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Die beiden folgenden Texte sind im Rahmen einer Diskussion zwischen dem Hallenser Initiativkreis „Materialien zu Aufklärung und Kritik“ und der Leipziger „Gruppe in Gründung“ entstanden. Gegenstand der Diskussion war die Frage, ob wir noch in einer bürgerlichen Gesellschaft leben bzw. wie die heutige Gesellschaft mit den Mitteln kritischer Theorie zu charakterisieren ist. Das nachstehende Thesenpapier des Hallenser Initiativkreises wurde bei einem der Diskussionstreffen vorgetragen und diskutiert. Als Reaktion auf das Thesenpapier entstand der zweite Text, der auf einem Referat basiert, das der Autor ebenfalls in diesem Diskussionskreis gehalten hat. Für eine verständlichere Lektüre empfiehlt es sich, zunächst das Thesenpapier zu lesen. Die Red.

Die schlechte Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft


Thesen zur Diskussion mit der Gruppe in Gründung (Leipzig), Halle Juni 2006, vom Initiativkreis »Materialien zu Aufklärung und Kritik«

1.

Wenn Nazis in Parlamente einziehen, die neueste Kampagne – »Weg mit Deutschland«, »Weg mit Europa«, »Weg mit den Kameras am Connewitzer Kreuz« – mal wieder scheitert oder bei der Demonstration, für deren Vorbereitung die Initiatoren Freizeit, Taschengeld und letzte Nerven geopfert haben, erneut nur 300 Leute erscheinen, sucht die Linke regelmäßig nach »neuen Strategien«. Diese Strategiediskussionen sind die aktuelle Form linker Selbstkritik; durch sie wird suggeriert, man selbst habe beim letzten Mal nur etwas falsch gemacht, müsse sich beim nächsten Versuch also nur mehr anstrengen, cleverer vorgehen, geschickter taktieren usw. Mit dieser Form der Selbstkritik wird das Ausbleiben tatsächlicher Veränderungen kompensiert; mit ihr wird der Glaube an den nur noch zu findenden revolutionären Nippel gerettet, der lediglich durch die Lasche gezogen werden muss, um die Verhältnisse doch noch zum Tanzen zu bringen.(1) Selbstkritik wird damit zum Instrument bei der Abwehr der Realität; sie hilft bei der Abwehr der Erkenntnis, dass das regelmäßige Scheitern der Linken und der Fortbestand des falschen Ganzen nicht nur subjektive Gründe haben. So waren die Existenz eines selbstbewussten Bürgertums, die Existenz von Individuen, Klassen, eines freien Marktes usw. »die Bedingungen der theoretischen wie praktischen Möglichkeit […] der Aufhebung der Totalität«.(2) »Die Kategorie ›Gesellschaft‹ selbst«, so Herbert Marcuse, »drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen Sphäre aus – die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie ›Individuum‹, ›Klasse‹, ›privat‹, ›Familie‹ Sphären und Kräfte, die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren – Sphären von Spannung und Widerspruch.«(3) Diese Sphären von Spannung und Widerspruch sind längst in Auflösung begriffen: Staat und Gesellschaft stehen sich nicht mehr antagonistisch gegenüber, der Begriff Klasse taugt allenfalls zur soziologischen Umschreibung von Einkommensunterschieden, und der Einzelne kann sich nur noch durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Rackets – also tendenziell durch die Verleugnung seiner selbst als Individuum – erhalten. Das heißt: »Die Spannung zwischen individuellem Unglück und der Welt, in der es erfahren wird, verliert an Kontur; aus aktuellen gesellschaftlichen Widersprüchen kann kaum mehr ein Allgemeines von einem Besonderen geschieden werden, weil das Besondere sich im Allgemeinen aufzulösen scheint.«(4)

2.

Max Horkheimer konstatierte 1939: »Im Spätkapitalismus verwandeln sich die Menschen zuerst in Unterstützungsempfänger und dann in Gefolgschaften.«(5) Verantwortlich hierfür ist die immer größere Entbehrlichkeit des Menschen aufgrund fortschreitender Technisierung bzw. das »dauernde Zittern um die erbärmliche Notstandshilfe im Zeitalter der großen Industrien«.(6) Die Menschen werden damit, wie Wolfgang Pohrt in Anlehnung an Horkheimer ausführt, Rentner und Zwangsarbeiter in einem.(7)
In der bürgerlichen Gesellschaft traten sich die Einzelnen als freie Marktsubjekte gegenüber. Aus dem Interesse an der Ware Arbeitskraft leitete sich der selbstbewusst vertretene Anspruch auf Entgelt (Motto: »Gutes Geld für gute Arbeit!«) sowie seine juristische Fixierung im bürgerlichen Recht ab. Heute existiert kein wirkliches
Freisitz im Hof, 16.7k

Als der Freisitz noch im Hof war ...

Cafétresen, 20.8k

... sah es im Conne Island-Café so aus.
Interesse an der Ware Arbeitskraft mehr; die »staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen lassen alle Tätigkeiten tendenziell zur Beschäftigungstherapie werden«.(8) Wenn ein Teil der Gesellschaft um des puren Werkelns Willen Löcher gräbt und wieder zuschüttet, Rabatten anlegt, die kurz darauf wieder eingerissen werden, oder als Citydienst in bunten Jacken durch die Stadt jagt, dann wird durch diese Beschäftigungstherapien langfristig auch jede andere Tätigkeit affiziert; es wird ununterscheidbar, was sinnvolle und was sinnlose Tätigkeit ist. Die Vergabe eines Arbeitsplatzes wird nicht mehr auf das Interesse des »Arbeitgebers« an den Fähigkeiten des jeweiligen Arbeitskraftbehälters erfahren, die Bezahlung nicht mehr als selbstverständliche Erfüllung eines auf Beiderseitigkeit beruhenden Vertrages begriffen, sondern als Gnadenerweis. Die Menschen treten sich nicht mehr als konkurrierende und freie Marktsubjekte gegenüber; sie konkurrieren nicht mehr um unterschiedliche Anteile am (Arbeits-)Markt. Sie wetteifern vielmehr um Zuwendungen, das heißt um die Gunst des Staates – in Form von ABM-Stellen, Sozialhilfe und »normalen« Arbeitsplätzen, deren Schaffung und Vergabe ebenfalls als Aufgabe des Staates (Wirtschaftsministerien, Arbeitsämter usw.) begriffen wird. In dem Maß, in dem sich die Menschen in staatsunmittelbare Soldaten der Arbeit verwandeln, verschwindet der bourgeois, der Marktbürger, zugunsten des Staatsbürgers citoyen.

3.

Die Rede vom Nachtwächterstaat war in gewisser Weise stets Lüge. Mit ihr sollte verschleiert werden, dass der Staat der »Staat des Kapitals« war; mit ihr sollte kaschiert werden, dass der Nachtwächter der Bourgeoisie als »Tagespolizist fürs Proletariat« (Johannes Agnoli) fungierte. Nichtsdestotrotz konnte sie einen gewissen Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen: Der Souverän kümmerte sich »über den Schutz des Eigentums hinaus nur wenig um die Wirtschaft«.(9) Staat und Gesellschaft, Staat und Kapital waren getrennte Sphären. Polizei, Gericht und Administration waren, wie Marx ausführt, »Abgeordnete des Staats, um den Staat gegen [Hervorhebung von uns] die bürgerliche Gesellschaft zu verwalten«.(10)
Im Verlauf der großen Krisen wurde diese Trennung von Staat und Gesellschaft, Staat und Kapital aufgehoben. Der Grund: Der Wert war im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten nicht mehr in der Lage, sich »selbst« zu verwerten. In dieser Situation erhielt der Staat neue Aufgaben. Er ist nicht länger »ideeller Gesamtkapitalist« (Friedrich Engels); Krieg und Weltkrisen haben, wie Heinz Langerhans erklärt, Staat und Kapital vielmehr zu »einem einzigen Schutzpanzer eingeschmolzen«: »Aus dem automatischen Subjekt Kapital mit dem besonderen Organ ist das einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden.«(11) Der Wert verwertet sich nicht mehr »selbst«, er ist nicht länger »automatisches Subjekt«; sein Prozessieren kann nur noch mit Hilfe des Staates – durch direkte Interventionen, die Vergabe von Staatsaufträgen, Schutzzölle, Preisvorschriften und damit: die (partielle) Suspendierung des Marktes – gewährleistet werden. Mit anderen Worten: Der Staat verwandelt sich vom Nachtwächter in einen »gigantischen Konflikt- und Krisenmanager«.(12)

4.

Die Arbeiterklasse existiert zwar noch. Sie kann allerdings nur noch soziologisch, das heißt: über Gehaltsscheck, kulinarische Vorlieben oder die Treue zu bestimmten Fußballvereinen, bestimmt werden. Auch wenn im Grundkurs Soziologie anderes behauptet wird, war Marx allerdings kein Sozialwissenschaftler; er sprach nicht im Stile des Wissenschaftsbetriebs von einem Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, sondern weil er auf die dialektische Aufhebung dieses Widerspruchs hoffte. Voraussetzung für die Verweise des jungen Marx – der alte verzichtete weitgehend darauf – auf die »historische Mission der Arbeiterklasse« war die vorweggenommene Perspektive der Befreiung der Menschheit durch das Proletariat.
Nach den gescheiterten Revolutionen, zwei Weltkriegen und Auschwitz ist das Proletariat harmonischer Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft. »Die Klasse samt ihrer Organisation fügt sich ein in eine Konstellation, in der alle ›um den größtmöglichen Anteil am Mehrwert‹ kämpfen.«(13) So hat durch die Verschmelzung von Staat und Kapital nicht nur die Bourgeoisie ihre bisherige Rolle im ökonomischen Prozess verloren. Im Rahmen der großen Krisenbewältigung seit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal, Verstaatlichung, Keynesianismus usw.) kam es auch zur »Enteignung der Arbeiterbewegung im Interesse der Reproduktion der Arbeit«.(14) Das Proletariat und alle übrigen Schichten wurden, wie Heinz Langerhans 1934 erklärt, weitgehenden Veränderungen unterworfen: »Das Staatssubjekt Kapital erzwingt sich das Monopol auf Klassenkampf. [...] Eine rücksichtslose soziale Pazifierungsaktion mit dem Zweck der ›organischen‹ Einfügung des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat wird eingeleitet.«(15) Am konsequentesten wurde diese Entwicklung bekanntlich in Deutschland betrieben: Hier wurde der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, indem alle gemeinsam zum »Wohle des Ganzen«, zum Unwohl der Juden zur Volksgemeinschaft verschmolzen. Marx’ vorweggenommene Perspektive der Befreiung durch die Arbeiterklasse »an sich« und »für sich« lässt sich seither nicht mehr einnehmen. Ließ sich zuvor noch in kritischer Absicht auf einen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital verweisen, lässt sich seither nur noch von Arbeitsteilung sprechen. Ebenso wenig wie sich aus der Existenz von Drohnen, Arbeitsbienen und Königinnen ein Klassenantagonismus ableiten lässt, lässt sich aus der Existenz von Staatsbürgern, die schrauben, mauern oder morden, und Staatsbürgern, die das Schrauben, Mauern und Morden überwachen, auf einen »Grundwiderspruch« von Ausbeutern und Ausgebeuteten schließen. Der so genannte »Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital«, so Joachim Bruhn, wurde zum »systemimmanenten Motor der Akkumulation transformiert«.(16)

5.

In der bürgerlichen Gesellschaft werden die Menschen bekanntlich von direkten, persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen – Sippe, Stamm, Feudalherr usw. – befreit. Sie werden stattdessen den unpersönlichen Gesetzen des Marktes unterworfen. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Das »Recht des Stärkeren«, so erklärte Marx dementsprechend gegen die politischen Ökonomen seiner Zeit gerichtet, lebe »unter anderer Form auch in ihrem ›Rechtsstaat‹« fort.(17) Das bürgerliche Zeitalter war also nicht nur durch abstraktes Recht und sachliche Vermittlung gekennzeichnet, sondern auch durch die Herrschaft der Stärkeren, die sich in Form von Rackets zusammenrotteten. Die Tendenz der nachbürgerlichen Zustände ist die Totalisierung der Racket-Herrschaft. »Das Racket-Muster, wie es für das Verhalten der Herrschenden gegenüber den Beherrschten typisch war«, so Max Horkheimer in den vierziger Jahren, »ist jetzt repräsentativ für alle menschlichen Beziehungen.«(18)
Der wohl zentrale Grund dieser Entwicklung ist in der wirtschaftlichen Monopolisierung zu suchen. Konkurrierten früher viele kleinere Produzenten miteinander, teilen sich heute wenige große Aktiengesellschaften den Markt: »Ihre geringe Zahl, die erweiterten Möglichkeiten direkter Kommunikation und der Umfang der gefährdeten Investitionen«, so Wolfgang Pohrt, »legt es nahe, sich auf Kosten Dritter zu einigen, statt gegeneinander zu konkurrieren. Die Gefahr ruinösen Preisverfalls infolge enorm gestiegener Produktivität drängt auf Absprachen, und die Gleichförmigkeit der Produkte verschiedener Aktiengesellschaften ebnet ihnen […] den Weg.«(19) Die jeweiligen Monopole können dem Konkurrenzkapital, Zuliefererbetrieben und Arbeitskraftbehältern ihre Bedingungen unmittelbar diktieren.
Unter diesen Umständen – vor dem Hintergrund eines Überangebots an Arbeitskraft, des Verschwindens von freien Marktsubjekten und Klassengegnern, die den status quo in Frage stellten – wird der Tauschakt nicht mehr wie in der bürgerlichen Gesellschaft mit der Übergabe von Geld und Ware beendet; er begründet vielmehr ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Der Verkäufer von Arbeitskraft, Rinderhälften und Kotflügelaufhängungen muss es als Gnade empfinden, überhaupt arbeiten oder liefern zu dürfen. Diese Gnade verlangt nach einer Gegenleistung: Jungunternehmer, Werbezeichner und Prolet müssen ihre persönliche Treue und Dankbarkeit beweisen, ihre Freizeit der Firma opfern und ihrem Vorgesetzten, dem Großabnehmer oder dem Chef des Gewerbeamtes jederzeit als Seelentröster, Squash- und Trinkpartner zur Verfügung stehen. Ebenso wie die Unternehmen, die sich aus Angst vor dem eigenen Untergang zu Kartellen und Oligopolen zusammenschließen, müssen auch die menschlichen Elementarteilchen erkennen: »Allein machen sie Dich ein!« Auch sie vertrauen nicht mehr auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und die eigenen Fähigkeiten, sondern versuchen, ihrem Glück nachzuhelfen. Sie organisieren sich dementsprechend in Banden, Gangs und Rackets, die in Interaktion mit anderen Banden, Gangs und Rackets treten und Gruppenloyalität über Gesetzestreue stellen. Mit anderen Worten: »Die bürgerliche Gesellschaft, die ihrem Begriff nach die Versammlung von freien Individuen war, die nur den Gesetzen des Marktes gehorchen müssen, bildet sich zurück in ein Geflecht von Unter- und Überordnung und persönlicher Abhängigkeit.«(20)

6.

Die Entstehung des Individuums ging mit der sich durchsetzenden bürgerlichen Produktionsweise einher. Deren Konkurrenzprinzip bedingte freie Wirtschaftssubjekte, die sich gegeneinander abgrenzten, ihre Einzigartigkeit zum eigentlichen Prinzip und sich selbst zum Maßstab erhoben.
»Heute nun««, so Adorno, »verlieren Konkurrenz und freie Marktwirtschaft gegenüber den zusammengeballten Großkonzernen und den ihnen entsprechenden Kollektiven mehr und mehr an Gewicht. Der Begriff des Individuums […] erreicht seine Grenze.«(21) Mit der Verschmelzung von Staat und Kapital formiert sich die Gesellschaft nicht mehr als Ansammlung vereinzelter Marktteilnehmer; es stehen sich vielmehr verschiedene Interessengruppen als Banden und Rackets gegenüber. Diese Banden, Gangs und Rackets vereinnahmen das Individuum mit dem Gewähren von Schutz, unter Forderung der völligen Ein- und Unterordnung. Dabei kann der Einzelne seine Existenz in der Gesellschaft nur noch durch Anpassung ans Kollektiv erhalten; er muss sich selbst somit tendenziell als Individuum verleugnen. Die Charakterzüge, die zum Überleben notwendig sind, sind nicht mehr Weitsicht, Autonomie, Spontaneität usw., sondern Anpassungsfähigkeit und Konformismus, also: nicht nur die Fähigkeit, sich im Enddarm des jeweiligen Führers und Vorbeters häuslich einzurichten, sondern sich dort auch noch wohl zu fühlen. Das heißt: »Selbsterhaltung verliert ihr Selbst«(22); das Individuum wird schrittweise liquidiert.

7.

Am Ende eine Mischung aus Fazit und ein wenig Pathos: Anders als von zahlreichen Linken suggeriert, hinter deren Deutschlandkritik sich möglicherweise eine Mischung aus besonderem Sendungsbewusstsein und Tatstolz (»Auschwitz bleibt deutsch!«) verbirgt, ist diese Entwicklung nicht nur auf Deutschland beschränkt. In Ländern mit demokratischer Tradition und entwickeltem Kapitalismus ist die schlechte Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft allerdings »oft ein mühsamer Prozess, weil gegen die Brutalisierung der Masse, die sukzessive Ausschaltung der freien Konkurrenz, die Lähmung der öffentlichen Kontrollorgane und die kriminellen Touren des Führungspersonals sich hinhaltender, manchmal sogar erfolgreicher Widerstand bildet«.(23) »Aufhebung« ist dabei ganz im Sinne der Einführungsveranstaltung Philosophie, deren Besuch also doch nicht ganz umsonst war, in der dreifachen Wortbedeutung zu verstehen: Aufheben im Sinne von »zerstören«, im Sinn von etwas – hier in negativer Form – »auf eine höhere Stufe heben« und im Sinn von »bewahren«. Dem Kritiker bleibt derzeit nicht viel mehr, als zu hoffen, dass nicht nur die Kälte des bürgerlichen Subjekts, sondern auch einige Grundlagen für Empathie und Erfahrungsfähigkeit bewahrt wurden. Die Begeisterung, die systemtheoretischen und poststrukturalistischen Zumutungen in den schon erwähnten Soziologie- und Philosophiegrundkursen entgegengebracht wird, weckt allerdings nicht gerade Optimismus. Anstatt sich darüber zu empören, dass es in der Gesellschaft, die von Luhmann, Butler und Co. affirmativ beschrieben wird, auf das Handeln der Menschen nicht mehr ankommt, reagiert der Wissenschaftsbetrieb auf solche Aussagen mit zufriedenem Kopfnicken. Der Kritiker muss vor diesem Hintergrund also noch auf etwas Zweites hoffen: darauf, dass die Menschheit schlauer ist als ihre intellektuelle Vorhut. Zumindest darauf stehen die Chancen nicht schlecht; immerhin sind die Intellektuellen, vom verbeamteten Denker im Universitätsbetrieb bis zum Zeilenschinder im Zeitgeistmagazin, diejenigen, die sich stets als erste flachlegen und die jeweils neueste Agentur der Barbarei – seien es die Nazis, sei es der Islamismus – begeistert begrüßen.

Anmerkungen

(1) Vgl. hierzu Jan Gerber: Me and my Monkey, in: Phase 2 Nr. 18 (2005).
(2) Herbert Nagel: Besinnung auf ein stillschweigend Vorausgesetztes: Totalität, in: ders., Frank Böckelmann (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Neuausgabe, Frankfurt am Main 2002, S. 407.
(3) Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt am Main 1970, S. 16.
(4) Herbert Nagel: Besinnung auf ein stillschweigend Vorausgesetztes: Totalität, in: ders., Frank Böckelmann (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Neuausgabe, Frankfurt am Main 2002, S. 417.
(5) Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: ders.: Autoritärer Staat, Amsterdam 1967, S. 13.
(6) Max Horkheimer: Autoritärer Staat, in: ders.: Autoritärer Staat, Amsterdam 1967, S. 74.
(7) Wolfgang Pohrt: Nutzlose Welt. Ohnmacht im Spätkapitalismus, in: ders.: Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Berlin 1995, S. 21.
(8) Ebd.
(9) Gerhard Scheit: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Massenvernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001, S. 16.
(10) Zit. nach: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 384.
(11) Heinz Langerhans: Die nächste Weltkrise, der zweite Weltkrieg und die Weltrevolution, in: ders.: Staatssubjekt Kapital, Halle 2004, S. 19.
(12) Ebd.
(13) Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004, S. 342 f. Scheit zitiert hier Horkheimer.
(14) Initiative Sozialistisches Forum: Materialismus und Barbarei, in: Kritik und Krise 6 (1993), S. 3.
(15) Heinz Langerhans: Die nächste Weltkrise, der zweite Weltkrieg und die Weltrevolution, in: ders.: Staatssubjekt Kapital, Halle 2004, S. 19.
(16) Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S. 153.
(17) Zit. nach Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004, S. 343.
(18) Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 12. Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt am Main 1985, S 101.
(19) Wolfgang Pohrt: Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Berlin 1995, S. 252 f.
(20) Wolfgang Pohrt: Durchbruch der deutschen Außenpolitik in die gleiche Richtung, in: ders.: Das Jahr danach. Ein Bericht über die Vorkriegszeit, Berlin 1992, S. 248.
(21) Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Soziologische Schriften 1, Frankfurt am Main 1980, S. 450.
(22) Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Minima Moralia, Frankfurt am Main 1997, S. 261.
(23) Wolfgang Pohrt: Durchbruch der deutschen Außenpolitik in die gleiche Richtung, in: ders.: Das Jahr danach. Ein Bericht über die Vorkriegszeit, Berlin 1992, S. 239.

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last modified: 28.3.2007