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Die Bildung von Ideologien in der Warengesellschaft


In diesem kleinen Essay, das eher der Klärung und Vorstrukturierung eigener Fragestellungen dienen soll (weshalb mir Einwände und Kritik sehr wichtig sind), möchte ich den Zusammenhang zwischen Identitätslogik und Ideologie einerseits sowie das Verhältnis anderer basaler Ideologien zum Antisemitismus diskutieren. Dabei sollen die Ideologien, die die Warengesellschaft entfaltet, in ihrem Verhältnis zu dieser Gesellschaft selbst diskutiert werden, das heißt, zu dem sie durchziehenden, sie strukturierenden Prinzip der Wertabspaltung. Was haben Ideologien wie der Antisemitismus mit diesem Prinzip zu tun? Um dies erfassen zu können, muss die aus dem Wertabspaltungsverhältnis resultierende, eng mit seiner Identitätslogik verwobene Natur-Kultur-Dialektik erörtert werden.

1. Das dialektische Verhältnis von Mensch und Natur

Zunächst ist das Verhältnis einer durch Wert und Abspaltung geformten Gesellschaft zu ihren äußeren Lebensgrundlagen zu diskutieren. Menschen mussten stets Natur umformen. Solange sie Menschen sind, vollziehen sie dies vermittelt und als Individuen. Es ist eine Mär der Aufklärung, dass die Menschen einst in einem »Sabberbrei« mit allen Tieren, anderen Menschen, Pflanzen, Bergen und Steinen lebten, aus dem sie sich schrittweise herauswanden, um schließlich endlich das Licht der Vernunft zu erblicken und sich zusammen mit dem Königsberger Aufklärer endlich daran zu machten, sich ohne Leitung eines anderen ihres Verstandes zu bedienen(1). Menschen waren also nie nur Natur, sondern immer auch Natur und zwar besonderer Teil der Natur, der sich zur übrigen Natur stets in ein bewusstes Verhältnis setzte, um diese unter Mithilfe des Nachdenkens umzuformen, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Natur und Kultur ist streng genommen ein Gegensatz der Natur zu sich selbst.(2)
In der permanenten Krise dieses Verhältnisses sehen Horkheimer und Adorno die entscheidende gesellschaftliche Ursache für den Antisemitismus. In der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwischen vergesellschafteter Menschheit und äußerer Realität nistet die pathische Projektion als psycho-sozialer Grund des Antisemitismus. Eine Erlösung von ihm ist damit nur von einem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ zu erwarten: Die Menschheit soll sich darauf besinnen, dass sie nicht nur sondern auch Natur ist, sie soll die heute nicht mehr nötige Herrschaft über Mensch und Natur zurücknehmen; dann hat sie es auch nicht mehr nötig, ihre Naturhaftigkeit anderen zuzuschreiben, womit ein entscheidender Grund für den Antisemitismus entfallen würde.
Auch die Warengesellschaft ist ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Erst in dieser gilt, was Horkheimer und Adorno für die gesamte menschliche Geschichte vermuten: Unterdrückung sexueller Triebe, ein sich selbst zur zweiten Natur Zusammenschließen der Menschen und die erste Natur nicht mehr nur umzuformen, sondern zu bearbeiten, d.h. zum Zwecke der Verwertung des Werts zu arbeiten, nicht mehr zur Bedürfnisbefriedigung. Natur wird jetzt umgeformt, wenn diese Umformung der Vermehrung von Geld dienlich ist – Produktion als Konkretion der Wertverwertung. Die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse wird damit zum Nebenprodukt. Dieses Produktionsverhältnis zieht es nach sich, dass Menschen wie Tiere und Pflanzen, Tiere und Pflanzen aber wie Steine und Metalle behandelt werden (Robert Kurz). Diese spezifische Form etablierte auch eine neue Art des Geschlechterverhältnisses. Bereits viele vormoderne Gesellschaften waren durchweg patriarchal – es herrschten also Männer. Aber Herrschaft war weit weniger total als heute, viele Bereiche des Lebens waren ihr nicht unterworfen, in den Großfamilienstrukturen hatten Frauen wesentlichen Einfluss.
In dem Maße, in welchem der mittelalterliche Ordo mundi zusammenbrach, konstituierten sich nach einer langen Zeit des Übergangs warengesellschaftliche Strukturen heraus. Zunächst in Norditalien, nach deren Zusammenbruch beidseitig des Kanals, von dort breiteten sie sich weltweit aus. Es kam – maßgeblich im Zuge der Hexenverbrennung – die als Auftakt der Moderne und Zündfeuer für die Fackel der Aufklärung zu betrachten ist – zu einer warengesellschaftlichen Reorganisation des Patriarchats: die Wertabspaltungsvergesellschaftung entwickelte sich – also eine die gesamte Gesellschaft auf allen Ebenen durchziehende Struktur, in welcher die Menschen zu vereinzelten Einzelnen werden, die sich zueinander, zu sich selbst und zu ihrer Umwelt in einem verhältnislosen Verhältnis befinden. Sie konstituieren in der arbeitsvermittelten Reproduktion ihres Lebens eine „subjektlose Herrschaft“ (Kurz) – also eine Gesellschaft, in der die Individuen als vereinzelte Einzelne von einer selbst geschaffenen und durch sie selbst hindurchgehenden Herrschaftsstruktur kontrolliert werden. In dieser Gesellschaft bildet sich das von Horkheimer und Adorno beschriebene, männliche, identische Selbst heraus – der neue Mensch als Mann. „Die Trennung (von Mensch und Natur) vollzog sich durch die Individuen hindurch, aber mit geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Folgen.“(3)Der ‚neue Mensch‘ des industrialisierten Zeitalters war der Mann.(4)
Die Unterwerfung unter diese subjektlose Herrschaft ist in eins zu setzen mit der von Kant geforderten angeblichen „Befreiung des Menschen“ aus seiner so genannten „selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Sein Programm: die Menschen sollen mündig und selbst bestimmt ihre eigene Herrschaft erzeugen, sie verinnerlichen (hiervon zeugt Kants Rede vom „Sittengesetz in mir“), sich ihre eigenen Gesetze selbst vorgeben – zumindest solange sie erwachsene, weiße, psychisch gesunde Männer mit finanziellem Vermögen sind, andernfalls – als Frauen, Kinder, Behinderte, Mittellose, Nicht-Europäer - haben sie sich blind zu unterwerfen.
Diese Art von Gesellschaft basierte von Anbeginn auf spezifischen, besondert zu betrachtenden, Unterwerfungsstrukturen, die sich historisch im Wandel befinden und daher als Prozess zu denken sind. Grundlage dafür ist die sich vermittelt über die Wertabspaltung konstituierende Identitätslogik. Diese formiert sich sowohl im alltäglichen Handeln der Menschen als auch in ihrem Denken und in den Ideologien, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse legitimieren. Die Theorie ist letztlich als abgetrenntes Moment der Praxis zu begreifen.

2. Klassen und Klassenkampf – die ökonomische Ausbeutung in der Warengesellschaft und ihre ideologische Verschleierung

Aus der Vernutzung der Ware Arbeitskraft, dem sich darauf gründenden Herrschaftsverhältnis, welches sich gemäß des Akkumulationsgesetzes des Kapitals immer weiter auf höherer Stufenleiter reproduziert, ergibt sich die Existenz zweier polarer gesellschaftlicher Klassen, der Arbeiter- und der Kapitalistenklasse. Da die bürgerliche Gesellschaft eine vermittelte ist, also sich durch die Köpfe der vergesellschafteten Individuen hindurch vollzieht, zog dies stets bestimmte Denkweisen nach sich: die Leugnung von Klassen, die Behauptung, allen könnte es unter kapitalistischen Verhältnissen gut gehen, die bürgerliche Gesellschaft sei ein Kreislauf, der bei genügender Entwicklung ausreichend Wohlstand für alle mit sich brächte (etwa bei Adam Smith, in der Grenznutzenschule oder der heutigen akademischen VWL) bzw. die Legitimierung des Elends als (gesellschaftliche) Naturtatsache (etwa bei Ricardo und Malthus bzw. heutigen zynischen, z. B. sozialdarwinistischen Auffassungen). Den Arbeitern ginge es schlecht, weil sie oder ihre Vorfahren weniger geleistet hätten, den Kapitalisten ginge es aufgrund ihrer höheren Leistung besser. Marx zertrümmerte dieses Märchen mit seiner Theorie von der „so genannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“.
Zu dieser Form von Ideologien gehören neben den besprochenen liberalen Klassenideologien auch die der Arbeiterklasse, also etwa auch der traditionelle, der Arbeiterbewegungsmarxismus. Dieser erlebte sich selbst als oppositionelle und im scharfen Kontrast zum Kapitalismus stehende Gesellschaftskritik. Er stand jedoch lediglich konträr zu einer bestimmten Epoche des Kapitalismus und erweist sich im Nachhinein gerade als Entwicklungsmotor, als weiter treibendes Moment der Warengesellschaft. So wurden infolge der Revolution in Russland 1917 oder später in der Volksrepublik China gerade riesige Landstriche und immense Menschenmassen in das Prinzip der Wertverwertung integriert. Dies war nur möglich unter Aufgreifen einer Ideologie, die sich selbst als antikapitalistisch verstand – der Aufschwung war eben nur unter persönlichem Schwung und revolutionären Elan praktizierbar. Keineswegs haben die Marxisten-Leninisten also etwa »Verrat an der Arbeiterklasse« begangen, wie es die trotzkistische Kritik innerhalb des Marxismus vermutet. Der Marxismus selbst gehörte vielmehr gerade als widerstrebendes und revolutionierendes Moment zur Entfaltung der Warengesellschaft hinzu.
Gespenstisch hingegen ist das heutige Revival des Marxismus. Ihm entspricht gerade kein neuer Entwicklungsschub des Kapitalismus. Sein immanent vorwärts treibendes Moment ist dem Marxismus daher völlig entschwunden. Anstatt nun das System von Wert und patriarchalem Geschlechterverhältnis als solches anzugreifen, macht er sich heute an die imaginär-phantastische Wiederbelebung alter Klassenkampfvorstellungen. Auch in seiner immanent revolutionären Phase war der Marxismus oft mit Momenten des Antisemitismus verknüpft, bzw. erwies sich als anschlussfähig. Untergründig ist auch einer Kritik, welche explizit die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel thematisiert, ein Hass auf die »verschworenen, übermächtigen Reichen« innewohnend und zwar durchaus auch dann, wenn es nicht bloß gegen »das Finanzkapital« geht, sondern auch wenn die Verfügenden über das »schaffende Kapital« angegriffen werden. Heute, wo keine realen gesellschaftlichen Bedingungen mehr für Klassenkampf existieren, wo sich die neu aufbrechenden sozialen und ökonomischen Disparitäten nicht entlang von Klassen, sondern aufgrund von Geschlecht, Alter, Herkunft, Behinderung oder schlichtweg Zufall konstituieren, können die untergründigen antisemitischen Tendenzen des Marxismus offen zutage treten. Gegen wen schlägt die Wut, wenn sich herausstellt, dass die Krise der Warengesellschaft nicht per Klassenkampf überwindbar ist, dass auch nach allen möglichen Kämpfen für Umverteilung das gewünschte Ziel ausbleibt?

3. Der Rassismus – die Zuweisung wilder Natürlichkeit

Der Rassismus gründet weitgehend auf Zuschreibung des triebhaft-archaischen an so genannte „andere Rassen“, worauf die Konstitution des identischen Subjekts im Hass auf „andere“ gründet.
Mit der Ausdehnung dieser Gesellschaft auf andere Erdteile, der Unterwerfung der dort lebenden Menschen, dem enormen Arbeitskraftbedarf und dem Goldrausch des frühen Kapitalismus, der in dem Edelmetall seinen gesellschaftlich-abstrakten Reichtum darstellen musste, kam es zur Kolonialisierung ganzer Ländereien und der Unterwerfung von Menschen als billige Arbeitssklaven. Die Menschen wurden als weniger wert betrachtet, sie seien quasi noch, wie die Europäer in früheren Zeiten auch, reine Natur und bedürften der europäischen Herrschaft, da sie sich eben nicht ohne Leitung eines anderen aus ihrem „arbeits-“, teilweise auch geld-, staats-, „sitten“-losen Elend befreien könnten. Es entsteht also eine ideologisch gerechtfertige kolonialistische Praxis. In diesem Kontext entstand das erste biologische Klassifizierungssystem von Linné, der außer seiner Systematik für Tiere und Pflanzen auch den Menschen klassifiziert: er konstruiert freiheitsliebende Indianer, faule und triebhafte Afrikaner, massenorientierte, fleißige und arbeitsame Asiaten sowie verstandesgeleitete und sittenorientierte Europäer.
In der Wissenschaft kommt es zur Diskussion über die Abstammung des Menschen. Die Monogenetiker beharren auf der Abstammung aller Menschen von Adam und Eva; andere, die Polygenetiker „entdecken“, dass die Menschheit von verschiedenen „Stammeseltern“ abstamme, Afrikaner also etwa
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andere als Europäer hätten. Ebenso tauchen skurrile Vorstellungen von Kreuzungen zwischen männlichen Menschenaffen und Frauen auf, woraus angeblich die afrikanische „Rasse“ entstanden wäre. Alle derartigen Ideen wurden zur Legitimierung der kolonialistischen Praxis genutzt. Führten Polygenetiker ins Feld, dass auf diese Menschen keine Rücksicht zu nehmen sei, weil sie ja nicht wie „wir“ von Adam abstammen würden, meinte die monogenetische Gegenseite, dass Afrikaner gerade weil sie wie »wir« von Adam abstamme, ein Recht darauf habe, von »uns« erzogen und zivilisiert zu werden. Hier wie dort also ideologische Rechtfertigung von Unterwerfung. Die Konstituierung rassistischer Ideologien diente dabei nicht einseitig der Legitimation kolonialistischer Praxis, vielmehr kam es zu einer gegenseitig sich verstärkenden Wechselwirkung.(5)
Rassismus hatte dabei stets auch seine konstituierende Funktion für das moderne, westliche, männliche, identische Selbst. Die Durchsetzung der neuen Gesellschaft und des »neuen Menschen« waren mit einer massiven Triebunterdrückung, speziell der Unterdrückung sexueller Triebe verbunden.(6) Wie zum Beispiel von Freud und Reich herausgearbeitet, beruht die moderne kapitalistische Zivilisation auf massiver Unterwerfung sexueller Triebe (vgl. z.B. Freud: Das Unbehagen in der Kultur; oder Reich: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral). Diese werden dann verdrängt und tauchen aufgrund des dynamischen Charakters des Systems unbewusst ständig wieder auf bzw. bestimmen das menschliche Handeln in verkehrter Form. Entscheidender Abwehrmechanismus des Ich ist dabei die Projektion.(7) Die unterdrückten sexuellen Triebenergien werden anderen angelastet. Hier „boten“ sich die nicht- bzw. noch nicht zivilisierten Menschen aus den anderen Erdteilen, auf den neu „entdeckten“ und „kultivierten“ Erdteilen an.
Der Rassismus zeichnet sich damit aus: erstens durch bestimmte kulturell-symbolische Zuschreibungen; den Menschen fremder Rassen wird beispielsweise Natur- und Triebhaftigkeit, massive sexuelle Energie, Faulheit oder Verstandesschwäche zugeschrieben; zweitens konstituiert sich das bürgerlich-männliche Subjekt damit selbst, es bestimmt sich als aktiv, männlich, identisch, herrschend, indem es seine nichtidentischen, triebhaften Momente auf jene Angehörigen anderer „Rassen“ projiziert; dem Rassismus kommt also eine spezifische sozialpsychologische Funktion bei der Konstitution des modernen Subjekts zu, welche sich psychoanalytisch dechiffrieren lässt. Drittens schließlich umfasst der Rassismus eine bestimmte materiale gesellschaftliche Praxis, damals also der Unterwerfung oder auch Ermordung (sofern sie den europäischen Kolonisationsvorhaben schlicht „im Wege“ waren)(8) bestimmter Menschengruppen, ihre „Verwendung“ als billigste Arbeitskräfte usw. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass der Rassismus durch Zuschreibungen, praktische Unterwerfung und das Bereitstellen psychischer Mechanismen zur Bildung des neuen bürgerlichen Menschen beitrug.
Keinesfalls darf man auf gewisse „antirassistische“ Theoreme reinfallen, nach denen die Unterdrückten irgendwie besser, unverfälschter, naturnäher wären. Vielmehr handelt es sich gerade hierbei um ein nunmehr positives Aufgreifen rassistischer Zuschreibungen. Der Rassismus selbst ist als ein Moment innerhalb einer komplizieren Natur-Kultur-Dialektik zu begreifen. Er ist zentrale Reaktionsweise und Konstitutionsform des identischen Selbst. Er ist ein Moment der gesellschaftlichen Praxis der Wertabspaltungsvergesellschaftung. Den „fremden Rassen“ wird im Rassismus gerade jene Naturhaftigkeit zugeschrieben, die das identische Selbst aufgrund seiner Autonomie und Identität nicht „bei sich“ haben kann, die aber dennoch vorhanden sind und permanent hervordrängen.(9)

4. Der Antisemitismus – das Bild von der jüdischen Weltverschwörung und die Zuweisung des Künstlichen

Der Rassismus verquickte sich im 19. Jahrhundert mit dem Judenhass. Der Antisemitismus entstand in enger Wechselbeziehung zum Rassismus und entfaltete gerade als Rassenlehre seine fürchterlichste Wirkung. Der französische Naturforscher Boulainvillers war im 18. Jahrhundert einer der ersten, der – im Vorfeld der französischen Revolution – innerhalb seines Landes verschiedene Rassen unterschied: herrschende, adlige Nachfahren der Germanen auf der einen Seite und Nachfahren der Kelten bzw. Gallier, die unterworfen werden müssen. Diese die adlige Herrschaft legitimierende Ideologie wurde alsbald auch von den französischen Revolutionären aufgegriffen, die sich dann als Gallier begriffen. Auch Gobineau, als erster Systematiker des Rassismus, der von drei Großrassen ausging, unterschied innerhalb der weißen »Rasse« nochmals drei Zweige: einen arischen (»japhetitischen«), einen semitischen und einen hamitischen. Wobei die Angehörigen der semitischen Rasse einerseits als Araber außerhalb Europas und andererseits, als Juden innerhalb Europas ansässig wären. Zunehmende »Rassenmischung« führe zur allgemeinen »Degeneration« der Menschheit. Die Juden galten als besondere Gefahr, da sie sich im Landesinneren befanden. Allerdings ist diese »Rassenvermischung« und »Degeneration« bei Gobineau ein unvermeidlicher historischer Prozess, gegen den man nichts unternehmen kann. Im biologistisch-rassistischen Antisemitismus entwickelte sich jedoch alsbald die Vorstellung von den Juden als innerer Gefahr fort zum Bild von der arischen Rasse, welche vom inneren jüdischen Feind ausgesaugt würde, also zu einem Bild vom manichäischen Gegensatz zwischen Ariern und Juden. Der eliminatorische Antisemitismus, der zum Massenmord an sechs Millionen Juden führte, zehrte maßgeblich von diesem Geiste. Nach Auschwitz verschwand die Verbindung zwischen Rassismus und Antisemitismus. Während ersterer sich in einen Kulturalismus transformierte, ging letzterer in einen sekundären Antisemitismus über, der weithin ohne rassistische Momente auskommt und dessen Kernelement in der Phantasie von der Auszehrung der ursprünglichen, arbeitenden und ehrlichen »Völker « durch eine „abgehobene“ Managerkaste und in einem globalen Hass auf den »künstlichen« Staat Israel zum Ausdruck kommt.(10)
Der Antisemitismus knüpft historisch an den mittelalterlichen Judenhass an. Gemeinsam mit diesem bildet er eine antijüdische Tradition, die weitaus älter als der Rassismus ist und bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Die Juden stellten eine „prismatische Gruppe“ (Bauman) dar, waren mit Übeln wie Wucher, Pest, dem Teufel konnotiert. Bei Konversion zum Christentum hatten sich die antijüdischen Diskriminierungen in der Regel erledigt.(11) Die Juden galten als Gegenreligion zur christlichen. Freud erklärt den Judenhass mit dem Hass der Söhne auf die Vaterreligion bzw. mit der Panik vor der eigenen Kastration, welche der beschnittene Penis der Juden bei Christenkindern auslöse (vgl. dazu Freud; Der Mann Moses...). Derartige Erklärungen sind bedenklich, weil sie die psychischen Strukturen des bürgerlichen Subjekts auf vormoderne Epochen rückprojizieren.
Von einem relativ randständigen, sporadischen, wenngleich durchgehenden und häufig brutalen Phänomen werden antijüdische Überzeugungen schließlich in einer modernen Ideologie, dem Antisemitismus, zu einem die ganze Gesellschaft übergreifenden Massenphänomen. Auch der Antisemitismus wird, anders allerdings als der Rassismus, zum Konstituens des männlichen identischen Selbst. Wird im Rassismus tendenziell die Natürlichkeit und wilde Triebhaftigkeit anderen zugeschrieben, so wird im Antisemitismus gleich der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang, welchen man als bürgerliches Selbst (mit) reproduziert, einer bestimmte Gruppe von Menschen zugeschrieben. Die kulturell-symbolischen Zuschreibungen an die Juden lauten: international agierend, unfassbar, machtvoll, verschworen, hinterlistig. Derartige Zuschreibungen, „Bilder vom Juden“ (Benz) entfalteten in der Geschichte eine durchaus eigenständige Wirkung, indem sie sich von ihren gesellschaftlichen Gründen lösten und das Denken der Menschen über Juden Jahrhunderte lang beherrschten. Im Mittelalter bereits existierten Bilder des »jüdischen Wucherers« und »Geizhalses«, Spottfiguren wie die »Judensau« oder Holzschnitte über jüdische Brunnenvergiftungen. Sowohl der moderne Judenhass, der Antisemitismus, als auch der traditionelle Antijudaismus benötigen „Bilder als Kristallisationskerne“, die „Bilder in den Köpfen [werden], die als abrufbare Codes funktionieren“.(12) Besonders bedeutend war dabei das Bild vom reichen und mächtigen Juden, thematisiert etwa von Gustav Freytag in den Romanfiguren Veitel Itzig und Hirsch Ehrenthal, also jüdischen Geschäftleuten mit schlechten Manieren, die nur an den Gelderwerb denken würden.(13)
Als gefährlichstes antisemitisches Bild, muss jenes von der jüdischen Weltverschwörung gelten, in welchem die Zerstörung der Gesellschaft durch jüdisches Agieren halluziniert wird und welches gerade für den aktuellen Antisemitismus das zentrale Bild darstellt. Die berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion«, in welchen »dokumentiert« wird, wie eine geheime jüdische Verschwörung als Vertreterin jüdischer Interessen die Weltmacht erstrebt, können hierzu als deutlichstes Beispiel gelten.(14) Ebenso wirken bis heute klassische antisemitische Bilder fort; etwa wenn der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignaz Bubis, als „Fremder unter uns“ bezeichnet wurde.(15)
Der eigens erzeugte, von den vergesellschafteten Individuen entfremdete fetischistische Wirkungszusammenhang wird im Antisemitismus in den Juden bzw. in einem angeblichen „jüdischen Prinzip“ verortet. Nur so kann das identische Selbst tatsächlich sich seiner imaginierten Identität vergewissern. Es konstituiert sich als autonom und identisch, indem es die abstrakten, zerstörerischen, katastrophischen Seiten seines eigenen Agierens anderen zuschreibt. Damit kann sich das männliche Selbst seine Harmonie und Integrität durch den Antisemitismus versichern.
Der Antisemitismus ist somit zu fassen als eine Krisenideologie im umfassenden Sinne. Das männliche, identische Selbst stiftet innere und äußere Harmonie durch Zuweisung eigener destruktiver Anteile an die Juden. Das Selbst halluziniert sich im Antisemitismus seine Harmonie. Im eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland spitzte sich das vor spezifisch deutschem Hintergrund der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner) und ihrer völkischen, mystisch-magischen und explizit antiaufklärerischen Begründung bis zu Plänen der Vertreibung oder gar Ermordung zu, wie sie dann auch umgesetzt wurden. Bevorzugten die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts noch die Assimilation der Juden, so schritten die Deutschen im 20. Jahrhundert zur Vernichtungstat. Auch heutiger Antisemitismus konstituiert sich entlang des Wunsches nach einer gesunden und krisenfreien Marktwirtschaft. Im heutigen Antisemitismus steht die Weltverschwörung als gefährlichstes antisemitisches Bild im Mittelpunkt.
Auch der Antisemitismus besteht aus historisch übrigens höchst wandelbaren Zuschreibungen (Internationalität, Macht, Viskosität, Gier nach Reichtum und Luxus, zerstörerisches und Blut saugendes Wesen), er hat damit eine sozialpsychologische, nur psychoanalytisch entschlüsselbare Aufgabe in der Subjektkonstitution und erweist sich gleichzeitig als eine bestimmte materiale Praxis, die vom abfälligen Naserümpfen, über das Agieren antisemitischer Parteien, das Verfassen von Hetzschriften, die Friedhofsschändungen, das Pogrom, bis hin zum Massenmord reicht. Seine Funktion als materiale Praxis erfüllt der Antisemitismus auch als Modernisierungsideologie. Unter der Ägide des Antisemitismus schmiedeten sich die Deutschen zur Volks- (und Mords)gemeinschaft zusammen. Unter dem roten Banner des arischen Blutes, ihrem Bild von der reinen geschlossenen und harmonischen Nation und dem Hakenkreuz, als Symbol „der deutschen Arbeit, die immer antisemitisch war und immer antisemitisch sein wird“ (Adolph Hitler), brachten sie tatsächlich „ihr Land voran“. Noch das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger und frühen sechziger Jahre basierte auf den zweifelhaften Errungenschaften der antisemitisch begründeten deutschen Mördergemeinschaft. Der Antisemitismus oder gar der deutsche Massenmord an den Juden ist dabei aber nicht aus dieser Funktion, die er auch hatte, erklärbar.
Der Antisemitismus als basale Ideologie der Wertabspaltungsvergesellschaftung ist ebenso wie die anderen Ideologien dieser Gesellschaft in die Natur-Kultur-Dialektik verwoben. Auch der Antisemitismus resultiert aus dem spezifisch warengesellschaftlichen Mensch-Natur-Verhältnis: er trägt gewissermaßen, indem er die zerstörerischen, abstrakten Seiten, die dieses Verhältnis ausmachen, projizieren hilft, zur Identität des diese Gesellschaft tragenden autonomen Subjekts bei. Den Juden wird dabei im Antisemitismus gerade das nicht-natürliche, das Abstrakte dieser Gesellschaft zugeschrieben. Aber wie Postone in seinem Aufsatz richtig konstatiert: auch dieser Mechanismus funktioniert, wie der Wert, nur dann, wenn er erscheint. Das nicht-natürliche muss sich in natürlichen Menschen niederschlagen. Die Juden gelten den Antisemiten als natürlicherweise unnatürlich.

5. Der Sexismus – die Zuweisung der domestizierten Natur an Frauen

Eine vierte basale Ideologie der Warengesellschaft ist der Sexismus. Die oben beschriebene Form von Gesellschaft funktioniert nur dann, wenn bestimmte kulturell-symbolische Zuschreibungen an Frauen erfolgen. Neben der Zuweisung des gesamten Reproduktionsbereiches handelt es sich dabei auch um die Zuschreibung schlecht bezahlter und unangesehener bzw. als eklig, dem identischen Selbst nicht für würdig befundene Lohnarbeiten, bestimmter Gefühlsregungen, bzw. Sensibilität überhaupt. Die Gesellschaft des identischen Selbst könnte ohne diese Zuweisungen nicht existieren. Ganze Bereiche des menschlichen Lebenszusammenhangs werden vom männlichen Selbst an Frauen verwiesen. Die Herrschaft von Menschen über Menschen ist immer auch eine Herrschaft über die Natur, welche sich innerhalb der menschlichen Gattung als Frauenunterdrückung zeigt und zeigen muss. Dabei geht es wiederum um die Begründung des männlichen Selbst als identisch-autonomes Wesen, als das es als Warenmonade im „verhältnislosen Verhältnis“ bestehen muss. Es konstituiert sich als autonomes Wesen, indem es seine Abhängigkeit, gerade auch von der äußeren Natur praktisch, ideologisch und psychologisch an die Frauen verweist, die sich um den Zusammenhang mit der Natur zu kümmern hätten; es formiert sich als identisches Wesen, indem es seine nichtidentischen Anteile ebenfalls den Frauen zuweist. Dies heißt aber nicht, dass Frauenunterwerfung mit der Unterwerfung des Nichtidentischen gleichzusetzen ist. Vielmehr ist der patriarchale Charakter dieser Gesellschaft wesentlich, gehört also auf der Formebene zu dieser Gesellschaft hinzu.
Auch der Sexismus ist in spezifischer Weise in die der Warengesellschaft typische Natur-Kultur-Dialektik eingeflochten. Kapitalistische Herrschaft bedeutet immer auch Unterwerfung der Natur, die Konstitution der Menschheit als Natur beherrschendes Subjekt, wobei die eigene Natürlichkeit, nämlich gerade die gezähmte, die unterworfene Natürlichkeit, konstituierten Anderen zugeschrieben wird.
Die sexistische Zuschreibung an Frauen, dass diese, da sie Kinder zur Welt bringen können, irgendwie „natürlicher“ wären, ist leider bis weit in antisexistische, gesellschaftskritische und feministische Kreise vorgedrungen. Nichts desto trotz handelt es sich dabei um eine sexistische Zuschreibung. Frauen sind nicht näher an der Natur „dran“, sondern ihnen wird eine spezifische Art von Naturnähe, bezogen v. a. auf Liebe, Sinnlichkeit, Reproduktion von einer männlich dominierten Gesellschaft zugeschrieben. Dass diese Zuschreibungen sich unter Umständen auch psychisch und körperlich fest graben, ist eine andere Sache, die davon streng gesondert werden muss. Frauen sind prinzipiell so natürlich oder unnatürlich wie Männer. Erst der Sexismus schreibt ihnen eine bestimmte Natürlichkeit zu, die das männlich-identische Selbst nicht bei sich dulden kann, da dies seine Autonomie, Freiheit und Identität stören würde.
Allerdings kann man nicht sagen, dass der Sexismus ebenso frei imaginiert wäre wie der Rassismus. Immerhin gibt es bestimmte biologische Gegebenheiten, an welche sich der Sexismus erst knüpfen muss. Zwar kennt die heutige Biologie Keimdrüsengeschlechter, Hormongeschlechter und psychologische Geschlechter.(16) Diese müssen niemals in einer Person identisch sein. Dennoch gibt es ein »biologisches Substrat«,(17) welches dem Rassismus, dem Antisemitismus und der sozial-darwinistischen Zuweisung zu Klassen völlig abgeht. Sexismus gründet auf Umgangsweisen mit dem biologischen Reproduktionsprozess der Gattung- das Mensch-Natur-Verhältnis reflektiert sich also in einer Sex-Gender-Dialektik. Das theoretische Durchstreichen der Kategorie „Sex“ würde die Vermittlung stillstellen, deren Offenlegung aber überhaupt erst einen kritisch-theoretischen Blick auf diese Gesellschaft gestattet.
Während der Sexismus wesentlich in der Zuschreibung vom identischen Subjekt ungeliebter Eigenschaften und Tätigkeiten sowie des Zusammenhangs mit der Natur, der eigenen Sterblichkeit an die Frauen gründet, wird im Antisemitismus die eigene katastrophische Gesellschaftlichkeit bestimmten Menschen angedichtet. Dennoch sind auch Sexismus und Antisemitismus miteinander verquickt. So wurden jüdischen Männern häufig weibliche Eigenschaften angedichtet; es gab den Mythos, jüdische Männer würden menstruieren. Oft begründete antisemitisches Reden über jüdische Männer zugleich ein sexistisches Frauenbild. Aus der Zeit des „Bäderantisemitismus“ Anfang des 20. Jahrhunderts sind Postkarten erhalten, welche darstellen, wie am Strand von Kurorten kräftige »jüdische Mannweiber« ihre zögerlichen hageren, ängstlichen und »weinerlichen« Männer hinter sich her ins Wasser ziehen, während andererseits muskulöse deutsche Männer ihre zierlichen Frauen auf den Händen ins Meer tragen. In diesem Bild vom Juden wird zugleich ein bestimmtes Bild von »der Frau« angesprochen. Sie soll zurückhaltend und zierlich sein und sich auf den Händen umhertragen lassen, während die Juden das entsprechende Gegenbild verkörpern. Gleichzeitig drückt sich hier die Angst vor der Zersetzung der Gesellschaft und tradierter »Werte« aus, das im Auftreten von »Mannweibern« verdeutlicht wird. Die Juden würden also unser althergebrachtes Geschlechterverhältnis und unsere geordneten sozialen Verhältnisse bedrohen und zersetzen.(18)

6. Homophobie – Harmonie fürs zwangsheterosexuelle Selbst

Ebenfalls konstituierend für die Wertabspaltungsvergesellschaftung ist die homophobe Ideologie und die damit verbundene Zwangsheterosexualität, also der Hass auf Schwule und Lesben und das Einfordern heterosexueller Partnerschaften bei Männern und Frauen. Auch sie stützt das bürgerliche Selbst in seiner Identität, indem es hilft, die verdrängten homosexuellen Wünsche bei Männern und Frauen auf jene zu übertragen, die sie tatsächlich ausleben. Das identische, männliche Subjekt konstituiert sich immer auch heterosexuell. Damit wird die Familie als zentrale Instanz der bürgerlichen Gesellschaft erhalten und damit die Reproduktion bürgerlicher Subjekte, die ohne bürgerliche Familienstruktur nicht denkbar wäre, abgesichert. Auch hier gibt es freilich kein funktionales Verhältnis. Vielmehr bringt auch in diesem Fall die Warengesellschaft als vermittelte, hinter dem Rücken und durch die Köpfe verlaufende, jene Denkweisen selbst hervor, auf denen sie aufbaut – Prozess und Resultat sind eines. Hass bzw. Abneigung gegen Schwule und gegen Lesben muss dabei unterschieden werden: In den Schwulen hasst das männliche zwangsheterosexuelle Selbst die eigenen homosexuellen aber verdrängten Anteile, in Lesben evtl. dass sie sich ihnen als Frauen nicht zur Verfügung stellen. Die Zwangsheterosexualität verschwindet nicht mit der heute teilweise zu beobachtender „Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen“, zielt diese maßgeblich gerade auch auf eine weitere Legitimierung der per se heterosexuellen und patriarchalen Institution der Ehe.

7. Identität und Ideologie in der Warengesellschaft

Alle genannten basalen Ideologien der Wert-abspaltungsvergesellschaftung, wie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie/Heterosexismus, Ideologien sozialer Ungleichheit sind vom Verhältnis von Wert und Abspaltung auf unterschiedlichste Weise durchzogen. Ohne sie könnte diese Gesellschaft nicht funktionieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Ideologien funktionalistisch von jemandem benutzt oder missbraucht werden (auch wenn das prinzipiell nicht nur möglich, sondern durchaus auch so strukturell angelegt ist; aber diese Ideologien müssen überhaupt erst einmal da sein, bevor sie irgendwer „missbrauchen“ oder für sich nutzen kann). Die basalen Ideologien sind samt und sonders wesentlich in der der Warengesellschaft typischen Dialektik von Natur und Kultur verankert. In unterschiedlichster Weise versichert sich das bürgerliche Selbst in diesen Ideologien seiner Autonomie und Identität. Identität und Ideologie sind daher innigst verwoben. Adorno bezeichnet die Identität in der Negativen Dialektik als die Urform der Ideologie.(19) Die Identitätslogik geht den jeweiligen Ideologiebildungsprozessen voraus. Gemeinsam ist diesen Ideologien die Konstitution des Eigenen in Abgrenzung zu einem als fremd erscheinenden „Anderen“, welches gerade die eigenen ungeliebten Anteile verkörpert. Sie sind verflochten in die Dialektik von Fremd- und Selbstbeherrschung, der das männliche Selbst unterliegt.
Genannte Ideologien sind in ihrer Eigenqualität zu betrachten, nicht aufeinander reduzierbar – der Antisemitismus nicht aus dem Rassismus erklärbar. So sehr sich diese Ideologien in der Praxis überlappen (viele Sexisten sind Antisemiten), so sind sie doch analytisch zu trennen. Den Ideologien (auch oder besser: gerade innerhalb des Kapitalismus) ist in ihrer historischen Wandlung nachzugehen. Nur weil heute kaum jemand mehr von einer jüdischen Rasse redet, bedeutet dies nicht, es gäbe keinen Antisemitismus mehr. Nur weil die Menge derer, die die „Rassenmischung“ aufhalten wollen, zu vernachlässigen ist, verschwindet nicht der Rassismus. Nur weil man heute allenthalben von Karrierefrauen faselt, ist nicht die sexistische Diskriminierung am Schwinden. Diese Ideologien haben in der Warengesellschaft vielmehr basalen Charakter. Das Agieren gegen eine spezifische Ideologie sollte nicht andere aus dem Blickfeld verlieren – das notwendige konsequente Sicheinlassen auf die Eigenlogik des Antisemitismus darf nicht dazu verführen, etwa den Rassismus auszublenden. Den Ideologien kommt stets eine spezifische gesellschaftliche Funktion zu. Dies darf wiederum nicht dazu verleiten, sie funktionalistisch aus dieser abzuleiten. Die Ideologien sind nicht aus dieser Funktion erklärbar, sondern ihre Entstehung liegt jenseits ihrer Funktionalität und muss vor dem Hintergrund der Konstitution der Warengesellschaft betrachtet werden. Die Ideologien sind basal in der patriarchalen Warengesellschaft angelegt – ergeben sich aus der Art und Weise, wie Individuen diese Gesellschaft (verkehrt) reflektieren.

Martin Dornis

Literaturliste

Adamczak, Bini/ Flick, Bine: décadence naturelle - rassismus/ sexismus/ antisemitismus oder die perversen ränder des hegemonialen körpers
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt, 1997
Becker-Schmidt, Regina/ Knapp, Gudrun-Axeli: Feministische Theorien zur Einführung; Hamburg 2000
Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden, Frankfurt 2003
Borderline: Wie die Nase eines Mannes, so seine Menstruation: Zur Geschlechtskonstruktion in antisemitischen Diskursen; www.copyriot.com/sinistra/magazine/sin03/walser.html
Bovenschen, Silvia: Die aktuelle Hexe, die historische Hexe und der Hexenmythos – Die Hexe, Subjekt der Naturaneignung und Objekt der Naturbeherrschung, in: Becker, Bovenschen, Brackert u.a.: Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes
von Braun; Christina:Nicht-Ich - Logik, Lüge, Libido...Frankfurt 1986
Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen; München
Freud, Sigmund: Das Mann Moses und die monotheistische Religion, In: Studientexte Band 10
Freud, Sigmund:Das Unheimliche, in: Studientexte Band 6
Gransee, Carmen: Grenzbestimmungen
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt 2000
Marx, Karl: Das Kapital – Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals, MEW 23
Poliakov, Leon: Der arische Mythos – Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993
Poliakov, Leon u. a. : Über den Rassismus, Frankfurt 1994
Postone, Moishe : Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Kritik und Krise 1, Freiburg 1993
Reich, Wilhelm: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral – Zur Geschichte der sexuellen Ökonomie; Köln 1995
Schmidt, Alfred: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt 1978
Scholz , Roswitha: Neue Gesellschaftskritik und das Problem der Differenzen – Ökonomische Disparitäten, Rassismus und postmoderne Individualisierung. Einige Thesen zur Wert-Abspaltung in der Globalisierungsära, in: Exit! 1, Bad Honnef 2004
Scholz , Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus – Die postmodernen Metamorposen des Patriarchats; Bad Honnef 2000
Scholz , Roswitha: Die kritische Theorie Adornos und die Wert-Abspaltungs-Kritik, In: Kurz/ Scholz/ Ulrich: Der Alptraum der Freiheit, Ulm 2005
Scholz , Roswitha: Identitätslogik und Kapitalismuskritik
Stein, Eva: Antisemitismus und subjektive Vernunft bei Horkheimer und Adorno (Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen Studien – Band 12), Oldenburg 2002

Anmerkungen

(1) Vgl Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
(2) Vgl. Schmidt, Alfred: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Diese Problematik muss neu gedacht werden: für vormoderne Zeiten kann nicht zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“ unterschieden werden, weil sich Gesellschaft eben noch nicht konstituiert hat und unser heutiges Naturverständnis nur im Gegensatz zu Gesellschaft gedacht werden kann. Daher kann auch nicht umstandslos über vormoderne Zeiten ausgesagt werden, die Menschen wären hier ein besonderer Teil der Natur gewesen.
(3) Bovenschen, S. 275
(4) Ebd. S. 292
(5) Vgl. Poliakov, Leon: Rassismus
(6) Chr. von Braun sagt, dass menschliches Leben prinzipiell auf Triebverzicht beruht, aber erst die moderne Gesellschaft auf der Sexualunterdrückung.
(7) Vgl. Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen
(8) Das trifft auf die Ermordung der amerikanischen indianischen Bevölkerung zu. Diese mit dem Holocaust gleichzusetzen, wie es bisweilen in antiimperialistischen Kreisen geschieht, ist nicht nur eine Relativierung der antisemitischen deutschen Verbrechen, sondern entwirklicht letztlich auch die Ermordung der Indianer, indem auch hier die historische Spezifität dieses Massenmordes verkannt wird.
(9) Hier wurde ausschließlich der koloniale Rassismus betrachtet. Andere Rassismen gehen in dieser Bestimmung nicht umstandslos auf (vgl. Scholz: Neue Gesellschaftskritik)
(10) Vgl. hierzu Poliakov: Rassismus
(11) Als Gegenbeispiel gelten in der Literatur häufig die spanischen Juden, die 1492 vor die Wahl gestellt wurden, das Land zu verlassen, zu konvertieren oder aber ermordet zu werden. Die Konvertierten wurden jedoch als so genannte »Marranen« (Schweine) nach wie vor verfolgt und diskriminiert. Hierbei könnte es sich aber bereits um die ersten Übergänge zum modernen Judenhass, also zum Antisemitismus, handeln.
(12) Benz, Bilder vom Juden, S. 9ff
(13) Ebd. S. 13
(14) Ebd. S. 30f
(15) Ebd. S. 114
(16) vgl. Becker-Schmidt/ Knapp: Feministische Theorien
(17) vgl. auch Gransee: Grenzbestimmungen
(18) Vgl: Borderline: Wie die nase eines mannes, so seine menstruation sowie: Adamczak, Bini/ Flick, Bine: décadence naturelle - rassismus/ sexismus/ antisemitismus oder die perversen ränder des hegemonialen körpers
(19) Ein Bezug auf Adorno ist dabei allerdings nur eingeschränkt und keineswegs im orthodoxen Sinne möglich. Die Identitätslogik wird von Adorno nämlich auch dem Denken selbst zugewiesen als per se identitätslogisches. Denken würde immer identifizieren. Inwieweit es sich hier selbst um eine identitätslogische Aussage handelt, bei welcher Adorno die Logik des identifizierenden Denkens unzulässig auf vormoderne Epochen ausweitet, bleibt zu prüfen.

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last modified: 28.3.2007