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Termin: 21.11.2014

Café

Freitag, 21.11.2014, Einlass: 19:00 Uhr, Beginn: 20:00 Uhr

"Fünf Löcher im Himmel"

Rocko Schamoni


siehe auch: rockoschamoni.de
Rocko Schamoni "Fünf Löcher im Himmel"

Paul öffnete eine Dose Bier und hob sie langsam zum Mund. Er trank einen großen Schluck und zündete sich dann eine Ernte 23 an. Es war ziemlich kalt draußen, und er hatte sich auf die Tüte mit der Decke gesetzt, damit sein Hintern auf der Bank nicht kalt wurde. Er beobachtete das Wohnhaus. Abwechselnd wanderten die linke Hand mit der Dose und die rechte Hand mit der Kippe zu seinem Mund. Der Rauch vermischte sich mit der kondensierenden Atemluft. Seine Füße froren trotz der schweren Knobelbecher.
Die Arbeiter räumten unterdessen die Wohnung aus. Zu viert trugen sie Stück für Stück auf die Straße, das meiste landete sofort im Container, einige Möbel stellten sie zur Seite. Kleidung, Papier, Fotos, Alltagsutensilien stopften sie in graue Plastiksäcke, die sie in ihren Bus schoben, um sie später zu sortieren.
Paul blickte über sich in den fahlen Nachthimmel der Großstadt. Ein paar Sterne waren zwischen den dunklen Wolken zu sehen, sonst nichts. Er schnippte die Kippe hinter sich ins Gebüsch. Sein Blick war leer, die grauen Haare wellten sich ungewaschen unter der Fellmütze hervor. Er zog die Kochhandschuhe gegen die Kälte wieder an, andere hatte er nicht. Die Arbeiter schmissen Teile des Betts in den Container. Ein verächtliches Lächeln huschte über Pauls Gesicht. »  .   nichts als Maschinen, ausführende, stumpfe Automaten .   , flüsterte er. »  nichts ’ne Ahnung, an nichts Interesse, kein Gefühl, kein gar nichts .   Maschinen .    Er spuckte vor sich auf die Straße. Durch das Fenster sah er, wie einer der Arbeiter im Wohnzimmer Bilder abhängte und sie hinaustrug. Paul stand auf und näherte sich langsam dem Container. »  Alter, verpiss dich, det is ’n Privatcontainer, nix anassen, ja  , schrie ihm ein Arbeiter zu. Paul griff nach einer halb zerbrochenen Zigarrenkiste, die aus dem Gerümpel hervorlugte, er öffnete sie und warf einen Blick auf die Fotos, die darin lagen. Er steckte die Kiste in seinen Seesack, dann griff er nach der schweren Wohnzimmerlampe, die zerbrochen in dem Container lag. Er löste die Metallkugel von ihrem Sockel und wog sie prüfend in den Händen. Er holte aus und schmiss sie mit weitem Schwung in die große Wohnzimmerscheibe, die splitternd und klirrend zerbarst. Die Arbeiter sprangen erschrocken zur Seite, es herrschte einige Sekunden Totenstille.
Als sie schließlich ans Fenster traten, war Paul schon weg.
Er zog seinen schweren Rollkoffer hinter sich her, den Seesack hatte er sich über die Schulter geworfen und die Tüte unter den Arm geklemmt. Um seinen groben Mantel hatte er einen Ledergürtel geschnürt. Langsam trottete er die Straße entlang, unbeirrbar, als hätte er ein festes Ziel im Blick. Ab und zu blieb er stehen, um die Hand am Koffergriff zu wechseln. Er bog in eine Seitengasse ein, lief sie hinunter, beobachtete schweigend die Häuser und Wohnungen, an denen er vorbeikam, die Kneipen und Läden und die überall geparkten Autos. Sein Gesichtsausdruck blieb regungslos. Straße für Straße lief er hinunter und Viertel für Viertel, manchmal setzte er sich für einen Moment auf eine Bank oder eine Mauer, rauchte eine Zigarette und starrte dabei in das Nichts zwischen den Sternen.
Schließlich, nach Stunden, erreichte er den Stadtrand. Die Häuser wurden flacher, es gab kaum noch Geschäfte und Kneipen, nur noch endlose Wohnsiedlungen, von kleinen Straßen und Wegen durchzogen, ab und zu einen Zeitungskiosk, die Außenhaut eines gigantischen Organismus.
Paul kam zu einer Schrebergartensiedlung. Die Nacht war halb vorüber, und es hatte zu nieseln begonnen, langsam zog die feuchte Kälte in seine Kleidung. Er fand eine Hütte, die verlassen aussah, die Parzelle war verwildert, die Gartenpforte hing schief in den Angeln. Vorsichtig betrat er das Grundstück, das von einer hohen Buchsbaumhecke umgeben war, und arbeitete sich zur Eingangstür der Hütte vor. Sie war verschlossen. Paul lehnte sich langsam, aber mit dem ganzen Gewicht seines Körpers dagegen und hielt den Griff gedrückt, irgendwann hörte er ein knackendes Geräusch, das morsche Holz des Türrahmens gab nach, und Paul trat ein. Er leuchtete mit dem Feuerzeug in den Raum. Vor ihm lag ein ziemlich verwahrlostes, kleines, aber komplett eingerichtetes Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und zündete die Kerze an, die auf einem Campingtisch in der Mitte des Raumes stand. Er setzte sich auf das Sofa dahinter und atmete tief durch. Eine Weile beobachtete er den Dunst, den seine Atemluft in der Kälte bildete, dann schlief er ein, und sein Kopf sank auf die Brust.
Ein Knurren weckte Paul. Er schlug die Augen auf. Ein paar Sonnenstrahlen schienen ihm durch das verstaubte Wohnzimmerfenster ins Gesicht. Es knurrte wieder, hell und unangenehm rasselnd. Langsam griff Paul nach dem Messer in seiner Manteltasche, er öffnete die Klinge mit dem Daumen und zog es vorsichtig heraus. Dann beugte er sich vor, um den Raum überblicken zu können. In der Ecke neben dem Kühlschrank hockte ein Tier, er konnte es im Schatten kaum erkennen, vielleicht ein Marder. Langsam erhob sich Paul und griff dabei mit der anderen Hand nach einem schweren gläsernen Aschenbecher vor ihm auf dem Tisch. Der Marder knurrte, bewegte seinen Kopf drohend vor und zurück. Je näher Paul kam, desto nervöser wurde das Tier, langsam hob er die Hand mit dem Aschenbecher, doch plötzlich brach der Marder fauchend aus der Ecke hervor, sprang blitzschnell an ihm hinauf, biss wütend in den Mantel und stürzte quiekend durch den Raum und unter das Sofa. Nervöses Geraschel war zu hören, dann herrschte für einige Sekun-den absolute Ruhe. Vorsichtig hob Paul mit der linken Hand das Sofa an, in der anderen hielt er den Aschenbecher. Aber der Marder war verschwunden. Paul durchsuchte die Schränke nach etwas Essbarem, er fand ein paar alte Teebeutel und zwei abgelaufene Konservendosen mit Erbsensuppe, die er sich auf dem Herd aufwärmte. Er sah sich ein bisschen um, entdeckte eine elektrische Heizung und drehte sie auf.
Die Suppe aß er im Stehen. Danach kramte er die Zigarrenkiste aus seinem Seesack. Er setzte sich damit auf einen Stuhl ans Fenster, ließ die Fotos durch seine Finger gleiten und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Es waren vergilbte Bilder aus unterschiedlichen Zeiten und Situationen seines Lebens. Ein Gartenfest, Paul am Grill, betrunkene, lachende Männer um ihn herum. Paul mit einem Schäferhund am Hafen. Ein Haus am Waldrand, davor zwei Frauen in Regenmänteln, lachend. Paul mit einer Frau in Hochzeitskleidung. Er rauchend in einem Cabriolet mit einem Mädchen neben sich. Ein altes Passfoto, auf dem er sehr adrett und frisiert aussah. Ein altes schwarz-weißes Klassenfoto. Paul mit einem Glas Schnaps in der Hand an einen Baum gelehnt, wie er mit einer Pistole auf den Fotografen zielte. Er dachte einen Moment lang nach, dann legte er die Fotos zur Seite, wühlte in seinem Seesack und zog die Pistole hervor. Luger Parabellum. »  vis pacem para bellum – wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor , murmelte Paul vor sich hin. Er öffnete das Magazin, die Pistole war mit fünf Patronen geladen. Er lehnte sich zurück an den Küchenschrank und zielte vor sich in den Raum. Dann hielt er die Pistole an seine Schläfe und schloss die Augen. Nach einer Weile lachte er trocken und ließ die Pistole sinken. Er betrachtete ein altes Klassenfoto und entdeckte sich stehend in der letzten Reihe mit merkwürdigem Blick, starr in die Kamera stierend. Was hatte das Leben aus all den anderen gemacht  An die meisten Namen konnte er sich nicht erinnern. Mit einem Kugelschreiber malte er denjenigen, von denen er nicht wusste, was aus ihnen geworden war, ein Fragezeichen ins Gesicht. Alle, von denen er wusste, dass sie bereits gestorben waren, markierte er mit einem Kreuz. Es blieben nicht viele übrig. Zwei Jungen neben ihm, seine damaligen besten Freunde, zu denen er aber seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Halb verdeckt hinter einem dicken Jungen, ganz links außen, stand ein Mädchen, auf das er erst jetzt aufmerksam wurde, sie hatte den Blick gesenkt, legte augenscheinlich keinen Wert darauf, im Bild zu sein. Katharina Himmelfahrt. Aus dem Nichts erschien dieser Name in seinem Kopf, ploppte auf wie eine Luftblase an der Oberfläche eines Sees, dieser Name, den er seit unendlich vielen Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte. Katharina Himmelfahrt. Etwas Beschwingtes durchströmte ihn, wenn er sich ihr Gesicht vorstellte, alte, lang verschüttete, positiv belegte Synapsenverbindungen wurden reaktiviert. Er erinnerte sich an die Aufregung, die er in sich verspürt hatte, wenn er damals mit ihr zusammen gewesen war. Nur in diesem einen langen Sommer, bevor er die Schule verlassen hatte.
Unter den Fotos in der Zigarrenkiste lag auch ein schwarzes Schulheft, auf dessen Etikett ein großes Fragezeichen gemalt war. Paul schlug es auf und las die krakelige Schülerschrift.
Dieses Heft ist privat 
Was darin steht, geht niemanden etwas an 
Wer auch immer es lesen sollte, wird dafür bestraft werden. Hier lagern die Aufzeichnungen eines Unbekannten. Falls sie jemand finden sollte, wird er gebeten, dieses Heft zu verbrennen 
Erst wenn ich tot bin, darf dieses Heft gelesen werden von der Nachwelt. Damit ich nicht vergessen werde.

P. 
1966





[aus dem CEE IEH #218]

17.11.2014
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