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LeserInnen-Brief, 3.9k

  Leipziger Verhältnisse
  – trotz Erfahrung kuschlig


Israel ist 60 geworden und Leipzig hat gratuliert: mit einer Kundgebung auf dem Markt (Luftballons, Aufkleber, beschwingte Reden über Rechtsradikalismus in Ostdeutschland und eine breite Strömung innerhalb des Jugendverbands der Linkspartei) sowie mit einer Diskussionsveranstaltung und einer Disko. Da wird sich Israel aber gefreut haben, auch und gerade über so viel neue und neueste Einigkeit innerhalb der „Leipziger Verhältnisse“, die so kuschlig noch nie gewesen sind.

Hier soll von der Podiumsdiskussion die Rede sein. Dort saß auf Einladung des Bündnis gegen Antisemitismus ein bunter Strauß von Leuten an einem Tisch, dessen Vertreter sich vor einiger Zeit noch gegenseitig bescheinigt hatten, der jeweils andere hätte gar keine Israel-Solidarität vorzuweisen, bzw. sei sowieso antiemanzipatorisch oder schlimmeres. Kleine Zitatenauswahl gefällig? Bittesehr:

Die Vertreter der großen Zusammenbruchstheorie können im Dienste der Finalen Krise weder geschichtliche Erfahrung ernst nehmen noch sich als Deutsche über das Evidente und Menschlichste [die Befreiung des Irak von Saddam Hussein, S.] freuen.
(Leipziger Antideutsche über Wertkritische Kommunisten, 2003)(1)

Sehr wohl sehen wir die Gefahr einer antisemitischen Massenbewegung verbunden mit einem verallgemeinerten Amoklauf im Zuge des Zerfallsprozesses des Waren produzierenden Patriarchats und seines bürgerlichen Subjekts. In gewisser Hinsicht halten wir auch Teile der Linken für eine solche Bewegung prädestiniert; gerade auch die Antideutschen [...] Der Philosemitismus lässt hier seine antisemitische Fratze erkennen. Wie lange wird es dauern, bis er es auch praktisch tut? Wohin schlägt (anti-)deutsche Ideologie im Verlauf der Krise des Waren produzierenden Systems?
(M. Böhme, M. Dornis K. Plasa, von den Leipziger Wertkritischen Kommunisten über Antideutsche, 2003)(2)

In Zeiten, in denen [...] die Nürnberger Wertkritik sich als Institut für Volkshygiene und Seuchenbekämpfung wider den antideutschen Ungeist empfiehlt...
(von Leipziger Antideutschen unterzeichneter Konferenzaufruf, 2003)(3)

Ich entschuldige mich also hiermit in aller Form bei sämtlichen Seuchen und Tierarten, die ich in der unkontrollierten Emotionalität des Augenblicks mit dem antideutschen Bellizismus (nicht mit den von dieser Ideologie fehlgeleiteten Menschen) verglichen habe.
(R. Kurz, 2003)(4)

Ich würde alles dafür tun, dass die wertkritischen Träumereien niemals an Einfluss gewinnen.
(S. Hartmann, Leipziger PDS, in einer Veranstaltung, 2005)(5)

Wer PDS wählt, wählt den islamischen Faschismus!
(Leipziger Antideutsche, 2002)(6)

Woran es liegen mag, dass solche Differenzen heute scheinbar keine Rolle mehr spielen, darüber kann nur spekuliert werden. Sicher können sich Positionen ändern; sonst wäre ja alle Agitation von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und auch beim Nachdenken sollen einige innerhalb der Leipziger Szene schon beobachtet worden sein. Das gilt ganz sicher für die Vertreter der Antideutschen und der Wertkritischen Kommunisten; bei den anderen Podiumsteilnehmern ist das nicht so gewiss – dazu später mehr. Aber es ist doch sehr erstaunlich, dass sich die Positionen so sehr gewandelt haben sollten, ohne dass von diesem Prozess irgendetwas an die Öffentlichkeit gekommen wäre. Es liegt doch der Verdacht nicht so ganz fern, dass einigen ihre dezidierten Meinungen von früher ein klein wenig peinlich sind und stillschweigend Einigkeit erzielt worden ist, besser darüber nicht mehr zu sprechen. Der Irak-Krieg war doch nicht der kurze und schmerzarme Befreiungsschlag, als der er von den Bellizisten (ich zähle mich zu ihnen) gefeiert wurde – kurz nach seinem Beginn. Die Region ist nicht um so viel sicherer geworden, wie wir damals dachten (oder gehofft hatten, oder naiver Weise angenommen, oder zurecht verlangt, oder alternativlos gefordert: das müsste eine Analyse ergeben, die nie stattgefunden hat).

Welche Positionsverschiebungen sich innerhalb der Wertkomm-Fraktion vollzogen haben mögen, entzieht sich weitgehend meiner Kenntnis. Offensichtlich bin ich allerdings der Einzige, der es überraschend findet, dass der, der sich früher den Wertkritischen Kommunisten zuordnete, heute antideutscher ist als die Antideutschen es je waren: „Vor unseren Augen wiederholt sich die nationalsozialistische Judenvernichtung heute im Nahen Osten!“. Und dann fordert er auf zu feiern mit Fahnen und Luftballons und lobt – nunmehr ganz Bellizist – die Wehrhaftigkeit der israelischen Gesellschaft. Der, der den Antideutschen die Gefahr des Umschlagens der Ideologie ans Knie reden wollte: „Euer Philosemitismus kann sich ganz schnell in Antisemitismus verwandeln!“; der hat selbst eine näher bei 180 als bei 90 Grad liegende Drehung gemacht. Um nicht missverstanden zu werden: ich finde das erfreulich. Aber ich hätte es gerne weniger überraschend erfahren. Alle anderen applaudieren jedoch brav – aber auch nicht überschwänglich; es geht gesittet zu bei unserer schönen massentauglichen Israel-Soli.

Und der ehemalige Antideutsche tröpfelt Wermut in die schöne Feierlaune: Israel sei aus der Not entstanden. Sein Bestehen eine Notwendigkeit und insofern eher Anlass zum Thematisieren des schlechten Zustands der Welt als zum fröhlichen Feiern der angeblich so wunderbaren Zustände in Israel (siehe „Warum Notzionismus?“ in diesem Heft).

Nochmal: Das waren die beiden (von fünf) Podiumsleuten, die erkennbar nachgedacht hatten, bevor sie sich äußern. Die anderen drei scheinen ohne solche Anstrengung ausgekommen zu sein. Der „Phase 2“-Mann möchte über die Sprechorte im Diskurs informieren und will bei der Gelegenheit nicht nur Israel, sondern auch den „weltweiten Judenheiten“ gerecht werden. Und: Deutschland sei das Problem, nicht irgendwelche iranischen Atombomben. Die Frau vom „Antifaschistischen Frauenblock“ (AFBL) meint ernsthaft, sie könne dem Bündnis gegen Antisemitismus gleich direkt antisemitische Argumentation vorwerfen (ohne den Umweg des Philosemitismus-Vorwurf der früheren WKL-Leute), weil dieses Uri Avnery vorwirft, er würde in Europa mit seinem antisraelischen Geschwurbel den Erfolg zu erreichen versuchen, der ihm in Israel seit Jahrzehnten zurecht verwehrt bleibt.

Am schönsten aber die Berichte aus der Linkspartei von der Vertreterin des Bundesarbeitskreises „Shalom“ der Linksjugend (oder einer die sich ihm nahe fühlt), die – nicht ohne zum wiederholten Mal darauf hinzuweisen, dass sie „nicht so theoretisch“ wie die anderen auf dem Podium reden wolle – mitteilt, dass sie Bündnisse mit Leuten von der CDU oder der SPD bei Israel-Soli-Veranstaltungen ablehnt, aber von Antisemiten in ihrer eigenen Partei berichtet und nicht – nicht mal auf Nachfrage – auf die Idee kommt, dass sie dann falsch in ihrer Partei ist. Das wird die Referentin wohl nicht mehr lernen. Sie kämpft weiter für und gegen dieses und jenes mit diesem und jenem: mit Chavez, Kipping und Gehrcke gegen Amerika, mit Kipping gegen Gehrcke und Lafontaine, mit Lafontaine und Kipping gegen Sozialabbau, mit allen gegen den Krieg, alleine gegen repressive Drogenpolitik – oder so ähnlich; es ist nicht ganz einfach, da den Überblick zu behalten; sie hat ihn ja auch nicht.

Das Einzige, was neu war und worüber sich zu streiten lohnt, ist der oben erwähnte Standpunkt vom Notzionismus, der Israel als Notwendigkeit begreift (und nicht zum Beispiel als „düsteren Vorschein auf den Kommunismus“, was die Zusammenfassung eines schwer belehrend daherkommenden Redebeitrags aus dem Publikum darstellt, der einfach das wiederkäute, was seit gefühlten 30 Jahren in jeder Nummer der BAHAMAS steht). Dass diese Diskussion fruchtbar und spannend sein könnte, wird klar, wenn wegen der großen Einigkeit in der Israel-Solidarität es nicht ohne den Vorwurf, man würde diese aufkündigen, möglich ist zu sagen, dass Israel auch ein Glücksfall für Antisemiten ist (endlich haben die Juden etwas, wohin sie geschickt werden können); dass Israel auch Züge von Selbst-Ghettoisierung hat (mitsamt Mauer gegen feindliche Umgebung); dass die israelische Armee nicht nur heroisch ist, sondern auch ein ganz normal grässlicher Männerbund und dass auch diese Armee junge Leute um die besten Jahre ihres Lebens bringt und Armeedienst bisher noch jedem und jeder geschadet hat. Aber bevor Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verständigen, ob die Feierlichkeiten angemessen sind, musste der Saal geräumt werden für die große Disko mit Fähnchenschmuck und heroischen Videos aus Israel.

Sven
mit Dank an Mausebär für die Öffnung des Zitate-Schmuckkästchens


Anmerkungen

(1) www.gig-leipzig.com/AKG/texte/zivilgesellschaft-blank.html

(2) www.exit-online.org/pdf/Kreuzritter.pdf

(3) www.gig-leipzig.com/AKG/konferenz.html

(4) www.exit-online.org/link.php?tabelle=schwerpunkte&posnr=111

(5) selbst gehört, keine schriftliche Fassung verfügbar

(6) www.gig-leipzig.com/AKG/texte/pds-blank.html


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last modified: 8.7.2008