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Warum man nicht „totalitär“ sagen soll


Die Totalitarismustheorie und ihre kleine Schwester, die Extremismustheorie, laufen einem heutzutage nahezu dauernd über den Weg. Sie sind in der politischen Öffentlichkeit nicht nur präsent, sondern dominant. Mit ihnen werden alle historischen und gegenwärtigen politischen Phänomene erklärt, die bei drei nicht auf den Bäumen sind. Das könnte man einfach ignorieren, allerdings würde man die damit verbundenen Gefahren unterschätzen. Was es mit diesen Theorien auf sich hat, woher sie kommen und was an ihnen problematisch ist, versucht dieser Text zusammenzufassen.

Zunächst: Es gibt nicht „DIE“ Totalitarismustheorie. Vielmehr wurden seit den 30er Jahren von den verschiedensten Leuten die verschiedensten Phänomene als totalitär identifiziert. Allerdings gibt es einige AutorInnen, auf die sich die meisten AnhängerInnen dieser Theorie auch heute noch offen oder versteckt beziehen. Besonders wichtig sind dabei die Namen Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich.

Arendt veröffentlichte 1951 ihr umfangreiches Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das bis heute regelmäßige Neuauflagen erlebt.(1) Die 1000 Seiten des Buches teilen sich in drei Teile: Am Anfang steht ihre historische Analyse der Entstehung des Antisemitismus und des Mobs als Quellen totaler Herrschaft. Im zweiten Teil folgt die wirklich lesenwerte Beschreibung des imperialistischen Zeitalters, seiner kapitalistischen Struktur, seiner Zerstörung von Nationalstaat und Menschenrechts-Idee, seiner Etablierung von Rassismus, Bürokratie und völkischen Bewegungen. Erst im dritten Teil geht sie auf die totale Herrschaft ein. Dabei lässt sie keinen Zweifel daran, dass die totalitäre Herrschaft nur im Ergebnis des Kapitalismus entstehen konnte. Es seien die „Massen gleichgeschalteter Spießer“, ein Produkt der Bourgeoisie, die erst zu den unfassbaren Verbrechen fähig seien, die 1. Mai-Plakat, 16.0k das 20.Jahrhundert gesehen hat. In ihren historischen Beispielen bezieht sie sich ausdrücklich auf den Nationalsozialismus und den Stalinismus, legt aber Wert darauf, den Begriff sparsam zu gebrauchen: Weder die Einparteiendikaturen im Ostblock noch die Sowjetunion vor und nach Stalin waren ihrer Ansicht nach „totalitär“. Selbst während des Weltkriegs, also zwischen 1941 und ‘45, weise die SU nicht mehr die Merkmale dieser Herrschaftsform auf.

„Totalitäre“ Bewegungen und Herrschaft basieren nach Arendt auf den im Kapitalismus entstandenen politisch indifferenten, apathischen Massen, die der Zusammenbruch der Klassengesellschaft hinterlassen habe. Neue Methoden würden angewandt: Morden statt widerlegen, terrorisieren statt überzeugen. Unter totalitärer Herrschaft gebe es keinen Spielraum politischen Handelns mehr, alle Menschen würden im Handeln zu einem einzigen Menschen zusammengepresst. Terror sei das Wesen der totalitären Herrschaft. Sie folge dabei einem vermeintlich übermenschlichen Prinzip wie dem „Gesetz der Natur“ bzw. „Rasse“ oder dem „Gesetz der Geschichte“. Ziel dieser Herrschaft sei es, die „natürliche“ Bewegung dieser „Gesetze“ um jeden Preis zu beschleunigen und alle, die ihnen im Weg stehen, zu beseitigen. Prinzip totalitärer Herrschaft sei dagegen die deduktionistische Logik der Ideologie: „Wer A sagt, muss auch B sagen“ bzw. Hitlers „Eiseskälte der Logik“, der sich alles Handeln zu unterwerfen habe. Die totalitäre Herrschaft erkläre die Eigenschaft des entwickelten Kapitalismus, Menschen überflüssig zu machen, zu ihrer Handlungsmaxime und gehe daran, die für überflüssig deklarierten Menschen dann auch im physischen Sinne zu vernichten.

Durch das ganze Werk zieht sich ein antiliberaler, antikapitalistischer und antibürgerlicher Grundton, der verständlich macht, warum Arendt von all den konservativen und radikal rechten Totalitarismustheoretikern zwar stets als Label in Anspruch genommen wird, sie sich aus Arendts zentralen Thesen jedoch nur einige wenige, scheinbar passende herauspicken. So hat die sächsische CDU ein „Institut für Totalitarismusforschung“ unter Arendts Namen einrichten lassen, das sich nur marginal mit deren Werk beschäftigt und sich in seiner weitgehend politisch motivierten Arbeit auch kaum an ihren Thesen orientiert. Andererseits ist es auch schwer möglich, Arendt marxistisch zu vereinnahmen (wozu auch?). Denn zum einen leugnet sie Marx als Quelle mehrfach(2), zum anderen schätzt sie die Ökonomie in ihrer Analyse eher gering.

Aber auch abgesehen von den Vereinnahmungsversuchen bleibt einiges an Arendts Ansatz problematisch. Zunächst kann man schwerlich sagen, dass sie eine kohärente Theorie des Totalitarismus geschrieben hätte. Zu widersprüchlich ist allein ihr Hauptwerk zu diesem Thema: So bezieht sich die Beschreibung der „Ursprünge“ des Totalitarismus – Antisemitismus und Imperialismus – vor allem auf die Entstehung des NS aus der Entwicklung der westlichen Welt. Erst im dritten Teil kommt sie auf den Stalinismus zu sprechen, und die dann konstruierten theoretischen Brücken, auch diesen an die ersten beiden Teile anzuknüpfen, tragen nicht. Problematisch ist darüber hinaus auch die Gleichsetzung der Ideologien von NS und Stalinismus und die Ineinssetzung der Lagersysteme. Die deutschen Vernichtungslager waren nun einmal keine Labore der Überflüssigkeit, sondern Todesfabriken. Dennoch: Wichtig an Arendts Werk war die Feststellung, dass mit dem NS (und dem Stalinismus) bisher unbekannte und in ihrer Konsequenz katastrophale Formen der Herrschaft aus der liberalen, kapitalistischen Moderne heraus entstanden waren. Daraus zieht sie die richtige Schlussfolgerung, dass es kein Zurück zum Vorher geben könne, keinen Bezug auf die alten, konservativen, religiösen oder liberalen Werte. Es geht ihr (sympathischerweise) auch nicht darum, eine absolute Wahrheit der Analyse für sich zu reklamieren, sondern um die Forderung, endlich auf die Suche nach neuen Politikmodellen zu gehen.(3)

Ganz anders sieht es da bei Carl Joachim Friedrich aus. Sein zusammen mit Zbigniew Brzezinski ebenfalls in den fünfziger Jahren veröffentlichtes Modell des Totalitarismus ist nach wie vor das am weitesten verbreitete.(4) Friedrich geht davon aus, dass Faschismus und Kommunismus „basically alike“ bzw. „wesensgleich“ wären. Er wendet sich dabei gegen die Herleitung aus den Ideologien und auch gegen den Gedanken, dass totale Kontrolle ein totalitäres Regime ausmache. Für ihn sind mit solchen Regimen vor allem die „Volksdemokratien“ des Ostblocks gemeint. Diese sowie die SU und der NS wären eine völlig neue Regierungsform, die sich von älteren Autokratien deutlich unterscheide. Zwar gesteht er Unterschiede zwischen Faschismus und Kommunismus bei den verfolgten Zielen und den historischen Voraussetzungen ein, es sei jedoch die Gleichheit in Organisationsforum und Verfahrensweise, die aus beiden eine gemeinsame, neue Klasse von Herrschaftsformen mache. Für Friedrich weist Totalitarismus sechs grundlegende Merkmale auf: Einparteienherrschaft unter einem Führer, sich gegen „feindliche“ Rassen oder Klassen richtende Ideologie mit Alleingültigkeitsanspruch, terroristische Polizei, Monopol der Kommunikationsmittel, Waffenmonopol und zentral gelenkte Wirtschaft. Diese Bereiche würden sich gegenseitig stützen und stünden in einem organischen Verhältnis. Eine weitere Gemeinsamkeit wäre die Herstellung einer klassenlosen Gesellschaft sozialistischer Tradition.

Die Hauptkritik an Friedrichs Modell besteht darin, er habe eine idealtypische Beschreibung vorgelegt, die sich über widersprechende Fakten aus der Empirie hinwegsetzen müsse. Außerdem sei es zu statisch, könne also mit Veränderungen in den „totalitären Regimen“ nicht umgehen, die einzelnen Merkmale würden nicht oder nur schlecht mit Fakten belegt und auch die Gleichsetzung von faschistischen und kommunistischen Autokratien sei schlecht begründet.(5) Noch viel interessanter wird es allerdings, wenn man Friedrichs Thesen im Kontext seines Gesamtwerks ansieht. Für ihn ging es nämlich bei der Beschreibung des Totalitarismus vor allem um die Konstruktion eines Gegenmodells ex negativo – um die Definition einer schlechten im Gegensatz zur guten Diktatur. Bereits in der Diskussion um die Weimarer Reichsverfassung war er sich mit Carl Schmitt einig, dass das Problem nicht in einem Zuviel an Diktatur liege, sondern in einem Zuviel an Demokratie. Insofern begrüßten beide die „konstitutionelle Diktatur“ des Reichspräsidenten, der in bestimmten Situationen auch einmal ohne das langwierige Diskutieren im Parlament entscheiden können müsse. Friedrich hat also erstmal überhaupt keine negative Einstellung zur Diktatur, sie müsse nur verfassungsmäßig sein, d.h. an der Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung bzw. der bestehenden Gesellschaftsstruktur ausgerichtet. Selbst Mussolini, Hitler und Stalin sah er bis 1942 noch als solche notwendigen und legitimen Diktatoren an. Und als einer der Väter der bundesdeutschen Politikwissenschaft war ihm damit auch um die Legitimität der Besatzungsherrschaft zu tun. Die schlechte, totalitäre Diktatur beginnt bei Friedrich genau dann, wenn der grundsätzliche Aufbau der Gesellschaft, ihre „Lebensform“, zerstört und neu aufgebaut werden solle. Das sei der Schöpfung lästerlich, weil ein neuer Mensch geschaffen werden solle.(6) Damit sind bereits bei Friedrich die drei zentralen Elemente der meisten Totalitarismustheorien angelegt: christliche Religiosität, Bezug auf den Verfassungsstaat und strikt antirevolutionäres Festhalten am Bestehenden.

In den 60er Jahren wurde in der Westberliner Politikwissenschaft versucht, diese Theorie empirisch zu untermauern.(7) Dabei zeigte sich aber, dass die bis dahin postulierten Modelle an der wissenschaftlich vorfindbaren Realität scheiterten, weshalb der Totalitarismusansatz auch dort weitgehend verworfen wurde. Einige hielten jedoch weiter daran fest, wie Karl-Dietrich Bracher,(8) der ihn gegen Faschismustheorien in Anschlag brachte, und andere versuchten, Anpassungen vorzunehmen, wie Martin Draht, der glaubte die Theorie retten zu können, indem er zwischen Primär- und Sekundärphänomenen unterschied. Demnach könne man ein „totalitäres“ System an seinem primären Prinzip erkennen, dass es ein „völlig neues gesellschaftliches Wertungssystem“ etablieren wolle. Wenn dann sekundäre Phänomene wie Terror einmal nicht nachzuweisen sind – egal, es bleibe wegen des revolutionären Anspruchs totalitär. Nicht nur wegen solcher argumentativen Esakapaden, sondern weil es niemandem gelang, eine schlüssige Totalitarismustheorie vorzulegen, verlor der Ansatz spätestens Ende der 60er in der Wissenschaft jede Reputation. Außerdem war klargeworden, wie eng die Theorie mit aktuellen politischen Interessen verbunden war. Wer immer sie vertrat, verband damit in den meisten Fällen die Absicht, ganz bestimmte Werte zu etablieren oder politische Strukturen (in der Regel den parteiendemokratischen Verfassungsstaat) zu legitimieren. In der frühen Bundesrepublik war die Totalitarismustheorie eine Art antikommunistischer Grundkonsens. Ihren Gipfel fand diese Blütezeit in einem Beschluss der westdeutschen Kultusministerkonferenz, die Doktrin verpflichtend in allen Lehrplänen zu verankern.

Nachdem die Totalitarismustheorien in den 70ern weitgehend von der Bildfläche verschwunden war, gab es in der BRD spätestens mit Beginn der Kohl-Ära 1982 einen langsamen Wiederaufschwung. Ein erster Höhepunkt war der von Ernst Nolte ausgelöste „Historikerstreit“ im Jahr 1986 – er vertrat die These, der NS sei mit dem Bolschewismus nicht nur gleichzusetzen, sondern sogar nur eine Reaktion auf diesen gewesen. So richtig in Schwung kamen die VertreterInnen des Ansatzes aber mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90. Das lag vor allem daran, dass sich die AntikommunistInnen ganz Europas endlich historisch im Sieg sahen,(9) aber auch daran, dass viele Intellektuelle in den ex-sozialistischen Ländern in der Totalitarismustheorie eine adäquate Beschreibung ihrer Diktaturen sahen und im gleichen Moment Hannah Arendts Freiheitsbegriff hohes Ansehen genoss.

Für Deutschland bedeutete das einen erneuten Durchbruch der Totalitarismusdoktrin im öffentlichen Diskurs. Die langjährigen Verfechter frohlockten, der „antitotalitäre Grundkonsens“ der Bundesrepublik werde nun wieder hergestellt, und die Theoretiker freuten sich an der „Renaissance“(10) und dem „Stillen Sieg eines Begriffes“.(11) Diese „Renaissance“ fand aber vor allem auf der politisch-öffentlichen und institutionellen Ebene statt. So wurde vom sächsischen Landtag das Dresdner „Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung“ gegründet, von Eckhard Jesse und Uwe Backes mit der Herausgabe des „Jahrbuchs Extremismus und Demokratie“ begonnen (mit Unterstützung des Bundesamts für Verfassungsschutz) oder in Sachsen das Gedenkstättengesetz dermaßen auf Gleichsetzung von NS und DDR getrimmt, dass sich die Verbände der KZ-Überlebenden und der Zentralrat der Juden gezwungen sahen, sich aus den Gremien zurückzuziehen (bis heute). Das doktrinäre Gerede von den „beiden deutschen Diktaturen“, der „doppelten Erfahrung von Gewaltherrschaft“ oder „den Totalitarismen des 20.Jahrhunderts“ zieht sich durch Gedenkreden, Zeitgeschichts-Museen und Schulbücher, in Sachsen auch durch die Präambel der Landesverfassung.

Theoretisch hat sich dabei nicht viel getan. Der in Chemnitz mit einer Professur versorgte Politologe Eckhard Jesse zum Beispiel kann zwar als eine der prominentesten Figuren der Totalitarismus-Szene gelten, hat aber auch nichts inhaltlich Neues beigetragen. Die Veröffentlichungen des „Parteienforschers“, der auch schon mit radikalen Rechten zusammengearbeitet hat, sind dennoch zahlreich. Sie drehen sich vor allem um die immer neue Durchdeklinierung politischer Phänomene mit Hilfe der Mainstreamvariante der Totalitarismustheorie. Deren Kern ist derselbe geblieben: Es geht vor allem um eine Selbstvergewisserung als verfassungstreue Demokraten, um die Legitimierung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen (also christlicher Verfassungsstaat und Kapitalismus), um die Delegitimierung der ehemaligen Ostblockstaaten und aller sozialistischen und kommunistischen Ideen.

Es gab und gibt allerdings auch Linke, die dem Totalitarismusbegriff etwas abgewinnen konnten. Herbert Marcuse etwa beschrieb die die Menschen zurichtenden Strukturen der kapitalistischen Warengesellschaft als totalitäre.(12) Und zuletzt plädierte Wolfgang Kraushaar für eine Aneignung der Totalitarismustheorie.(13)

Doch die Probleme, die den Begriff von Anfang an begleiteten, sind auch heute noch nicht vom Tisch:

1) Die Theorie wurde von anfang an politisch instrumentalisiert. Schon in den 30/40er Jahren war ihre Konjunktur an außenpolitische Trends gebunden: während der Anti-Hitler-Koalition beispielsweise redete vorübergehend kaum noch jemand vom Totalitarismus. Und die spätere Indienstnahme durch die westlichen Staaten und besonders durch die BRD wurde weiter oben erwähnt. Bereits dadurch ist der Begriff hochgradig vorbelastet und eigentlich kaum noch neutral oder wissenschaftlich brauchbar.

2) Seine Normativität zieht sich ebenfalls durch die ganze Begriffsgeschichte: beinahe alle VertreterInnen einer Totalitarismustheorie (tw. auch Hannah Arendt) nutzten sie vor allem als Negativfolie zur normativen Beschreibung eines positiv gewerteten Gegenbilds.

3) Obwohl die VertreterInnen der Theorie oft für sich in Anspruch nehmen, doch nur den wissenschaftlichen Vergleich anzuwenden: Vergleiche von modernen Diktaturen kann man auch ohne den Totalitarismusansatz vornehmen und die dabei offen bleibenden Fragen hat auch er nicht belegbar beantworten können (Was ist das Spezifische an modernen Diktaturen? Worin bestehen Gemeinsamkeiten und wo fördert der Vergleich Singularitäten zutage?). Alle ernsthaften Vergleiche von NS und Stalinismus jedenfalls kommen zu dem Schluß, dass die Unterschiede überwiegen und jede Diktatur nur in ihrer Eigenheit sinnvoll analysierbar ist.(14) Eine wissenschaftlich belastbare „Theorie totalitärer Regime“ hat es bisher noch nicht gegeben und ist wohl auch nicht möglich.

4) Alle bisherigen Versuche in dieser Richtung sind voller Widersprüche: Wieso wurden die sozialistischen Regime anhand ihrer Ideologie als totalitäre gekennzeichnet, wenn es doch angeblich nur um die Herrschaftsform an sich geht? Warum kamen keine anderen Diktaturen in den Blickwinkel der totalitarismustheoretischen Analyse, wie die in Spanien oder Lateinamerika? Wieso konnte der „totalitäre“ Ostblock so lange bestehen, obwohl doch der Totalitarismus selbstzerstörerisch sei? Sind „totalitäre“ Regime nun Feinde der Demokratie oder ihre konsequente Anwendung? Der grundlegende Widerspruch der meisten Texte über Totalitarismus besteht jedoch darin, dass sie zur Begründung auf sich selbst verweisen: Im immergleichen Zirkelschluss werden konkrete Regime zuerst als totalitäre gekennzeichnet, um an ihnen im Anschluss die Merkmale totalitärer Regime zu analysieren. Die Prämisse wird so ganz einfach zum Ergebnis.

Dass Hannah Arendts Anstöße zur politischen Theorie dadurch nichts an Bedeutung einbüßen, wurde bereits gesagt. Immerhin hat sie auch inhaltlich nicht viel gemeinsam mit dem von Friedrich, Draht, Jesse und Backes vertretenen Totalitarismusansatz. Aber was bleibt noch Brauchbares an Totalitarismustheorien? Sie waren sicherlich ein für ihre Zeit wichtiger Versuch, neue Formen der Diktatur, die sich von den bis dahin bekannten in ihrer Struktur und ihren zerstörerischen Folgen unterschieden, verstehen und einordnen zu wollen. Unter dem Label „totalitär“ kann dieser Versuch aus den oben genannten Gründen als gescheitert angesehen werden. Und interessant ist auch die Analyse eines „totalen“ Zugriffs der Herrschaft auf die Menschen – nur ist fraglich, ob das wirklich eine spezifisch moderne Methode ist, geschweige denn, ob das nicht auch in den sich selbst als demokratisch verstehenden Gesellschaften der Fall sein kann. Kurz: Totalitarismustheorien der Gegenwart sind wissenschaftlich unbrauchbare Ansätze, die nach wie vor fast ausschließlich von politischen AkteurInnen genutzt werden, um den Status quo zu legitimieren und dem Antikommunismus zu frönen.

Aber zurück zum Anfang: Wieso soll die Totalitarismustheorie eine kleine Schwester namens Extremismustheorie mit sich herumtragen? Ein äußerer Zusammenhang der beiden zeigte sich ja bereits darin, dass die Totalitarismustheorie-Fans Jesse und Backes mit Hilfe des Verfassungssschutzes ein „Jahrbuch Extremismus & Demokratie“ herausgeben. Der innere Zusammenhang ist ebenso offensichtlich: Da, wo die Totalitarismustheorien die Gleichartigkeit faschistischer und kommunistischer Bewegungen und Regime in der Geschichte behaupten, konstruiert die Extremismustheorie das Schreckbild der verfassungsfeindlichen rechten und linken Ränder der Gesellschaft, die die demokratische gesellschaftliche „Mitte“ aufreiben würden. Als historisches Beispiel muss dafür immer wieder die Weimarer Republik zwischen Erstem Weltkrieg und NS herhalten. Unter Ausblendung wesentlicher historischer Fakten wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der die verfassungstreue „demokratische Mitte“ sich linken (kommunistischen) und rechten (nationalsozialistischen) „Extremisten“ gegenüber gesehen hätte. Als diese „Extremisten“ immer stärker geworden seien, hätten sie damit die „Mitte“ zwischen sich zerrieben, die Demokratie hätte keinen Rückhalt mehr gehabt, und Hitler wäre an die Macht gekommen, bums aus. Soweit das Märchen. Verleugnet wird in dieser Erzählung, dass es erstens keine stabile Mehrheit in Deutschland gab, die die Weimarer Demokratie wirklich gut gefunden hätte, zweitens es genau jene Kräfte waren, die die Extremismustheoretie-Fans gern der „Mitte“ zurechnen, die Schritt für Schritt (und ganz verfassungsgemäß) diktatorische Strukturen aufbauten (Ausweitung der Präsidialherrschaft, Abschaffung von Bürgerrechten) und schließlich die Kanzlerschaft ganz legal an Herrn Schickelgruber und seine nationale Bewegung überreichten.

Schon an diesem Beispiel macht die These von den Extremisten also wenig Sinn. Genauso gilt das für die Nachkriegszeit und die Gegenwart. Ganz im Einklang mit dem Totalitarismusansatz gelten die Nazis und die Kommunisten und alle die für solche gehalten werden als die Feinde der Demokratie. Die „Mitte“ der Gesellschaft sei dagegen frei von jedem demokratiefeindlichem Ansinnen. Diese „Mitte“ gilt nun aber als permanent gefährdet durch die „extremistischen“ Ränder links und rechts. Also ist erstmal alles, was diese „Mitte“ tut, per se gut – auch wenn sie sich rassistisch oder antisemitisch äußert. Das Problem liegt aber noch tiefer, nämlich bereits in der Konstruktion dieser „Mitte“. Dahinter steckt der alte Wahn einer Volksgemeinschaft, die homogenen Interessen zu folgen habe und der eine gesellschaftliche Auseinandersetzung oder gar Streit um Gruppeninteressen ein rechter Graus sei. Zentraler Bezugspunkt der Extremismustheorie ist dabei nur scheinbar die Verfassung. Als „extremistisch“ gelten – und da hat erneut die große Schwester ihre Hand im Spiel – alle diejenigen, welche die „Mitte“ kritisieren oder gar die bestehende Gesellschaft ändern wollen. Wie es schon in einem CDU-Wahlwerbesong aus den 80ern hieß: „System verändern? Danke nein!“ Dass die Nazis dabei auch nur eine homogene, eben „rassisch reine“ Gesellschaft, ohne bösen inneren Streit, wollen, ist da erstmal egal.

Das alles ist Grund genug, sich von beiden Begriffen und den dahinter stehenden Denkmustern gründlich und reflektiert zu distanzieren. Wer die Worte „totalitär“ oder „extremistisch“ zustimmend benutzt, frisst zwar nicht gleich auch kleine Kinder, bejaht aber drei Thesen: 1. Es gibt eine „Mitte der Gesellschaft“. 2. Die ist immer gut. 3. Wer die Gesellschaft ändern will (den Kapitalismus abschaffen / gegen den Rassismus der Mehrheit vorgehen usw.), ist „extremistisch“, weil gegen die „Mitte der Gesellschaft“ und folglich schlecht. Wenn also Antifas oder radikale Linke über „Rechtsextremisten“ oder die „totalitäre SED“ reden, trinken sie vom Kakao, durch den sie selbst gezogen werden.

Lucy Sandberg


Anmerkungen

(1) Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. dt. 1951.

(2) Marti, Urs: Totaler Herrschaftsanspruch und Entpolitisierung. Hannah Arendt und die „kapitalistische Genealogie“ des Totalitarismus. In: Ganzfried, Daniel/Hefti, Sebastian (Hg.): Hannah Arendt – Nach dem Totalitarismus. 1997, S. 68-77.

(3) Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. 1960.

(4) Friedrich, Carl Joachim / Brzezinski, Zbigniew: Totalitarian dictatorship and autocracy. 1956. Nachdruck der wichtigsten Stellen in: Seidel, Bruno / Jenkner, Siegfried (Hg.): Wege der Totalitarismusforschung. 1968. Da sich Brzezinski später teilweise distanzierte und Friedrich die deutsche Version allein veröffentlichte, wird in der Folge nur noch von letzterem die Rede sein.

(5) Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von Anfängen bis heute. 1997.

(6) Lietzmann, Hans J.: Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie. In: Söllner, Alfons / Walkenhaus, Ralf / Wieland, Karin (Hg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. 1997, S. 174-192.

(7) Buchstein, Hubertus: Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung - die Wandlung der Totalitarismuskonzeption in der frühen Berliner Politikforschung. In: Söllner u.a.: (Hg.): Totalitarismus. S. 240-266. Draht, Martin: Totalitarismus in der Volksdemokratie. In: Seidel/Jenkner: Wege der Totalitarismusforschung. S. 310-358. Vgl. auch die Texte von Otto Stammer, Gerhard Schulz und Peter Christian Ludz im selben Band.

(8) Bracher, Karl Dietrich: Die totalitäre Erfahrung. 1987. Ders.: Zeitgeschichtliche Kontroversen: um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie. 1956.

(9) Bspw. Furet, François: Das Ende der Illusion: der Kommunismus im 20. Jahrhundert. 1996.

(10) Backes, Uwe / Jesse, Eckhard: Totalitarismus und Totalitarismusforschung - Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption. In: dies. (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd.4(1992), S. 7-27.

(11) Braun, Jürgen: Stiller Sieg eines Begriffs. In: Das Parlament 11./18.11.1994.

(12) Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 1967.

(13) Kraushaar, Wolfgang: Sich aufs Eis wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie. In: Mittelweg 36, 2/1993, S. 6-29.

(14) Vgl. u.a. Luks, Leonid: Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus – verwandte Gegner? In: Jesse, Eckhard (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. 1996, S. 370-386. Mommsen, Hans: Nationalsozialismus und Stalinismus. Diktaturen im Vergleich. In: Jesse (Hg.): Bilanz, S. 471-481. Diner, Dan: Massenverbrechen im 20.Jahrhundert: über Nationalsozialismus und Stalinismus. In: Steininger, Rolf (Hg.): Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel. 1994, S.468-481.



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last modified: 22.4.2008