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Antifa-Debatte Pt. 5.


1.

Die linken Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren fest in einem bestimmten Milieu verankert. Wer in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Berliner Wedding, am Hamburger Hafen oder im hallischen Glauchaviertel aufwuchs, konnte in der Regel auf eine linke Großmutter, kommunistische oder sozialdemokratische Eltern und eine langjährige Karriere in einer der diversen Vorfeldorganisationen der Arbeiterparteien – „Naturfreundejugend“, „Falken“, KJVD usw. – verweisen. Wer es sich mit seinen Eltern und den Nachbarn verderben wollte, wurde später Sozialdemokrat statt Kommunist, trat der KPD statt der SPD bei oder besorgte sich als Affront gegen beide die Schriften Otto Rühles. (Spätestens seit Ende der zwanziger Jahre wurde in den entsprechenden Milieus auch die NSDAP attraktiv. Aber das ist eine andere Geschichte).

2.

Im Unterschied zum goldenen Zeitalter der Arbeiterbewegung ist die Linke inzwischen eine Jugendbewegung; das Milieu oder die Klasse hat sich in eine Szene verwandelt. Wer früher noch gute Chancen auf einen Funktionärsposten im kommunistischen Jugendverband gehabt hätte, gilt hier inzwischen als Kuriosum und sorgt mit seinen Geschichten über die erste Wurzen-Demo vor allem für Spott.
Als sich der Verfassungsschutz noch ernsthaft – soll heißen: nicht 1. Mai-Plakat, 38.2k allein aus Traditionalismus heraus – für die Linke interessierte, errechneten seine Mitarbeiter, dass das durchschnittliche Ausstiegsalter aus der linken Szene 28 Jahre beträgt. Tatsächlich fängt spätestens hier der Ernst des Lebens an. In diesem Alter bereitet sich die durchschnittliche deutsche Frau nicht nur geistig-moralisch auf ihr erstes Kind vor. Auch die eigenen Erzeuger können so kurz vor dem 30. Geburtstag ihres Nachwuchses nur noch schwer davon überzeugt werden, dass ihre monatlichen Überweisungen Investitionen in die Zukunft sind. In dieser Zeit beginnt auch für die Letzten der Einstieg ins Berufsleben, der durch Zivildienst, das so genannte Orientierungsjahr, Studium und Bafög noch hinausgezögert werden konnte.
Wer seinen Lebensunterhalt nun, wie bei vielen Jungakademikern üblich, mit zwei schlecht bezahlten Jobs bestreiten muss, sich mehr als acht Stunden pro Tag das unerträgliche Geplapper seiner minderbemittelten Kollegen anhören darf und danach noch sein Kind aus den Klauen boshaft-griesgrämiger Kindergärtnerinnen zu befreien hat, kann in der Regel keine große Begeisterung für die nervtötende Langeweile aufbringen, die linke Gruppentreffen regelmäßig zu bieten haben.

3.

Noch weitaus schwieriger als das Zeit- und Lustmanagement gestalten sich die Versuche, zwischen Arbeit und Politengagement zu vermitteln. Mediziner, Biologen oder Geographen haben es noch relativ einfach: Sie können Beruf und politisches Engagement ohne größere Schwierigkeiten miteinander arrangieren. Wer vormittags einen Blinddarm entfernt, gerät damit in der Regel nicht in Konflikt mit seinem nachmittäglichen Engagement als Revolutionär. Für Politikwissenschaftler, Soziologen oder Philosophen ist es da schwieriger. Weil sie nichts anderes gelernt haben und man sie anderswo nicht braucht, sind sie in der Regel auf der Jagd nach einem Job im akademischen Betrieb. Das Problem: Die Professoren Adorno, Horkheimer und Agnoli, an deren Schriften sich zumindest in den neunziger Jahren viele linke Soziologie- und Philosophiestudenten politisiert haben, sind tot; ihre Kollegen Claussen, Wippermann und Türcke brauchen keine 200, sondern allenfalls zwei Assistenten. Bleiben die Professoren Müller, Meier und Rode. Von denen hat zwar noch nie jemand etwas gehört; aber jeder weiß, dass sie durch und durch staatstragend sind. Hier müssen Geisteswissenschaftler das tun, wofür sie da sind: Ideologie produzieren. Sie müssen Studenten wider besseres Wissen von den Vorzügen des Positivismus erzählen, untersuchen, wie Adminstrationen effektiver gestaltet werden können, oder sterbenslangweilige Vergleiche zwischen den politischen Institutionen der Bundesrepublik und Spaniens anstellen. Das ist grundsätzlich kein großes Problem – immerhin muss jeder von irgendetwas leben. Das Dumme ist nur: Auch die Professoren Müller, Meier und Rode brauchen keine 200, sondern maximal zwei Assistenten. Soll heißen: Wer nur ein funktionales Verhältnis zum universitären Betrieb hat, wer also nicht glaubhaft versichern kann, dass er SPSS, die Systemtheorie, die Gender Studies oder das politische System der Bundesrepublik für Gottesgeschenke an die Menschheit hält, hat bei der Balgerei um die wenigen Stellen und Stipendien schlechte Karten. Wer es dennoch schafft, ist mit einem weiteren Problem konfrontiert: dem eigenen Bedürfnis nach Kontingenz oder besser: Identität. Nur die Wenigsten halten es aus, die schlechte Realität, die sie abends im Lesekreis kritisieren, nicht nur, wie als Maurer, Metzger oder Textilfabrikant zu bestätigen, sondern sie als Ideologieproduzent zu verdoppeln. (In der Regel schaffen es vor allem diejenigen, die auch bei der Jugendantifa nie den lautesten Brüllaffen gegeben haben.) Ein Teil der Jungakademiker mit Politvergangenheit zieht sich demzufolge ins Privatleben zurück und verwandelt sich in die frühvergreisten Zyniker, denen man überall im Universitäts- und Medienbetrieb begegnen kann. Der Rest übt sich in vorauseilendem Gehorsam. Das Bedürfnis nach Identität zwischen Person und Handlung nötigt sie dazu, ihr besseres Wissen von einst zu vergessen. Die – oft erst angestrebte – Arbeit in der Akademie, im Kulturbetrieb oder einer der staatlichen Vorfeldorganisationen („Civitas“, „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ usw.) wird dementsprechend nicht mehr als leider notwendige Form der physischen Reproduktion präsentiert. (Man hat halt nichts anderes gelernt und will vom Amt nicht irgendwann als Müllsammler eingesetzt werden.) Sie wird vielmehr als Mittel der Selbstverwirklichung, als authentischer Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und der Suche nach Erkenntnis ausgegeben.

4.

Da dieser Abschied von der Kritik dem Drang des Individuums nach Kontingenz geschuldet ist, darf er sich selbstverständlich nicht innerhalb einer Woche vollziehen. Sonst würde der Eindruck von Opportunismus entstehen – und das mag der im schlechten Hier und Jetzt nach Einheit strebende Jungakademiker nun gar nicht. Der Übergang vom Revolutionär zum Universitär muss dementsprechend als Resultat eines langwierigen Reflexionsprozesses, eines tiefen Hineinhorchens in sich selbst präsentiert werden. Insbesondere in der Orientierungsphase ist es dementsprechend nötig, die eigenen Positionen als konsequente Fortführung des bisherigen Kurses auszugeben. Nicht man selbst ist sich untreu geworden, sondern die Partei, die Bewegung oder die Szene haben die Sache verraten, sind stagniert oder bieten keinen Erkenntnisgewinn mehr. In der ersten Projektskizze der Dissertation tauchen Marx und Adorno dementsprechend noch auf, in der Endfassung werden sie oft schon durch den Namen Habermas ersetzt. Auch die ersten öffentlichen Bewerbungsschreiben an den Wissenschafts-, Medien- oder Kulturbetrieb, die aufgrund der Versuche, Adorno mit Popper und Marx mit der „Bundeszentrale für politische Bildung“ zu vermitteln, recht ungelenk daherkommen, werden noch in Szenepublikationen veröffentlicht; die professionalisierte Variante erscheint entweder in einer der einschlägigen Fachzeitschriften oder sie findet aufgrund des Überangebots reuiger Ex-Kommunisten keinen Abnehmer mehr.

5.

Der organisatorische Rahmen, in dem sich die Transformation von der Kritik der Verhältnisse zum staatstragenden Verantwortungsbewusstsein vollzieht, ist mal ein Kongress wie die „Sozialistische Konferenz“, die den Übergang vom linken Radikalismus der siebziger Jahre zu den „Grünen“ markiert, mal die Antifa-Recherchegruppe, die in einen „Civitas“-Verein überführt wird, und in jüngster Zeit immer häufiger der Theoriekreis, in dem diejenigen, die auf eine Stelle im akademischen Betrieb hoffen, schon einmal ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen können. Die Tickets sind weitgehend austauschbar; sie sind in der Regel nur den jeweiligen Konjunkturen der Bewegungen geschuldet: In den späten siebziger Jahren waren es Ökologie und Esoterik, später wurde es der Parlamentarismus, und heute ist es der Liberalismus. Morgen wird es vermutlich die israelsolidarische Politikberatung sein, die sich derzeit bereits mit einer Reihe von Kongressen ankündigt.

6.

Das alles scheint der Kontext zu sein, in dem ein ehemaliger Redakteur des Conne-Island-Newsflyers zu der bahnbrechenden Erkenntnis gelangt ist, dass selbst die radikalsten Gesellschaftskritiker „ins System verstrickt“ sind. Das Dumme ist nur: Entsprechende Postulate wurden nicht einmal von den Autonomen, die er in seinem Beitrag zur Antifadebatte als Kronzeugen aufführt, bestritten. Im Gegenteil: Die Aussage, dass alle doch irgendwie am „System“ partizipieren würden, war eine allseits akzeptierte Szenebanalität; die Forderung, das „autonome Ghetto“ doch endlich zu verlassen, gehörte zur autonomen Szene wie Hassmaske und Lederjacke. Sie ist nicht nur genauso alt wie die Szene selbst; sie ist zugleich einer der Gründe dafür, warum sich in autonomen Therapieblättern in der Regel keine Kritik des Antisemitismus und Rassismus findet – hierzu glaubte man sich aufgrund persönlicher ‚Verstrickungen` nicht berechtigt –, sondern nur das permanente Lamento über „eigene Rassismen“ und „Antisemitismen“.
Wer auftrumpfend erklärt, dass doch alle irgendwie „verstrickt“ seien, will jedoch keine Banalität zum Besten geben. Er will auf etwas anderes hinaus: Aus der Tatsache, dass auch radikale Gesellschaftskritiker am deutschen „Gemeinwesen partizipieren“, dass die Mehrheit der Linken in Deutschland also vom Besitz ihres deutschen Passes profitiert, soll eine Verpflichtung gemacht werden. Und zwar für die Instanz, die diesen Pass ausstellt. Nur so ist die Aufforderung an das Debattengespenst Antifa zu verstehen, sich doch endlich zu seiner „zivilgesellschaftlichen Funktion“ zu bekennen und diese „geschickt in Szene zu setzen“. Die Empörung darüber, dass die Kritiker des Appeasements gegenüber den ostdeutschen Zuständen „unter gar keinen Umständen“ am „Gemeinwesen [...] teilnehmen“ wollen, läuft ex negativo auf die Forderung hinaus, Verantwortung fürs große Ganze zu übernehmen.

7.

Auch wenn die neuen Parteigänger der Zivilgesellschaft der Antifa inzwischen aus der Position des unbeteiligten Beobachters Ratschläge geben, sind sie der antifaschistischen Gemeinde näher als sie zugestehen würden: Mit der Forderung, die Antifa solle sich endlich zu ihrer „zivilgesellschaftlichen Funktion“ bekennen, affirmieren sie eine Entwicklung, die ohnehin auf der Tagesordnung steht. Wenn die Antifa der Heldenstadt im letzten Jahr am „Tag der deutschen Einheit“ gemeinsam mit den „Jusos“, der PDS-Jugend und Gewerkschaftsfahnen durch die örtliche Einkaufszone trottet, um gegen einen „Naziladen“ zu demonstrieren, und dabei von Deutschland schweigt, ist sie, wie eines ihrer Konkurrenzunternehmen aus dem benachbarten Halle kurz darauf im Conne-Island-Newsflyer erklärte, objektiv gesehen nicht viel mehr als der immer wieder beschworene militante Arm der Zivilgesellschaft.
Der zentrale Unterschied zwischen den neuen Freunden des deutschen Gemeinwesens und der Antifa dürfte darin bestehen, dass bei der Antifa noch ein Widerspruch zwischen Anspruch und Realität zu existieren scheint. In Realitas ist sie – und das hat Andreas Reschke trotz einiger Ungereimtheiten in seinem Text gezeigt – zur staatstragenden Veranstaltung geworden. Wenn Leipziger Antifaschisten ihrer jüngsten Demonstration das Motto „Das Problem ist Deutschland“ verpassen und auch den Genossinnen vom „Antifaschistischen Frauenblock“ in ihrer Rede zum 3. Oktober 2007 am Ende doch noch einfällt, dass das Leben hierzulande auch ohne „Naziläden“ oft nicht sonderlich schön ist, dann kann das bei einigem Wohlwollen jedoch als Signal gewertet werden, dass die Antifa noch nicht vollständig in ihrer staatstragenden Praxis aufgeht. Aus solchen Widersprüchen zog Ideologiekritik einmal ihre Berechtigung. Durch Verweise auf den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität sollte zur Überwindung der schlechten Realität beigetragen werden.
Die neuen Verantwortungsträger betreiben hingegen so etwas wie umgekehrte Ideologiekritik. Auch ihnen ist zwar an einer Versöhnung von Anspruch und Realität gelegen. Allerdings in negativer Hinsicht. Im Jargon der Zweiten Internationale: Die Antifa soll auch „für sich“ werden, was sie „an sich“ schon ist – staatstragend. Das Resultat dieser negativen Versöhnung wäre der endgültige Abschied von Kritik. Vor diesem Hintergrund ist es nur logisch, wenn Andreas Reschke im Rahmen der Antifadebatte vorgeworfen wird, dass er die „dritte Position“ jenseits von Volksgemeinschaft und Zivilgesellschaft, vulgo: „Dorfracket“ und „Staatsantifaschismus“, gewahrt wissen wolle. Denn tatsächlich wird diese „dritte Position“ nicht, wie im November im Conne-Island-Newsflyer behauptet, „gemeinhin als linksautonom“ bezeichnet; sie ist vielmehr unter der Chiffre „Kommunismus“ oder, etwas weniger auftrumpfend, des „ganz Anderen“ (Horkheimer) bekannt. Die Fähigkeit, diese Position des „ganz Anderen“ einzunehmen, ist sowohl die Voraussetzung für Kritik als auch für eine Parteinahme, die ihre eigenen Grenzen reflektiert. Kritik, die diesen Namen verdient, kann stets nur vom gedanklich (wie sonst?) antizipierten Zustand des Besseren geübt werden. Gerhard Stapelfeld: Erkenntnis – und der ist Kritik bekanntlich verpflichtet –, „die sich allein auf dem Boden des Gegenwärtigen bewegte, wäre in diesem gefangen, sie entzöge sich dem Begreifen“. Wer von der „dritten Position“ nichts mehr wissen will, betreibt dementsprechend keine Kritik, sondern macht einen Verbesserungsvorschlag. Von der Kritik bleibt lediglich, wie in einem Beitrag zur Antifadebatte vom November 2007 nachgelesen werden kann, die Forderung, mal „ein Auge drauf“ zu haben: ob der Staat vielleicht Dinge tut, die nicht ganz so dufte sind, ob die Mitbewohner ihren Müll trennen – oder ob das Teewasser im Vorzimmer der Professoren Müller, Meier und Rode überläuft.

Jan Gerber


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last modified: 22.4.2008