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LeserInnen-Brief, 2.6k

  Mittelständische Langeweile

Zur Israelsolidarität in Aufklebern. Gegen Essentials.

Israelfahnen, -buttons und -shirts sind nichts Neues auf Demonstrationen von selbsterklärten „ehemals Linken“ und in einigen Kultur- oder Wohnprojekten Leipzigs. Verbote werden ausgesprochen und mit einem Flugblatt erklärt, an Feiertagen wird gefeiert, an Gedenktagen wird gedacht, und man steckt zielsicher Rahmenbedingungen für eine mögliche Zusammenarbeit mit möglichen, noch nicht vorhandenen Bündnispartnern ab, um keine „faulen Kompromisse“ einzugehen. Klar und einleuchtend ist, dass man Symbole und Grenzen braucht, um sich auf die politische Bühne zu begeben. So man das will. Ob damit einer Bewegung geholfen ist, die Antisemitismus weg haben will und nicht nur zurückzudrängen versucht, bezweifle ich.

Juden brauchten in dem weltweit aufkommenden System von Nationalstaaten ein Land und eine starke Armee, die ihr eigenes Leben und die Existenz Israels Israel-Soli-Aufkleber, 7.1k sicherte. Heute verhindern der Zaun und stellenweise die Mauer an Israels Grenzen und allem voran der israelische Geheimdienst einen Großteil der geplanten Anschläge durch todeswütige Antisemiten. Damals brauchten die Neueinwanderer eine „eigene“ Volkswirtschaft, um der Armut zu entkommen. Sie brauchen noch heute Organisationen, Macht und Möglichkeiten, um Druck auszuüben. Sie haben in vielen Lektionen gelernt, sich nicht auf die Gutmütigkeit von Menschen zu verlassen, sondern auf ihr eigenes Können und auf innerjüdische Solidarität. Ein bis auf die Zähne bewaffneter Staat hat bis heute die Auslöschung oder Vertreibung der dort lebenden Juden verhindern müssen – sind das Gründe zum Feiern? Dass seit 60 Jahren und in absehbarer Zeit keine Ruhe um Israel einkehren wird? Dass dort Menschen leben, die dabei verrückt werden? Das sind traurige Umstände, die auf die armseelige Verfasstheit dieser Welt verweisen; auf sie kann man sich doch nur negativ positiv beziehen.

In welches Beziehungsnetz setzt der störrische Fähnchenschwenker sich, wenn er seinen Arsch (an der Wand und im sauberen, friedlichen, existenzsichernden Deutschland) einmal zur Studien-, Bildungs- oder Urlaubsreise ins „exotische“ Israel begibt? Welches Grundbedürfnis treibt ihn an, sich und seinem Umfeld aufs Neue mit den vor nicht langer Zeit entstandenen, blau-weißen Aufklebern zu bestätigen, er sei „israelsolidarisch“? Die Fahne werde „auf keinen Fall“ abgehängt – erschöpft sich darin eine Solidarität? Ist man wirklich der Meinung, in politischen Formen – also grenzziehend, symbolisch-beschränkt, knapp und effektiv, dem „Machbaren“ angemessen, nicht ganzheitlich (weil mehrheitlich reicht völlig) und nicht systemumwälzend – Juden dieser Welt etwas Gutes tun zu können? Was soll mit dem Fähnchengeklebe und -geschwenke erreicht werden? Was ist, wenn mit den Aufklebern eine Veranstaltung zur homophoben Transgenderpolitik des Iran unterbunden wird, weil der Referent keinen Bock auf diese denkfeindliche Israelmode und auf staatliche Symbole hat, weil er sich lieber mit konkreten Menschen und deren Ansichten solidarisiert?(1)

Mir drängt sich also die Frage nach der Art der Solidarisierung, der Form der Gemeinsamkeitserklärung auf; und da die Form dem Inhalt nahe steht, auch die Frage nach dem Bedürfnis des Fähnchenschwenkers. Die Form des Ausposaunens und Herumtrompetens statt zu trauern, fürchten, bangen und zu hoffen, bereitet mir Kopfschmerzen und verweist auf den Inhalt – die mangelnde Sorge um das physische und psychische Wohl von Juden auf dieser Welt. Ich möchte diese Behauptung kurz mit den drei mitreißendsten Merksätzen der jüngsten Aufkleber erklären:

Seit 14.05.1948 erfolgreich gegen Antisemitismus ist eine so offenkundige Lüge, dass ich dem Macher der Aufkleber wohlwollend unterstelle, mit den Aufklebern einfach „nur provozieren“ zu wollen – aber sie provozieren weder in Connewitz noch in der Südvorstadt. Warum kleben sie selbstreferentiell (und damit überflüssigerweise) in den einschlägigen Wohn- und Kulturprojekten, und nicht in Grünau, Kleinzschocher oder Gohlis? (Die gleiche Form: wozu hängt man sich eine Israelfahne ins Wohnzimmer?) Denn man ist eben nicht erfolgreich gegen Antisemitismus, das ist traurig genug und hat Gründe, die wiederholt nicht nur im CEE IEH abgedruckt werden. Wie war das noch? Antisemitismus sei mit dem Unvermögen verbunden, abstrakte gesellschaftliche Verhältnisse zu durchschauen, die sich verkehrt dar-stellen? Solange es Staaten, Ein- und Ausschluss gibt und Menschen nur zählen, wenn sie nützen, werden die Freunde der Juden potentiell auch ihre Feinde sein.

I love Herzl bezeichnet und bemalt förmlich das Desinteresse am Schutz der Juden im Kapitalismus – es gab wesentlich klügere und weitsichtigere Zionisten, als diesen, der die sog. „gescheiterte Symbiose“ (G. Scholem) nicht in ihrem Umfang wahrhaben wollte und konnte.

60 Jahre Demokratie im Nahen Osten kommt üblicherweise nicht von Gesellschaftskritikern, sondern von Mitgliedern der CDU und FDP (nur dürften sich deren Jugendgruppen nicht im Conne Island treffen, obwohl sie Geld haben). Was gibt es an Demokratien zu feiern? Den Kampf um politische Mehrheiten, der die Ultraorthodoxen mit ins Boot holt? Das Gewinnen des (argumentativ) Stärkeren, dort v. a. des Lauteren? Und wer der Meinung ist, „die israelischen Friedensbewegten seien verrückt, zum Glück sind die nicht an der Macht“, sollte eben diesen Aufkleber meiden.

These: wäre Israel keine Demokratie, sondern eine theokratische Diktatur, würde es nicht mehr ständig mit Raketen beschmissen.

Na, zum Glück müssen wir ja nicht dort wohnen, wir bekommen nur wenig von den Auswüchsen an der Peripherie mit, unser Überleben ist so gesichert, dass wir mal „rüber“ schauen können, was da „so alles los“ ist, und wir was zum Ereifern haben. Und zum Aufkleber Kleben. 60 Jahre Israel – und es macht sich noch immer keiner Sorge um dessen Überleben.

Die Aufkleber sind peinlich und machen mich wütend, sie verhöhnen die stillen Opfer und die der Statistiken als Kollateralschäden, sie verhöhnen die verrückt Gewordenen, Angst Habenden und wieder Ausgewanderten und diejenigen, die kläglich versuchen, den psychologischen Schaden wieder zurückzudrängen. Man redet eben nicht von Kapitalismus oder von der gewalttätigen Modernisierung des Landes und der jüdischen Kultur vor und nach der Staatsgründung. Statt dessen sind die Aufkleber und andere Symbole der Israelsolidarität Dreh- und Angelpunkt vieler Gruppen, die zum Beispiel die „Roadmap“ (CEE IEH #136) und deren „Mindeststandards emanzipatorischer antifaschistischer Arbeit“ unterschrieben.

Solche sog. Essentials sind Grundlagen, die „ein für alle Mal geklärt“ und nicht mehr überrissen werden. Wie es eben mal „klar“ war, dass man „links“ sei und dazu bestimmte Symbole, Auf-kleber, Anstecker, Zeichen und Wunder brauche, obwohl man um die Beschränktheit von Symbolen wusste. Nur – dieses ständige Erklären auf die Gefahr hin, wütend zu werden, das nervige Leute Ansprechen, das unbequeme sich Aussetzen einer Diskussion, deren Ausgang man noch nicht kennt, das langweilige Hinhören, mal Zuhören und die eigenen Argumente daran schärfen, vielleicht sogar mal die Diskussion „verlieren“, weil man sie gerade nicht ganz durchsteigt – all dieses dumme Hippiegeschwätz schaffen sich mittelständisch gelangweilte Ex-Linke ganz gut mit einem Symbol vom Hals. Traurig. Armselig. Keine Hilfe für Juden auf dieser Welt.

Israel ist weder die Wiederkehr des Dritten Reiches, noch das gelobte Land – es ist ein verbitterter Außenseiter in der Geschichte der Nationalstaaten, dessen Bewohner sich nur mit Gewalt und Geschrei ihres nackten Lebens sicher sind.

Lilian

Anmerkung

(1) Die Diskussion zu der Veranstaltung ist zum Zeitpunkt dieses Leserbriefes noch nicht abgeschlossen.


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last modified: 20.5.2008