Donnerstag, 30.07.2020, Einlass: 18:30 Uhr, Beginn: 19:00 Uhr
Mein Freund der Untergang. Diskussion zum ökologischen Kollaps
Seit einigen Wochen kursiert in Leipzig eine Broschüre mit dem Titel „Mein Freund der Untergang – Elemente und Ursprünge des apokalyptischen Bewusstseins innerhalb der Klimabewegung“.
Die Textsammlung beinhaltet neben älteren und neuen Texten einige Thesen über die Metaphorik eines kommenden Untergangs, die innerhalb der Klimabewegung derzeit verstärkt in Erscheinung treten. Dieses Phänomen bildet den Fokus der Broschüre und wird als apokalyptisches Bewusstsein bezeichnet und einer Kritik zugeführt.
Wir möchten euch hiermit einladen, zusammen mit uns diese Thesen zu diskutieren. Nach einer kurzen Vorstellung der Broschüre wollen wir einige Aspekte der Kritik des apokalyptischen Bewusstseins erörtern, um im Anschluss die Thesen in Gänze mit euch zu diskutieren. Das Editorial und die Thesen veröffentlichen wir an dieser Stelle und bitten euch diese im Vorfeld der Veranstaltung durchzulesen.
Editorial: Tomorrow never comes
Seit dem Frühjahr 2019 gehen mehr und mehr Menschen für das Klima auf die Straße – im Sommer waren es bereits Hunderttausende, die in vielen Großstädten für die Rettung der Zukunft demonstrierten. Immer neue Gruppen „… for Future“ sprießen aus dem Boden und bilden zusammen mit anderen wie „Extinction Rebellion“ eine neue Massenbewegung für den Klimaschutz. Neben massenmedialer Präsenz finden sie auch in den Institutionen Gehör: annähernd 1000 Kommunen riefen im Verlauf des Jahres den „Notstand fürs Klima“ aus und selbst das EU-Parlament folgte dieser Entscheidung am 28. November mit 429 zu 225 Stimmen.
In der öffentlichen Debatte ist die „Krise der Umwelt“ omnipräsent: Berichte über kommende Katastrophen, Kipppunkte und aussterbende Arten sind allgegenwärtig. Nicht nur in den sozialen Medien lässt sich die Angst ums Klima längst nicht mehr von einem Klima der Angst unterscheiden. Der Begriff „Klimahysterie“ wurde gar zum Unwort des Jahres gewählt, und zwar als „politisches Schlagwort für eine angeblich übertriebene emotionale Einstellung“ zum gegenwärtigen Klimawandel. Die American Psychological Association brachte dagegen bereits 2017 den psychischen Niederschlag aufrüttelnder Nachrichten über die Klimaveränderung im Begriff der „eco-anxiety“ oder auch „eco-angst“, als „chronic fear of environmental doom“, in die Öffentlichkeit. Der New Scientist gab mit „stressed about climate change? Eight tips for managing eco-anxiety” bereits eine handliche Checkliste für das Selbstmanagement heraus. Extinction Rebellion und andere greifen auf Konzepte der Encounter- und Selbsterfahrungsgruppen zurück, um im gemeinsamen Trauern die eigene unzertrennliche Verbindung mit der Natur zum Sprechen zu bringen.
Möchte man die Debatte um die Neue Klimabewegung einfangen, dann gerät man immer wieder an die Begriffe „Notstand“, „Untergang“ und „Apokalypse“: Im Notstand würde sich die Menschheit befinden, der Untergang, die Apokalypse stünde uns kurz bevor. Das schockiert, macht Angst und die wiederum verdichtet sich in Untergangsbildern. Allein die Vehemenz und Fluktuation der Untergangsbilder verdecken dabei, dass es sich bei der Angst vor dem Untergang der Menschheit nicht wirklich um ein neues Phänomen handelt. Die Konstruktion des Schreckens als einem kommenden Unheil verbindet die neue Klimabewegung mit ihren Ahnen und bringt sie in eine Konstellation, die aufscheinen lässt, in welcher Szenerie sich deren Untergangsangst bewegt.
Wenn in Hamburg eine Gruppe von 50 Leuten in Form eines Trauerzuges samt Trauergewand und mitgeführtem Sarg – im partnerschaftlichen Geleit der Polizei - durch die Stadt prozessiert, an der Hafentreppe angekommen, den Sarg in Kunstblut baden lässt, Reden über die Einsamkeit in der Trauer am Aussterben des Menschen hält, um dann freudig zusammen die Reste der Performance „Das Blut unserer Kinder“ in den Gully zu kehren, dann kann man das für schlechtes Theater halten. Man kann es als Marotte der quasi-religiösen Gruppe Extinktion Rebellion abtun, der es vor allem auf die Selbststilisierung ankommt. Nimmt man jedoch die Symbolik dieser Aktion ernst, dann wird deutlich, wie es um die Angst vor dem Untergang steht. Bezeichnend ist der Aufbau der Untergangsstimmung, die hier nur ihren deutlichsten Ausdruck findet. In der Performance mobilisiert die Angst zur gemeinsamen Aktion, die zu einer neuen Gemeinschaft führt, worin der zuvor beschworene Untergang aufgehoben scheint: Das Unheil steht bevor, die Zukunft wird im Sarg vor sich hergetragen, um durch Zauberhand nach der Trauerreden umzuschlagen ins große Reinemachen und das neue Miteinander. Dann aber wird der Schrecken zum bloßen Mittel zum Zweck und weckt Zweifel an der düsteren Rhetorik.
Wenngleich sich der überwiegende Teil der neuen Klimabewegung von diesen krypto-theologischen Messen abgrenzt, so stehen deren Symboliken doch für eine Endzeitstimmung ein, die wir als apokalyptisches Bewusstsein bezeichnen und deren Elemente und Ursprünge wir in dieser Broschüre zu fassen versuchen. Zu diesem Zweck schien es uns sinnvoll, auch ältere Texte in die Auswahl aufzunehmen, da spätestens in den von uns angeführten Thesen, die der Textsammlung vorausgehen, klar werden sollte, dass die Jahre nach ’68 für die heutige Situation nicht ganz unwichtig waren. Daher vermögen manche Texte aus den 70er und 80er Jahren die Umbrüche dieser Epoche noch besser zu greifen als Analysen unserer Zeit. Dass in unseren Thesen spärlich auf konkrete Gruppen verwiesen wird, liegt nicht an fehlenden Beispielen – viel mehr ging es uns darum, dem Distinktionsverhalten, das sich allzu leicht damit freizusprechen versucht, mit dieser und jener Aktion oder Gruppe nichts zu tun zu haben, einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Die Abstraktheit der Kritik, die man uns bestimmt nachsagen wird, halten wir die abstrakten Begriffe von Überleben und Untergang entgegen, deren konkrete Kritik wir uns zur Aufgabe gemacht haben. Allein zur Ideologie-Zertrümmerung ist uns zumute, um Breschen zu schlagen für eine Gesellschaft der freien Assoziation und am Spektakel des Untergangs Schaden anzurichten. Herrschaft hat viele Gesichter und ihr letztes haben wir noch nicht gesehen. Insofern überlassen wir das Fischen im Trüben anderen und richten uns mittels der Kritik der Politik an Geneigte – samt dem Vorschlag, mit der Logik des bloßen Überlebens zu brechen und dem Spektakel, wie allen anderen Formen der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der Natur, den Garaus zu machen.
Thesen zum Verhältnis von Wahnsinn und Realität
Angst und Schrecken
1.
Die Metaphorik des Untergangs ist nicht neu, bereits in den 70ern war das Bild einer ausgelöschten Menschheit Triebgrund für Massenmobilisierungen und kehrt seitdem periodisch wieder. Und auch sie hatte eine Vorgeschichte: den religiösen Evergreen der Apokalypse. Wo dieser jedoch noch eine Erlösungserwartung mitbrachte, da blieb nur der große Kladderadatsch – ohne Rettung, ohne Nachspiel: eine „Apokalypse ohne Reich“ (Günther Anders). Statt dem Himmelreich durch Rettershand, stand das reine Nichts durch Menschenhand vor der Tür. Eine Möglichkeit, die sich seither nur in verschiedenen Szenarien wiederholt. Das Coverbild des letzten Menschen verschob sich lediglich vom Atompilz wahlweise auf den von der Sonne Verbrannten in der Wüste bzw. den im globalen Weltmeer Ersaufenden. Vom Irren, der die Erde in die Luft sprengt, hat sich die Angst verschoben zum dem Mensch, der seine eigene und die Zukunft der Erde förmlich verbrennt und am CO2 erstickt.
2.
Die spätmodernen Angstmetaphern des Untergangs haben ihren Ursprung in der Realität der kapitalisierten Gesellschaft und den verhärteten Kollektiven, die aus ihrer Mitte entspringen, für die der Einzelne nichts, die Akkumulation von Kapital und die Identität der Gemeinschaft dagegen alles sind. Nicht nur ist jeder Einzelne ersetzbar, sondern darüber hinaus sind steigende Anteile der Weltbevölkerung vom Standpunkt der Verwertung aus schlicht überflüssig. Nicht nur führt diese Gesellschaft einen Krieg gegen ihre eigenen Möglichkeiten – sie hat ein Destruktionspotenzial angehäuft, das noch alles Lebendige auslöschen könnte. Dass die Gesellschaft dazu fähig und willens ist, Einzelne, Gruppen und die ganze Gattung auszulöschen, bewies die Geschichte hinlängst – dass sie nicht vor sich selbst erschrickt und sich radikal ändert ebenso: Weder Pogrome noch der millionenfache Mord der Nationalsozialisten noch die Atombombe, mit der Macht alles Lebendige auszulöschen, haben zu einem wirklichen Bruch mit der Herrschaft geführt.
3.
Der Wunsch in 20, 30 oder 50 Jahren auch noch vor der Tür spazieren zu können, ohne ABC-Anzug leben zu können und sich nicht im Todeskampf um Trinkwasser zu befinden, ist nicht verrückt. Nicht von einem Atomkrieg in Luft aufgelöst zu werden oder wegen Verseuchung durch „Atomunfälle“ nichts mehr aus dem Boden essen zu können, war es ebenso wenig. Wo jedoch die gesellschaftliche Debatte sich von der Kritik an Ausbeutung von Mensch und Natur, von der Kritik an Herrschaft und Krieg löst und sich der Horizont einer radikalen Veränderung einebnet, da werden die falschen Verhältnisse zu Grundübeln des Menschen, mit denen man umzugehen hat, statt sie als veränderbar zu zeigen. Die Macht, mit der die Verhältnisse den ohnmächtigen Einzelnen gegenübertreten, lässt die Geschichte der Herrschaft in der Ohnmacht der Einzelnen als Naturgeschichte erscheinen. Und wo die Herrschaft des Menschen über den Menschen und über die Natur die Form einer ewigen Konstante annimmt, wird der Mensch selbst zum Feind. Die Verdrängung der Herrschaftsverhältnisse findet ihren profitablen Widerhall in den Psychowaren der irregulären Kräfte ebenso, wie in den Konferenzen der “seriösen” Bataillone der Psychopolitik, die dieser nicht mehr so neuen Angstform bereits ihren akademisch-geadelten Begriff der “eco-anxiety” gegeben haben: Die Arbeit an der eigenen Psyche gerinnt zur scheinbaren Lösung der falschen Gesellschaft.
4.
Die reale Angst der Menschen vor der Gesellschaft, wie sie ist, und vor dem, zu was sie fähig ist, verschiebt sich auf den Menschen an sich, der zum Feind, zum Schädling wird. Durch die Ohnmacht der Einzelnen erscheint die Realität als eine einzige Quelle von Gefahren und die Menschen selbst als deren Agenten. Diese Angst wirkt übermächtig und allgegenwärtig und trägt so dazu bei dass ihre Gründe undurchsichtig und verstellt sind. Die Angst flottiert frei im Raum, der unsere Gesellschaft ist. Weil es der Mensch an sich sei, der Krankheitsbringer, Umweltzerstörer etc. ist, wird er selbst zur Angstquelle, zur Gefahr. Die Gefahr für Leib und Leben, die so dauerhaft gespürt wird, wird zur Paranoia – die anderen zu potenziellen Mördern. Der Mensch an sich wird zum Raubtier, zum Schädling, der an der Natur nagt und am Fortbestand der Menschheit selbst. Weil der gesellschaftliche Zusammenhang obskur und abstrakt, für die Einzelnen undurchschaubar wirkt, ist die Angst frei flottierend und ihre scheinbaren Gründe werden nach außen als Gefahr zur frei flottierenden Projektion. Für die Paranoia inkarniert sich die Gefahr immer wieder und quasi natürlich in einzelnen Gruppen, die tendenziell austauschbar werden; immer aber nehmen sie die Funktion des Bösen an sich an, stellen dessen Inkarnation dar. Von der “Umweltsünderin” zur “Bevölkerungsbombe” findet die “pathische Projektion” (Adorno & Horkheimer) ihren sprachlichen Ausdruck und differiert lediglich in der Erscheinung nach milieuspezifischem Habitus.
5.
Die Omnipräsenz der Gefahr wird zum drohenden Untergang, der finalen Krise. In allen Diskursen wiederholt sich, dass die kommende Krise nur in einer nie gekannten Anstrengung abgewendet werden kann: Vereint stünden alle vor einem schrecklichen Ende. Dafür sollen sich alle eingestehen, wie nah sie vor dem Abgrund stünden und gemeinsam anpacken. Immer scheinen alle in einem Boot zu sein und alle, die wirken als wollten sie nicht rudern, um den Kahn auf Kurs zu halten, vermeintlich gar den Kurs anzweifeln, werden zu Aussätzigen der Menschheit: zu Frevlern an der Zukunft, zu Gefährdern des bloßen Überlebens der Gattung.
6.
Die drastischen Farben der Untergangsbilder zielen auf einen Schrecken, der zur Abwendung des Untergangs führen soll. Ziel sind die Mobilisation und die Bewegung, welche die Zukunft retten soll. Dabei kann die Drastik der Bilder nie genügen, denn sie selbst ist reines Mittel zum Zweck der Mobilisation. Die dabei auftretende Metaphorik verhält sich zur Angst wie diese zu ihrer undurchsichtigen Quelle – sie ist überall und allmächtig. Die mobilisierte Masse wird gegen die Angst in Stellung gebracht, sie bringt die Gefährdeten zusammen und wirkt als Brücke zwischen den von Angst Getriebenen. Die Schockstarre wird temporär aufgehoben und dynamisiert die von Angst getriebene Gesellschaft. Aus der Negativität wird so selbst ein Positives, die Gemeinschaft der Retter. "Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch" (Hölderlin) wird zum eigentlichen Mantra der Gemeinschaft des Untergangs.
Absolute Gegenwart
7.
Indem das Negative der drohenden Gefahr zum Positiven der rettenden Gemeinschaft verkehrt wird, verkehrt sich die Angst vor der Zukunft zum Kitt der zukünftigen Gemeinschaft. Ihr Sand im Getriebe des Systems ist der Zement von morgen. Längst hat sich die um ihre Zukunft bangende Gesellschaft dahingehend dynamisiert, dass sie im stets drohenden Untergang in der Zukunft, ihre eigene Gegenwart samt deren Herrschaftsmechanismen reproduziert. Der Schrecken vor dem Ende ist zum Schrecken ohne Ende geworden.
8.
Der dauerhafte Schwund der Zukunft, ihr stets drohender Verlust, gerinnt zu einer absoluten Gegenwart. Darin scheint die Gesellschaft im Bild ihres eigenen Untergangs selbst geschichtslos, ihre Vergangenheit ward je nur der Zustand einer drohenden Katastrophe, deren Phantasmen auswechselbar wirken. Die Geschichte ist stillgestellt und doch läuft alles weiter – die Uhren ticken und doch ist es immer 5 vor 12.
Formwandel der Herrschaft
9.
Dieser gesellschaftliche Zustand hat jedoch selbst Geschichte. Er hat einen Anfang und kein Ende, weil er sich gerade im drohenden Ende stets neu setzt. Im drohenden Verlust erreicht er immer aufs Neue die eigene Reproduktion. Das drohende Ende mobilisiert die Kräfte für das Ewiggleiche: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist. Insofern noch hat jede Krise zur Erneuerung geführt, weil noch immer weitergemacht wurde, ohne, dass man die Herrschaft gestürzt hätte. Doch keine Krise hat die Macht zu einem derart achtsamen Formwandel veranlasst wie die von “68”.
10.
Der Angriff derer, die in dieser Gesellschaft keine Zukunft sahen, und den man heute im Begriff der Protestbewegung von `68 erinnert, war Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise, in der die Herrschenden nicht mehr konnten, und die Beherrschten nicht mehr recht wollten. Die Gesellschaft der Ware hatte ihren sicheren Tritt verloren – allein ob dies an der Macht der Beherrschten lag, darf bezweifelt werden. Am Rande der Staatskrise setzt der französische Präsident De Gaule auf ein Referendum, das die “Partizipation” der Massen in den Apparat zur Abstimmung stellte, um die ins Wackeln geratene “Zivilisation” zu retten. Von der Mehrheit abgelehnt, besiegelte dies den Sturz des Generals und doch hat er recht behalten, indem “alles darauf hindeutet, dass die Veränderung eine breitere Beteiligung aller an den Ergebnissen der Aktivitäten, von denen sie direkt betroffen sind” (De Gaule), beinhalten musste. Recht bekam er, indem er mit seinem kühnen Entwurf den Weg für den Formwandel der Herrschaft beschrieben hat, auf dem nun der neue Gleichschritt exerziert wird.
11.
Aus dem Ruf nach Selbstbestimmung schöpfte die Macht die Refugien für die “Psychokratie” (ISF Freiburg), als freiwillige Selbstverwaltung der Ausbeutung durch die Ausgebeuteten. Auf dem Rücken der Revolte setzten sich die abstrakte Autoritätskritik und der Ruf nach Beteiligung durch. Sie markieren die kybernetisch verfasste bürgernahe Verwaltung der Krise aus dem Grund der “Dialektik des antiautoritären Bewusstseins” (Krahl). Die Kritik der Warengesellschaft gerann zur Konsumkritik, die Kritik der Herrschaft zur Kritik des verstaubten Managements von oben. Indem die Herrschaft als verstaubte Bürokratie kritisiert wurde, trug diese Kritik bereits das trojanische Pferd der Modernisierung kapitalistischer Herrschaft in die Hallen der müde gewordenen Gesellschaft und konnte so in zerstäubter Form ihre Funktion mit neuer Kraft und neuem Geist aufnehmen. Aus der einstigen Erkenntnis, auf die Einzelnen und deren Grundlage in Form einer bewohnbaren Welt komme es in der kapitalisierten Gesellschaft nicht an, auf welche der Protest und die Revolte folgten, wurde das Mantra, gerade auf die Einzelnen käme es an, damit die Gattung weiter bestehen könne.
Einheit und Zerfall
12.
Durch die Macht pariert, gab die Krise der 60er Jahre für die Akkumulation einen neuen Drive. Das damalige Krisenbewusstsein war bestimmt durch einen Verlust des Gleichgewichts – sei es im Verhältnis zur Natur oder zwischen den Menschen und deren Institutionen. Die 70er Jahre waren ein riesiges Spielfeld des Krisenmanagements, eine Sprießquelle ideologischen Kitts. Der Ökologismus stellt dabei den ideologischen Widerschein der damaligen Umweltkrise dar: In der Unterwerfung unter die erste Natur fand man einen würdigen Ersatz für die bis jetzt gescheiterte Befreiung von der zweiten Natur kapitalistischer Vergesellschaftung, nur um diese desto sicherer zu reproduzieren. Die Überwindung der Krise war gleichbedeutend mit einer Rückgewinnung des Gleichgewichts. Die Verschiebung der Krise der Gesellschaft in eine des Naturverhältnisses verschob so die Basis der Krise hin zur Krise des Menschen mit sich selbst. Die Krise der 60er Jahre hat nie aufgehört zu wirken, indem sie in den einzelnen Angst- und Krisendiskursen nur eine Verschiebung durchmacht hat. In der Dynamisierung durch das Krisenmanagement hat sich der Begriff der Krise jedoch verändert und wurde zum ständigen Begleiter. Wo die Krise der 60er noch eine paralysierende Wirkung hatte und eine Krise der Gesellschaft des Spektakels aussprach, so hat sich die Krise selbst zum Spektakel verwandelt, das zu mobilisieren vermag.
13.
Der Verlust der Einheit wurde dynamisiert zur neuen Einheit, die, stets im Werden, zu einer Dauermobilisation führt. Die Krisenstimmung der 70er und 80er bewegte sich vom möglichen Atomschlag zum Supergau, sie wechselte dabei nur ihre spektakulären Bilder und findet seither stetig neue. Die Ideologien der Krise antworten darauf mit einer Naturalisierung der Krise, die nur der gesellschaftlichen Dynamik mythi- schen Glanz gibt und den Druck auf die Einzelnen erhöht, welche nun selbst in Form personalisierter Gefahr zu den Gefährdern für die Gattung werden. Damit einher ging der neue Protestantismus gegen den “Konsumwahn” und die “Umweltsünde”, der seine jeweils eigenen Projektionsformen aus der Mitte seines Mystizismus der Herrschaft gebiert: gerade auf den Einzelnen käme es an, damit das Gleichgewicht wieder gefunden werden kann.
14.
Das Schreckbild CO2 hat den Atompilz abgelöst und verlagert die Gefahr auf den einzelnen Menschen, der quasi die Zukunft der anderen konsumiert. Gefahr und Rettung stellen sich in Form der richtigen Entscheidung innerhalb der Warenpalette dar. Der “ökologische Fußabdruck”, welchen man fleißig einzelnen sündigen Waren und “Umweltsündern” vorzurechnen versucht ist, ist die subjektivistische Krisenlösung der kapitalisierten Gesellschaft. Der Mensch erscheint rein als Konsument und die „Umweltkrise“ als ein Problem des falschen Konsums.
15.
In zuerst noch moralischer Vorwärtsverteidigung gebiert sich die rettende Gemeinschaft, bevor schlagkräftig in putativer Notwehr gegen die eigenen Projektionen zu Felde gezogen werden kann. Der moralischen Ökonomie der rettenden Gemeinschaft korrespondiert die avantgardistische Rolle eines neuen, grünen Akkumulationszyklus, ihren polit-ökonomischen Charakter erhält sie in der Forderung nach dem Notstand. In den omnipräsenten Rufen nach dem Notstand vereint sich der Balzruf an den Souverän, den Richter. Der aber kommt nicht mehr vom Himmel, sondern ruht im stahlharten Gehäuse der Hörigkeit gegenüber profaner Herrschaft. Sie wird technisch garniert durch die Versessenheit auf ein fetischisiertes Bild der Wissenschaft, die sich als monolithischer Block darstelle, auf den man nur zu hören brauche und der längst die Pläne für ein “neutrales” Dasein des Menschen bereithalten würde.
16.
Im Spektakel des Klimanotstands vereint das Schreckbild des kommenden Untergangs die kommende Gemeinschaft der Rettenden. In ihr gesellen sich die linksdrehenden Pfaffen einer Politik der Zukunft mit den “unpolitischen” Gruppen für “Future, Future” im Glauben an ein kommendes Unheil. Wo die einen ihr jeweiliges Klientel for Future auf Trab bringen, kanalisieren die Bewegungsmanager wahlweise hin zum „Green New Deal“ oder zum „Systemchange“ im „Postwachstum“, um die Herrschaft nachhaltig aufzuhübschen. Beide Seiten paaren sich in einer frenetischen Angstlust vor dem Untergang, der längst mehr als das reine Nichts verspricht. Das Gebaren einzelner Gruppen, die man so gern aufgrund ihrer kryptotheologischen Performances belächelt, ist weit mehr als ein Randphänomen, sondern Ausdruck davon, dass die Untergangsvision längst zum „Stahlbad“ (Pohrt) geronnen zu sein scheint, von dessen Durchstehen man sich Mehrwert erhofft.
17.
Andere dürften dagegen die Geschichte nicht in Form eines kommenden Untergangs sehen, sondern als permanente Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer häuft. Der Notstand, der Ausnahmezustand, den sich die einen wünschen, diesen wissen die anderen als Zustand, in dem sie Leben, als Regel ihres Daseins. Einzig das Wissen um die “Tradition der Unterdrückten” (Benjamin) trennt sie: der Gedanke, dass die Bewahrung dieser Zukunft mit der Bewahrung jenes Zustands korrespondiert.
18.
In der Abstraktheit des Krisenbegriffs korrespondiert das Spektakel des Untergangs mit der Austreibung der Geschichte aus dem Denken und speit einen miefigen Brei aus, dessen Positivität noch aus allen Poren des apokalyptischen Sprechs trieft. Die falsche Abstraktion, die über und durch die Menschen herrscht, kennzeichnet eine Gesellschaft, die längst zum Gefängnis wurde.
In der ubiquitären Rede von der Gefahr für DAS LEBEN verspricht sich das Stockholm Syndrom ihrer Insassen – hauptsache weiter, egal wie. Allein die Gewissheit, dass das “Leben nicht lebt” (Ferdinand Kürnberger) gemahnt an die Mauern, die es je zu stürmen galt, an die Frage nach dem glücklichen Leben statt dem bloßen ÜBERLEBEN und die unumstößliche Gewissheit, dass ein Leben unter diesen Verhältnissen nicht lebenswert ist. Gegen das Spektakel des Untergangs muss ein Kontinuum der Geschichte wieder freigesprengt werden, um eine Zukunft zu ermöglichen, die sich wesentlich unterscheidet von der bloßen Verlängerung der absoluten Gegenwart.
November 2019
siehe auch: aergernis.blogsport.de/2020/06/09/wutpilger-streifzuege-06-2020/?fbclid=IwAR0b5ScFewWFKPatSLl