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Zwölf Thesen über Antisemitismus, Israel und Wertabspaltung.


Appetithaeppchen Palaestina, 21.5k
Wir sind unabhaengig und bleiben genau in der Mitte, sagt der Vertreter der internationalen Atomenergiebehoerde IAEA, 23.5k
„Wir sind unabhängig und bleiben genau in der Mitte“, sagt der Vertreter der internationalen Atomenergiebehörde IAEA
Ein israelischer Musiker komponiert Friedensgesaenge für palaestinensische Kinder, 18.3k
„Ein israelischer Musiker komponiert Friedensgesänge für palästinensische Kinder“
Der Holocaust-Stachel, 15.8k
Iranischer Humor (aus regimetreuen Zeitungen).
Kurze Erklärung und Übersicht über die anderen Karikaturen im Editorial
Georg Lukacs will in einem Aufsatz in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ sämtliche gesellschaftlichen Probleme aus der Struktur der Ware begreifen. Er will damit auf die gesellschaftliche Totalität hinaus. Der Kapitalismus müsse als zusammenhängende Struktur begriffen werden, die sich ihren Akteuren gegenüber verselbständige, obwohl oder gerade weil sie von ihnen selbst konstituiert wird. Dieser Anspruch des Marxismus, der kritischen Theorie und besonders auch der Wertkritik auf Totalität wurde von Roswitha Scholz „an ihrem eigenen Anspruch gemessen und für zu leicht befunden“ (Marx). Einzig über Wert, Ware und abstrakte Arbeit lässt sich gesellschaftliche Totalität nicht erklären, erst recht nicht in Frage stellen. Derart billig ist Gesellschaftskritik nicht zu haben.

  1. Der Antisemitismus ist die Harmoniesucht des vereinzelten, zerrissenen, sich identisch machenden männlichen Subjekts in seiner von ihm selbst konstituierten destruktiven Gesellschaft, welche seine bzw. ihre zerstörerische Kraft einem negativen Prinzip zuschreibt und gegen dieses eine Quasi-Natürlichkeit einklagt. Diese ist ihrerseits nur direkter zerstörerisch, zugreifend und brutal. Sie strebt danach, das von ihr als unnatürlich bezeichnete, welches angeblich für die Destruktivität verantwortlich wäre, auszumerzen. Das Ziel des Antisemitismus ist eine reine (in Wirklichkeit freilich quasi-) natürliche Ordnung. Der Antisemitismus als Harmoniesucht trägt damit das Umschlagen in den Vernichtungswahn bereits in sich.

  2. Antisemiten glauben, die Juden wären überall. Dabei würde sich, so Detlev Claussen, nur der Wert an alles heften, welchen die Antisemiten mit den Juden identifizieren. Auch wenn Claussen bei seiner Analyse die Konstitution des Werts auf den Warentausch reduziert, seine Gesellschaftsanalyse somit verkürzt und unzureichend bleibt, so ist doch sein Begriff vom Antisemitismus als Alltagsreligion fruchtbar, da er mit ihm beschreibt, dass der gesellschaftlichen Produktion falschen Bewusstseins im Einzelsubjekt „etwas“ korrespondieren muss, damit es zum bewussten und entschiedenen Träger dieser Ideologie wird. Der antisemitischen Ideologie entspricht somit eine bestimmte psycho-soziale Grundierung des Subjekts, die im Zusammenhang mit dieser Ideologie erfasst werden muss.

  3. Der gesellschaftliche Prozess der Verwertung des Werts, die Selbstvermehrung des Geldes durch Vernutzung menschlicher Arbeitskraft, erscheint dem Bewusstsein verdinglicht, in zwei Momente auseinander gerissen. Anknüpfend an die historische antijüdische Tradition, in der die Juden für Wucher, Geld und Zins, für Macht und Reichtum sowie für geheimnisvolle Machenschaften standen, wird in ihnen nun das gesellschaftlich vermittelnde Prinzip verdinglicht. Die Juden werden verantwortlich gezeichnet für gesellschaftliche Krisen und Katastrophen der Warengesellschaft, die doch in Wirklichkeit dem gesellschaftlichen Handeln der Warensubjekte selbst entspringen. Die Juden stehen nicht bloß für das raffende, das Finanzkapital, im Gegensatz zum schaffenden, also zu Industrie und Handwerk. Sie stehen vielmehr für die drohende künstliche und zersetzende Macht, die alles Natürliche zerstören würde. Der Antisemitismus ist eine Revolte der Natürlichkeit gegen die als abstrakt wahrgenommene Gesellschaft.

  4. Es muss streng darauf beharrt werden, dass der Antisemitismus nicht in einer Personifizierung des Abstrakten aufgeht, dass er vielmehr historisch veränderlich ist, er ein historisches Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt und sich in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich äußert. Adorno wird, mit der Annahme eines die gesamte Gesellschaft beherrschenden Zentrums, des Tauschs, selbst zum Opfer der von ihm in Frage gestellten Identitätslogik: die kapitalistische Gesellschaft stellt sich allerdings so dar, als ob sie von einem einheitlichen Prinzip beherrscht wäre, als ob alles aufs „Ökonomische“ reduziert werden würde. [Adorno erkennt dies; er deckt dieses Formprinzip gerade auf. Er rückt vom verdinglichten, rein ökonomischen und positiven Wertbegriff des Marxismus ab und begründet Wert als übergreifendes Formprinzip. Dafür untersucht er den Tausch, welcher sich auch in der Ökonomie zeigt und in dem sich eine die gesamte Gesellschaft als Formprinzip beherrschende Identitätslogik konstituiert. Jedoch ist das die Gesellschaft beherrschende Formprinzip nicht auf Tausch reduzierbar und die Identitätslogik wurzelt nicht nur im Tausch] Weder ist beim Tausch, noch beim Wert, noch bei einem obersten Vermittlungsprinzip überhaupt (das – wie gesagt – begreift Adorno), aus dem alle anderen Bereiche einfach abgeleitet werden können, stehen zu bleiben. Dennoch muss an der Totalität der Warengesellschaft festgehalten werden, aber als gebrochener: Über den Wert als gesellschaftliches Vermittlungsprinzip allein lässt sich die kapitalistische Gesellschaft als fetischistisches Verhältnis nicht kritisieren. Eine solche Vorgehensweise verkennt, dass dem Kapitalismus ein patriarchales Geschlechterverhältnis zugrunde liegt. Bestimmte Bereiche sind von der den Wert bildenden abstrakten Arbeit strukturell abgespaltet und bilden eine übergeordnete Logik, welche die Gesellschaft als Dialektik der Wertabspaltung durchzieht.

  5. Der Antisemitismus ist als basale Ideologie der Wertabspaltungsvergesellschaftung zu betrachten. Das abstrakte Vermittlungsprinzip wird identitätslogisch in den Juden personifiziert. Kulturell-symbolisch konstituiert sich ein spezifisches „Bild vom Juden“ (Benz) als geheimnisvoller verschworener Gemeinschaft als gefährlichste antisemitische Phantasie. Der Umstand, dass die Menschen in der Warengesellschaft selbst Gesetzmäßigkeiten zuwege bringen, welche sich über ihren Köpfen katastrophisch zuspitzen und zur Zerstörung der Gesellschaft und ihres Subjekts führen, wird von diesen Subjekten in die Juden projiziert. Sie wollen sich selbst und ihre Gesellschaft identitätslogisch in alle Ewigkeit verlängern. Die Tatsache, dass ihre eigene Art zu funktionieren systematisch in der Selbstzerstörung mündet, lasten sie anderen an, den Juden als „negativem Prinzip“, als „Urstoff alles Negativen“ (Goebbels). Sie erleben die von ihnen entfesselte Zerstörungslogik als etwas ihnen vollkommen äußerliches, quasi außerirdisches, eben: Jüdisches. Der Antisemitismus ist der Hass einer selbstzerstörerischen Gesellschaftsform auf ihre eigene Selbstzerstörung. Die sich identitätslogisch als ewig halluzinierende Gesellschaft projiziert ihr eigenes Ende, jenes immanente, selbst erzeugte Prinzip, die eigene absolute Schranke, auf etwas äußerliches, bzw. erfindet dieses Äußerliche. Das vom Antisemitismus imaginierte Bild vom Juden als das sowohl vollkommen andere als auch eigene (vgl. auch Klaus Holz), steht prototypisch für diesen Prozess der Verkehrung. In diesem und nur in diesem Sinne, ist der Antisemitismus als eine Krisenideologie zu bezeichnen.

  6. Ideologien beruhen auf dem Zwang des männlichen Subjekts, sich identisch zu formieren, dabei sich mit sich selbst identisch zu fassen und die Umwelt sich anzugleichen. Dies ist ein materieller wie geistiger Prozess, gesellschaftliche Praxis permanenter Fremd- und Selbstbeherrschung, der von der Dialektik der Wertabspaltung, der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft, ihrer „Vergegenständlichung“ im Wert und dessen Entfaltung auf dem einen Pol und der Abspaltung des Weiblichen im umfassenden Sinne auf der materiellen, psycho-sozialen und kulturellen Ebene durchzogen wird. Diese gesellschaftliche Praxis lässt sich als warengesellschaftlich spezifische Natur-Kultur-Dialektik beschreiben. Der Kapitalismus als warenproduzierendes Patriarchat umfasst eine spezifische Form der menschlichen Naturveränderung, wobei bei dieser der Gegensatz zwischen Natur und Kultur bzw. Gesellschaft überhaupt erst konstituiert wird. In diesem Prozess formiert sich das Selbst als Subjekt-Objekt permanenter Selbst- und Fremdbeherrschung, als ein Gefüge von Herrschaft und Unterwerfung. Dieses Selbst als Akteur dieser gesellschaftlichen Praxis konstituierte sich von Anbeginn weiß, männlich und westlich. Die moderne Waren produzierende Gesellschaft ist von ihrer Konstitution her rassistisch, sexistisch und antisemitisch angelegt. Letztlich sind alle genannten Ideologien Krisenideologien, da sie dem männlichen Selbst Ruhe geben sollen vor der sich zuspitzenden inneren und äußeren Zerrissenheit; daher verschärfen sie sich auch in Zeiten manifester Krise, werden teilweise überhaupt erst spürbar.

  7. Im Dienste einer nicht nur selbstdestruktiven Harmoniesucht wird im Antisemitismus der Vernichtungswahn an den Juden ausagiert. Die Juden müssen für die innere Zerrissenheit, für die damit verbundene Todessehnsucht und Todesüberwindungssehnsucht (was für das männliche Subjekt auf dasselbe hinausläuft) des abstrakten männlichen Selbst in seinem verhältnislosen Verhältnis und seinem androzentrischen Unbewussten einstehen. Der Antisemitismus ist strukturell in die Konstitution des männlichen Selbst eingelassen; er ist eine basale Ideologie des männlichen Subjekts.

  8. Erst unter den Bedingungen einer auf Wertverwertung und Abspaltung beruhenden, entsinnlichten Entscheidungsfreiheit entstehen Subjekte mit einer Persönlichkeitsstruktur, welchen sich überhaupt erst die Entscheidung stellt, ob man sich an einem antisemitischen Massenmord beteiligt oder nicht. Das Verdienst Goldhagens besteht darin, aufgedeckt zu haben, dass sich der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung aufgrund spezifisch deutscher eliminatorisch-antisemitischer Überzeugung zum Massenmord bewusst entschlossen hat und dass dieser Massenmord auf antisemitischen Motiven beruht. Der Antisemitismus war die Triebkraft von Auschwitz. Goldhagen konnte aber nicht klären, wie ein solches Subjekt, dem sich eine solche Entscheidung stellt, entstehen kann. Das Selbst, dessen Qualitäten Goldhagen sogar feiert, ist genau die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich viele Individuen in bestimmter Zeit vor spezifisch deutschem Hintergrund zum antisemitischen Massenmord entschieden. Der vereinzelte Einzelne, als autonomes, entscheidendes und urteilendes Monadenwesen ist von einer selbstwidersprüchlichen, destruktiven, androzentrischen Harmoniesucht durchzogen, die unter bestimmten Bedingungen zum Wahn der Vernichtung führen kann.

  9. In Deutschland führte diese antisemitische Harmoniesucht tatsächlich zum offenen Vernichtungswahn. Der Nationalsozialismus als vollzogene deutsche Revolution wollte die Welt auf der Basis von Wert und Abspaltung harmonisieren; die Befreiung der zerrissenen, destruktiven Gesellschaft und ihres Selbst von ihrem sie angeblich unterminierenden Element war die erklärte historische Mission der Deutschen. Sie ermordeten willentlich Juden, um sich und die Welt von ihrer inneren, der Wertabspaltungssubjektivität und –gesellschaft erzeugten Zerrissenheit und von den eigens hervorgebrachten, destruktiven, sich fetischistisch von den Akteuren verselbständigenden gesellschaftlichen „Naturgesetzen“ zu befreien. Die Befriedigung dieser Harmoniesucht gipfelte im Vernichtungswahn der Deutschen – nicht nur weil die erträumte Harmonie niemals erreicht werden kann und weil es immer noch etwas gibt, das sich der totalen Identität entzieht, sondern weil diese Harmonie in Wirklichkeit bereits mörderischen Charakters ist.

  10. Der Zionismus bildete sich als Bewegung des jüdischen Nationalismus vor dem Hintergrund der Formierung der Nationen und modernen Staaten. Der schließliche Aufbau des Staates Israel wurde aufgrund dieser Problematik betrieben. Der mörderische deutsche Exzess von Auschwitz verdeutlichte, dass die Juden um ihrer puren Existenz willen eines eigenen Staates bedürfen, da sie innerhalb anderer Staaten nicht nur nicht gedulden werden, dass sich diese Nicht-Duldung in der Moderne nicht nur nicht lindert, sondern sich zum schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte steigerte. Selbstverständlich ist Israel ein kapitalistischer Nationalstaat wie alle anderen auch. Dennoch ist Israel vor dem Hintergrund seiner Geschichte ein paradoxer Nationalstaat. Viele Juden strebten über lange Zeit hinweg keinen bürgerlichen Staat an; sie wurden vielmehr von ihrer sich gegen sie nationalistisch formierenden Umgebung dazu gezwungen, einen solchen zu gründen, um ihre reine physische Existenz gegen antisemitisches Morden behaupten zu können. Dem Staat Israel, nicht etwa lediglich der israelischen Bevölkerung (und dies ist ein Unterschied ums Ganze), gebührt daher die unbedingte Solidarität durch eine gegen die wert-abspaltungslogischen Grundlagen dieser Gesellschaft gerichteten Befreiungsbewegung. Israel bleibt „ein Pfahl im Fleisch“ der Warengesellschaft und ihrer Subjekte. Der Staat Israel steht heute fürs „Abstrakte“, welches die „natürliche Ordnung“ der Palästinenser angeblich zerstören würde. Israel zieht daher den Vernichtungswillen der Antisemiten aller Länder auf sich.

  11. Die Befreiung der Gesellschaft ist zu fassen als Befreiung von Wert und Abspaltung, als Beseitigung des gesellschaftlichen Fetischismus und des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Dazu bedarf es autonomer kritischer Gesellschaftstheorie und einem Agieren gegen Ideologien des „immerwährenden“ Kapitalismus, gegen Sexismus, Rassismus, Homophobie und Antisemitismus. Die Befreiung von Wert und Abspaltung sowie die Aufsprengung der Subjekt-Monade laufen parallel mit der nötigen Befreiung der Gesellschaft vom Antisemitismus. Die Befreiung der Gesellschaft bedeutet eine Assoziation freier Individuen, Glück ohne Macht, Leben ohne Arbeit, Heimat ohne Grenzstein.

  12. Die Gesellschaft nach der Schreckenstat von Auschwitz ist weltweit nicht mehr die vorherige, so wie auch der Antisemitismus nach Auschwitz ein völlig neuer ist. Gesellschaftstheorie muss darauf von Anbeginn reflektieren. Der Antisemitismus als vernichtende Krisenideologie ist heute als sekundärer Antisemitismus, als Antisemitismus nicht trotz sondern gerade wegen Auschwitz, als Antisemitismus, der sich heute am Staat Israel als Juden unter den Staaten festmacht und als Antisemitismus, der eine verschworene global agierende Managerkaste zum Hauptfeindbild hat, zu denken.

Gesellschaftskritik muss sich gerade diesen Ideologien stellen. Wertabspaltungskritik ist als kritische Theorie der Gesellschaft nach Auschwitz zu formulieren.

Martin D.

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last modified: 28.3.2007