz – über einen Neger. Und ebenso, wie ein Witz in die Hose gehen kann, kann es vielleicht auch der MacGuffin. Ich bin nicht der Auffassung, dass der MacGuffin im freudschen Sinne ein Witz ist. Eine Analogie besteht jedoch hinsichtlich der intersubjektiven Konstellation, die Freud für die Wirkung des Witzes als eines sozialen Vorganges – im Gegensatz etwa zur „asozialen“, weil intrapsychischen Traumbildung – als Voraussetzung bestimmt.
Für die Frage nach dem MacGuffin ist der von Freud formulierte Grund für das Misslingen des Witzes relevant: diesen verortet Freud nicht in der mangelnden Güte des Witzes sondern in der Beziehung zwischen demjenigen der den Witz erzählt und demjenigen, der den Witz hört. Dieser Grund scheint mir der gleiche zu sein wie für das Misslingen der Beziehung vom deutschen Publikum und einer adäquaten Synchronisationsfassung in den 50ern. Ein Grund dafür, warum ein Witz scheitern kann, liegt in der differenten Affektlage desjenigen, der den Witz macht und derjenigen, die den Witz hören. Freud bestimmt die Voraussetzung, unter der der Witz klappt, in Bezug auf die dritte Person, also auf denjenigen, der den Witz hört, hier unser Publikum, welches den MacGuffin-Witz sieht, folgendermaßen: „Ein Grad von Geneigtheit oder eine gewisse Indifferenz, die Abwesenheit aller Momente, welche starke, der Tendenz gegnerische Gefühle hervorrufen könnten, ist unerlässliche Bedingung, wenn die dritte Person zur Vollendung des Witzvorganges mitwirken soll.“ (S. Freud, 1975, S.117) Freilich ist der MacGuffin gemäß der freudschen Bestimmung kein Witz, doch er verdankt seinem Funktionieren einer Technik des Witzes: der Verschiebung. Wir brechen nicht in 100-minütiges Gelächter aus, die Zeit, in der der McGuffin mit Hilfe des Suspense uns eben den Atem anhalten lässt. Doch ebenso wie der Witz ist auch der Film auf Lustgewinn aus in einer Beziehungskonstellation, in der sich Verschiebungen und Verdichtungen, als die Mechanismen unbewusster Vorgänge, vollziehen. Und wie der Witz hat auch der MacGuffin sein Gelingen einer hypnotischen Wirkung auf die dritte Person zu seiner Voraussetzung. „So wie der Hypnotiseur macht der Witz mittels seiner faszinierenden Schleichwege die Vereinigung des Unbewussten verschiedener Personen und den automatischen Ablauf psychischer Prozesse möglich.“ (C. Schneider, 2001, S.149) Der Witz wie der MacGuffin überwältigen das Bewusste seiner ZuhörerInnen bzw. ZuschauerInnen im Rahmen einer unbewussten Übereinstimmung, deren Voraussetzung der Trick, die hypnotische Wirkung ist und deren Resultat das Verschwimmen individueller Grenzen ist. Hitchcock trickst uns aus und verführt uns, dazu benutzt er den MacGuffin als Köder und den Suspense als sein Werkzeug.
Dass die Verführung von Hitchcocks Film gelingt, setzt beim zuschauenden Subjekt eine bestimmte Affektlage voraus, und die der amerikanischen, französischen, englischen und anderen Publika ist anders als die des deutschen Publikums. Die Voraussetzung der Abwesenheit von gegnerischen Gefühlen, die Freud für den Witz formulierte, ist nur beim deutschen Publikum nicht erfüllt. Die Thematisierung vom Vater als Nazi in „Notorious“, als zurecht von der Tochter in Zusammenarbeit mit einer der Siegermächte verraten und seine gerechte Strafe erhaltend, rührt zu nah an die Geschichte der Abwehrenden selbst. Jegliche vom Film vorgegebenen Identifizierungsmuster können unter dieser Voraussetzung nicht nachvollzogen werden, eine Positionierung oder zumindest hinreichende Indifferenz gegenüber dem Geschehen und den ProtagonistInnen ist nicht gewährleistet. Dies ist auf den Affekt und die daran haftenden Vorstellungen der Abwehr zurückzuführen, in der sich die fortwährende Identifizierung mit dem deutschen Kollektiv beweist. Um die geht es hier im Film aber doch gar nicht? Richtig, es geht weder um die Vernichtung der Juden noch um die Beteiligung der deutschen Bevölkerung daran. Aber eben daran zeigt sich hier exemplarisch die explizierte assoziative Verquickung von individuell- biographischen und kollektiven Mechanismen im faschistischen Kollektiv und der Schuldabwehr, die ich im ersten Teil meines Vortages darzustellen versuchte.
„Notorious“ wie „Weißes Gift“ beginnen mit der Verurteilung von Alicias bzw. Elisas Vater. Jede gerichtliche Verurteilung setzt die Entlarvung und Verfolgung unrechtmäßigen Verhaltens voraus. Der Film beginnt also mit dem Abschluss dieses Prozesses und setzt damit aber gleichzeitig einen neuen fort, der den Verrat des Vaters durch die Tochter zur Voraussetzung hat.
In der ersten Synchronisationsfassung verrät sich die Irrationalität der Abwehr: Zu sehr wird betont, dass es sich hier auch wirklich um einen Rauschgiftprozess handelt und vollkommen irrational verhält sich der Angeklagte: Der Prozess ist abgeschlossen, das Urteil verkündet, was der gute Mann ignoriert und vollkommen ungefragt noch einmal mitteilt, dass er jetzt auch wirklich nichts mehr sagt, was eh auch keiner vermutet hätte. In der zweiten Fassung hingegen sagt der Verurteilte: „Ich habe noch etwas zu sagen. Sie können mich einsperren. Aber gegen das, was Ihnen und Ihrem Land das nächste Mal passieren wird, können Sie nichts machen. Das nächste Mal werden wir nämlich...“ Der Angeklagte spricht eine Drohung aus, die Drohung, dass Nazideutschland die USA letzten Endes besiegen wird. Zur Erinnerung: Der Film wurde 46 gedreht, kurz nach dem Sieg über Deutschland, zur Zeit der Entnazifizierung kurz nach der Entdeckung der Konzentrationslager. Der Film nimmt die Bedrohung durch die Nazis ernst, denn mit dieser Verurteilung endet der Film nicht, sondern die Jagd beginnt. Die Abwehr der Schuld machte sich – wie ich referierte – auch in der imaginierten Rachsucht der Siegermächte geltend, und so ist klar, dass die Deutschen sich bei der Originalversion nicht genüsslich mit Blicken an der Verfolgung der Nazis hätten beteiligen können. Weitaus leichter ist die absolut schlechte Synchronisation und kleine Ungereimtheiten für die Deutschen der 50er zu ertragen, denn die Legitimität der Beziehung von Elisa und Dev ist in „Weißes Gift“ wiederhergestellt. Der Verrat am Vater wird Elisa gestattet, er war Rauschgifthändler und nicht Nazi. Auch das deutsche Publikum kann nun Dev und Elisa ihren Segen geben und ebenso einverstanden kann es sich damit zeigen, dass im hitchcockschen Film jede Sünde gesühnt werden wird. Die Bedeutung, die Schuld und Sühne in Bezug auf den Nationalsozialismus Anfang der 50er Jahre in Deutschland hatte, kennen wir. In „Notorious“ bestätigt sich in der Schlussszene, in der Sebastian und seine wahrhaft deutsche Mutter der tödlichen Rache der Nazis ausgeliefert sind und Dev mit Alicia fliehen kann, in der Wiederholung der erste Verrat am Vater. Nur mit der Opferung dieser beiden Vaterfiguren – Nazivater und Sebastian – kann sich die Partnerschaft von Alicia und Dev durchsetzen- auch wenn sie kein Happyend im klassischen Sinne nimmt. Der MacGuffin des Films, die Uranflasche, fungiert als Beweis für die Schuld der väterlichen Figur(en) und ist – noch vielmehr – der Faustpfand für die Richtigkeit des Eintausches Verrat- am- Nazivater gegen die Liebe zu Dev.
Aus Alicia Hubermann, der gebürtig deutschen Amerikanerin, die aus Liebe zum Ami sich gegen die Bande ihres Nazipapas stellt wird Elisa Sombrapal, die auch weniger schlimme Schimpfwörter verwendet als ihre amerikanische Schwester, so beschimpft das gute Kind einen Geheimagenten nicht als Bullen, sondern als „Sie, Polizeimensch, Sie!“. Aus dem verkorksten Nazimuttersöhnchen Alex Sebastian wird Aldro Sebastini, ein ziemliches Weichei von Drogendealer, nur Dev kann Dev bleiben. Die ursprünglich eindeutige Gegnerschaft von Amis gegen Nazis ist hier in der ersten Fassung ganz international geworden, Polizei gegen Kriminalität.
Mit der Änderung der Story kann auch der MacGuffin seine Funktion als Köder ausüben und die filmischen Objekte Hitchcocks die Zuschauer fesseln, der Blick des deutschen Publikum kann sich seufzend und fiebernd mit den Blicken der Protagonisten kreuzen, ohne dass die Freudschen „feindlichen Gefühle“, wir hießen sie hier Schuldabwehr, die Komplizenschaft des Publikums zunichte machten.
Und der MacGuffin vermag es so, die Dinge wieder in Gang zu setzen. Denn eben jenes Markenzeichen des MacGuffin: seine Irrelevanz bezüglich seiner Bedeutung bzw. die Möglichkeit des Nachvollzugs der Verschiebung verlöre der MacGuffin der ursprünglichen Story von „Notorious“ im deutschen Kontext der 50er Jahre. Hitchcock setzt nicht nur bei sich eine gewisse Gleichgültigkeit in Bezug auf den MacGuffin und der Handlungsebene voraus, sondern ja eben auch beim Publikum. Die Suche nach dem MacGuffin würde nicht in die Anteilnahme an den Abgründen der Liebe führen, sondern in die Zuschauenden selbst, deren Innerstes darzustellen heute auch mein Thema war. Ich gehe davon aus, dass die Abwehr infolge von Assoziationen und Vorstellungen bezüglich der Handlungsebene, die der Film in seiner originären Fassung bei den Deutschen hätte hervorrufen müssen, die primären Prozesse der affektiven Besetzungen blockiert hätte.
Die Vorlage für Notorious erhielt Hitchcock aus einer Erzählung aus der „Saturday Evening Post“. Dort sagt die Mutter des amerikanischen Agenten: „Ich hatte mir immer gewünscht, dass mein Sohn ein wirklich ordentliches Mädchen heiratet, aber ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass er ein so ordentliches Mädchen finden würde.“ (Truffaut, 1999, S.139) Deutsche Mütter beschimpften zu der Zeit Marlene Dietrich als Verräterin und Amihure. Vor solch Schmähungen bleibt Alicia bewahrt, denn sie ist als Elisa zurückverwandelt in die Tochter eines Vaters, der weiterhin als Repräsentant einer feindlichen Gruppe fungieren kann. Und damit muss sie nicht als verratendes Kind schon in den 50ern auftreten, sondern kann bis in die späten 60er warten, wo sie in Begleitung der tabubrechenden Radaubrüder, die sich dann in den 90ern mehrheitlich unter der Führung von Fischer und Walser wieder auf Großdeutschland ohne Schande besinnen werden dürfen, als Alicia in der neuen Synchronisationsfassung „Berüchtigt“ von 1969 wieder auferstehen darf. „Weißes Gift“ ist ein Beispiel für die 50er Jahre Taktik der Verleugnung und Entwirklichung von Geschichte und somit auch für die Verbannung von medialen Repräsentationen deutscher Schuld. Die Demokratisierung Deutschlands und in deren Folge auch die öffentliche Skandalisierung des Antisemitismus, d.h. eine institutionalisierte Tabuisierung des offenen Antisemitismus und Privatisierung der eigenen faschistischen Familiengeschichte trug offenbar zu einer Entkoppelung von autoritären Dispositionen und manifestem Antisemitismus bei. Im Laufe der 60er Jahre können vermehrt Thematisierung der deutschen Verbrechen neben antisemitischen Schuldabwehraggressionen stehen.
Die 68er erhoben ihre Stimmen gegen den Faschismus und verwandelten ihre Körper in das, was das die Nazieltern am meisten hassten: in die Zeichen der Faulheit, der freien Sexualität, des Rausches, fremder Musik, des Gammlertums, des Weibischen... Ganz anders wollten sie sein, und waren es sicherlich auch. Die Wut des Staates und seiner Verbündeten, die den langhaarigen Söhnen und unkeuschen Töchtern die
Todesstrafe wünschten, zeigt, wie sehr der Tabubruch ans Eingemachte des völkischen Kollektiv ging, dessen Zusammenhalt sich auf das/mittels des Verschweigen gründete. Nachzuweisen, wie viel Wahres daran ist, dass die Eltern wirklich zum Sprechen aufgefordert wurden, denn wer möchte schon wissen, wozu die Eltern wirklich imstande sind. Und nicht von ungefähr verschob sich die Suche nach dem Faschismus der 68er in der vermeintlichen Solidarität mit allen möglichen Opfern auch bald gen Amerika und letztlich nach Israel. Diese Wahl des Feindeslands ist freilich kein Zufall, sondern auch Ausdruck der unbewussten Identifizierung mit den Eltern. Die Thematisierung der Leichen im Familienkeller musste den Zorn der Altvorderen herausfordern, aber noch viel schlimmer, stellten diese so grundlegend die Eltern und die mit ihnen verbundenen infantilen Wünsche in Frage, dass lieber schnell die Sexualität befreit, die richtige Ableitung in der korrekten Vermittlung mit der Praxis gesucht und der Imperialismus der ganzen großen Welt bekämpft wurden, die scheinbar nicht so bedrohlich erschien, wie das eigene Elternhaus. Reimut Reiche wundert sich im Nachhinein: „[...] dass wir uns [...] niemals einen wirklichen Begriff davon machen konnten, dass die mit der Zerschlagung des Nationalsozialismus der Verdrängung anheim gefallenen omnipotenten, destruktiven, grausamen und mörderischen Taten und Phantasien im dynamischen Unbewussten des Einzelnen und des Kollektivs fortexistierten und auf dem Wege des Verschiebungsersatzes zwanghaft wiederholt werden müssen. Wir stellten nicht wirklich die Frage nach dem Verschiebungsersatz, sondern projizierten den >Faschismus< auf die >Institutionen<.“ (Reiche, in: Kraushaar, 1998, S.153)
So zeigt sich mit den 68ern, dass sich die Schuldabwehr nicht in der Taktik des Verleugnens erschöpft, sondern dass hier massiv das einsetzt, was bis heute sich beweist: Gerade durch die Rede hindurch kann sich die Schuldabwehr manifestieren. Für die Kinder bestimmt sich die Motivation der Abwehr anders als die der Eltern. Diese hatten den Nationalsozialismus mitgelebt, ihre Geschichte ist mit der des Nationalsozialismus verschlungen. Die Geschichte der Eltern und Großeltern ist immer die Geschichte des nationalsozialistischen völkischen Kollektivs – und diese nicht zu hintergehende Tatsache, egal ob die Eltern selbst gemordet haben oder nicht, lässt jede Form der Erinnerungsverweigerung als Ausdruck der nicht aufgekündigten Bindung an die Idee einer Gemeinschaft erkennen, deren eigentlicher Sinn darin besteht, dem Deutschen sein Ich zu sein. „Der Schritt von der Mikroebene der individuellen Fallgeschichte zur Makroebene der deutschen Gesellschaft ist also gekennzeichnet durch die Erweiterung der Identifizierungsprozesse bezüglich nationalsozialistischer Eltern und Großeltern zur Identifizierung mit der deutschen Nation.[...] Der Übergang vom individuellen zum gesellschaftlichen Niveau setzt an die Stelle der Eltern die Nation.“ (Vogt/Vogt, 1997, S.500-502)
Der in den 60er Jahren beginnende Wandel vom Verschweigen zum Bereden führt spätestens in den 90ern zu einem abartigen Versöhnungskult, für den Wolfgang Pohrt schon in den 80ern die treffenden Worte fand: dass „[...] noch unverfrorener als die Verharmlosung der Vergangenheit nur der Wille ist, aus einer nicht verharmlosten Vergangenheit nationales Selbstbewusstsein zu schöpfen.“(W. Pohrt)
Dass nun die Kinder die eigens angestoßene und dem Potential nach aufklärerische Konfrontation zum Alibi nehmen, gerade wegen Auschwitz Deutschland nach vorn bringen zu wollen, davor bleibt man auch heute im Kino selbstverständlich nicht bewahrt.
In der „Rosenstraße“ haben wir unsere Katja Riemann, „...die Actrice mit dem treudeutsch-schlichten Gemüt...“, wie ein Leser der konkret schreibt, „...die diejenigen nicht mag, die nur die Geschichte der Deutschen als Täter und nicht die Geschichten von Deutschen auch als >Helden< erzählen, wie sie in Bezug auf ihren neuen Kitschfilm äußert...“. Möchte sich jemand Rosenstraße wirklich antun, bekommt er ein Paradigma deutscher Geschichtsklitterung zu sehen, in der die Deutschen nicht auch als Helden, sondern insbesondere die deutschen Frauen nur als Heldinnen schamlos abgefeiert werden. Alle – wie es dort so schön im Nazijargon heißt – „arischen“ ProtagonistInnen haben mit den Nazis nix am Hut und auch der Stalingradsoldat mit appem Bein zeigt sich als wehrhafter Antifaschist, auf dass auch wirklich kein deutsches Opferklischee unerwähnt bleibe. Die Fortsetzung der „Rosenstraße“ ist „Das Wunder von Bern“. Hier muss die ungute Vorgeschichte, die sicherlich auch noch mal aus Führers Perspektive „Der Untergang“ schildert, gar nicht gezeigt werden. Gezeigt wird hier der wundersame Neuanfang eines gebeutelten aber wackeren Völkchens, dessen Zähigkeit und Tüchtigkeit, technische Intelligenz und sportlicher Ehrgeiz sich ausbezahlen. Hier wird gezeigt, wie Mama dem Sohn beibringt, dass er dem Vater verzeihen muss, der seine Macken vom Krieg hat. Aber es ist doch wirklich niemand schuld sagt sie und der Sohn verzeiht auch wirklich und bringt bei der Gelegenheit dem Vater das Weinen bei. Die Schienen des letzten Bildes führen daher auch nicht nach Auschwitz, sondern in eine neue Zukunft, in der der Ruhrpott gar nicht mehr grau, sondern fast noch schöner als die Schweiz ist.

Sonja Witte

Literatur:

Th. W. Adorno: Soziologische Schriften 1, Suhrkamp, Frankfurt a. M.: 1995
Th. W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Suhrkamp, Frankfurt a. M.: 1971
Th. W. Adorno: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1971
Christian Appelt: Einladung zum zweiten Blick: Hitchcock im Kino sehen, In: Kinematograph Nr.15/2000, Hitchcock in Frankfurt, S.52-58
Wolfgang Benz :Antisemitismus: Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt, in: Samuel Salzborn (Hg.), Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart, Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation, Giessen: 2004
Werner Bergmann: Antisemitismus in Deutschland von 1945 bis heute, in: Salzborn s.o.
Tobias Bräutigam: Dialoge für Deutsche, In: Schnitt Nr.29 Winter/03, Synchronisation, S.20-24
Dieter Boßmann (Hg.):„Was ich über Adolf Hitler gehört habe...“ – Folgen eines Tabus: Auszüge aus Schüleraufsätzen von heute, Fischer, Frankfurt a. M., 1977
Carmen Dehnert/Lars Quadfasel: Wenn der braune Großvater erzählt, in: initiative not a lovesong (Hg.), subjekt. gesellschaft, perspektiven kritischer psychologie, UNRAST-Verlag, Münster, 2002
Brigitte Desalm: Überwachen und Strafen – Einiges über die Blicke bei Hitchcock, in: Lars-Olay Beier/ Georg Seeßlen (Hg.), Alfred Hitchcock, Bertz Verlag, Berlin, 1999
Thomas Elsässer: Der Dandy in Mr. Hitchcock, in: Beier/Seeßlen, s.o.
Sigmund Freud: 2000 Das Ich und das Es- Metapsychologische Schriften, Fischer, Frankfurt a.M.:1992
Sigmund Freud 1999 Massenpsychologie und Ich-Analyse – Die Zukunft einer Illusion, Fischer, Frankfurt a. M.: 1993
Sigmund Freud 1975 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Fischer, Frankfurt a. M.: 1958
Lilli Gast: Himmel und Hölle, Paradies und Schreckenskammer. Die Idee der Subjektgenese im phantasmatischen Raum bei Freud und Klein, in: Luzifer – Amor: Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 9.Jg./ 1996, H.17, 167-187
Siegfried Kracauer: Theorie des Films, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1985
Boris Krapp: Leiden an Deutschland. Eine Kritik der „Psychologischen Vergangenheitsbewältigung“, in: Psychologische Revue, Heft 0/2001, 99-108
J. Laplanche/J.- B. Pontalis: 1989 Das Vokabular der Psychoanalyse, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1973
Karl Marx Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Europäische Verlagsanstalt Frankfurt
Lars Penning: Schuld und Sühne- Anmerkungen zu Hitchcocks Melodramen, in: Beier/Seeßlen s.o.
Reiche, Reimut: „Sexuelle Revolution – Erinnerungen an einen Mythos“, aus: W. Kraushaar (Hg.) „Frankfurter Schule und Protestbewegung Bd.3 Aufsätze und Register“, Hamburg, 1998
Georg Seeßlen: Tanz den Adolf Hitler- Faschismus in der populären Kultur, Edition Tiamat, Berlin: 1994
Georg Seeßlen: Mr. Hitchcock Would Have Done It Better –Oder: Warum es keine wirkliche Nachfolge von Alfred Hitchcock gibt, in: Beier/Seeßlen s. o.
Martina Thiele: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster, 2001
Francois Truffaut: Truffaut/Hitchcock, Herausgegeben von Robert Fischer, München/ Zürich, 1999
Barbara und Rolf Vogt: Goldhagen und die Deutschen. Psychoanalytische Reflexionen über die Resonanz auf ein Buch und seinen Autor in der deutschen Öffentlichkeit, in: Psyche, LI. Jahrgang, Heft 6, Juni 1997

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last modified: 7.7.2009