Dienstag, 26.06.2018, Einlass: 19:00 Uhr
Identitätskrise – Eine Vortragsreihe von HARP- Teil 2
Identitätskrise
Drei kritische Interventionen
Der Begriff der „Identität“ ist selbst identitär aufgeladen. Gilt er den einen als Gegenbegriff zu moderner Dekadenz und Sittenverfall, gilt er den anderen als Teufelszeug, das es rundherum abzulehnen gälte. Die einen sehen das Abendland in einer Identitätskrise versinken, die anderen erblicken in ihr die Chance eines postidentitären Aufbruchs. Auch von linker Seite wird das Konzept einer „Identitätspolitik“ von manchen als Werkzeug postmodernen Widerstands betrachtet, von anderen als Annäherung an rechte Identitätsverklärung kritisiert.
In drei Vorträgen will sich diese Reihe kritisch mit dem Konzept der „Identität“ vor dem Hintergrund des Erstarkens identitärer Bewegungen in der Region Leipzig und weltweit auseinandersetzen. Die gewählten Perspektiven sind dabei so vielfältig wie das Thema selbst. Am 21. 6. möchten Paul Stephan und Benjamin Kaiser jeweils eine Kritik am diesem Konzept mit dem Versuch verknüpfen, ein Gegenmodell dazu vorzuschlagen. Paul Stephan möchte in seinem Vortrag zu diesem Zweck den Begriff der Authentizität ins Spiel bringen und Thesen für eine anti-identitäre Bewegung zur Diskussion stellen. Benjamin Kaiser plädiert in seinem Vortrag mit Emmanuel Levinas für eine „Kleine Identität“ als Gegenmodell zu der „großen“ der Identitären Bewegung. Am 26. 6. nimmt Christian Niemeyer die Identitätskrise Friedrich Nietzsches nach der Wagnerära resp. den „Fall Nietzsche(s)“ zum Aufhänger für seine Antwort auf die Frage, warum da einer nicht wurde, wer er ist: Nietzsche.
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Christian Niemeyer:
Der Fall Nietzsche(s), oder: Warum da jemand nicht wurde, wer er ist: Nietzsche
Identität ist das – in psychotischen Episoden schwindende – Wissen darum, wer man ist und was man will. Das Erstere stellt sich in der Regel im Alter von vier oder fünf Jahren ein. Ich – wer über Identität reden will, darf mit Vokabeln wie dieser beginnen – jedenfalls kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich eines Tages, in etwa in diesem Alter, auf einmal staunend des Umstandes gewahr wurde, dass ich Ich war – und nicht irgendjemand anderes. Ich kann mich allerdings gleichfalls noch gut daran erinnern – ich muss zwölf oder dreizehn gewesen sein –, wie und unter welchen Umständen ich im Begriff stand, mir oder dem, was mir über mich gesichert schien, untreu zu werden: Das Telefon hatte geklingelt – und ich sollte dem Anrufer wahrheitswidrig und insoweit zu meiner stillen Empörung versichern, mein Vater, der offenbar Anlass hatte, den Anruf eines sich beschwerenden Kunden zu erwarten, sei noch nicht zu Hause. Gewiss, später, im gleichsam gesellschaftsfähigen Alter, erledigt man derartige Verleugnungsleistungen routiniert – wie beispielsweise der neunundzwanzigjährige Nietzsche in seinem Schlüsseltext Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) ausführlich und zugleich letztlich laut klagend erläuterte – klagend, weil ihm auf dem Höhepunkt seiner Wagner-Idolatrie keineswegs entgangen war, dass für ihn, den Erwachsenen, die Welt des Kindes, die Welt des Spiels und der Unschuld des Werdens und der Nicht-Verstellung, endgültig verloren schien zugunsten des verachtenswerten Agierens auf einem unwirtlichen Planeten voller Lüge und Trug, auf den man sich im eigenen Interesse voller Vorsicht und Klugheit zu bewegen hat, alle Zeit bereit, sich selbst zu verleugnen. Verzweifelt sann Nietzsche ab da an nach einem Ausweg, um seinem eigenen Vorsatz aus Schopenhauer als Erzieher (1874) wieder Geltung zu verschaffen: „[S]ei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst.“ (I: 338) Wie man weiß oder zumindest als Nietzscheforscher wissen sollte: Nietzsche fand diesen Ausweg nicht, musste über sich selbst das Unheil sich vollziehen sehen in Gestalt des schrecklichen Bannrufs aus Morgenröthe (1881): „[D]u wirst gethan! In jedem Augenblick!“ (III: 115)
Damit ist, in etwa, der Auftrag benannt, den der Vortrag Folge zu leisten versucht: Ist – so könnte man vielleicht auch fragen – Identität und damit Nicht-Entfremdung ein unrettbar verlorenes Projekt aus fernen Tagen der Kindheit, als man Vokabeln wie ‚Wahrheit‘, ‚Offenheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Fairness‘ und ‚Mut‘ noch wie Heiligtümern huldigte? Oder gibt es noch Hoffnung – Hoffnung auf moralisches Agieren auch von Erwachsenen, Hoffnung auch, sich selbst am Ende unter dem Müllhaufen der eigenen Erfahrungen als ein Wesen herauszerren zu können, dass auch wirklich wollte, was in der Folge geschah? Fragen wie diese möchte ich anhand eines Falles diskutieren: dem Fall Nietzsche(s) – wobei der Klammerausdruck schon andeuten soll, dass es auch um den Fall Nietzsches im Sinne eines Krankheitsfalls zu tun ist, unter Einschluss des höchsten wohl vorstellbaren Verlustes von Identität, sich zur Anzeige bringend in dem den Bereich der Psychose streifenden Gefühl, dass man getan wird und in Zukunft immer stärker getan werden wird.
siehe auch: harp.tf/2018/10/05/identitaetskrise-eine-vortragsreihe-in-leipzig-am-21-26-6-2018