Freitag, 18.11.2022, Einlass: 18:30 Uhr, Beginn: 19:00 Uhr
Russland - Ein Bollwerk der Konterrevolution
Kontinuitäten und Brüche einer halb-asiatischen Despotie
In Deutschland hielten selbst Kritiker des Putin-Regimes und pessimistische Berichterstatter der Moskauer Politik einen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht für möglich. Dabei ist es keineswegs so, dass das Land auf eine westliche Aggressivität (»Vordringen der NATO«, »Einkreisungsstrategie des Westens« oder »Verschwulung Russlands«) reagiert. Die russische Aggression entspringt vielmehr dem bedrohlichen Charakter des russischen Staates selbst, dem wir in unserem Vortrag auf die Spur kommen wollen. Dabei sind zugleich Perspektiven aufzuzeigen, die über die derzeitige Misere hinausweisen. Die politisch nach außen gerichtete Aggressivität ist keine in der russischen Nationalpsyche statisch festgelegte Konstante, wie das Geraune von einer »asiatischen Gefahr« nahelegen könnte, dem der von uns verfolgte materialistische Ansatz strikt entgegengesetzt ist. Sie resultiert vielmehr aus der russischen Geschichte. Putin höchstselbst knüpft über Stalin und die Sowjetunion an die Tradition des russischen Zarismus an. Seine Herrschaft, so unsere These, reaktiviert damit Elemente der russischen Geschichte, die noch weiter zurückreichen: auf eine halb-asiatische Despotie, die das Land seit dem mittelalterlichen Mongoleneinfall bestimmt. Politisch-ökonomisch war sie durch isolierte Dörfer, einen die gesamte Gesellschaft diktatorisch beherrschenden Staat, mangelnde Individualität, fehlendes Privateigentum sowie eine nur geringfügig ausgeprägte Öffentlichkeit gekennzeichnet. Bis heute zeigt sich das in der staatlichen Struktur des Landes. Diese Ordnung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch äußere Einflüsse – das Eindringen der kapitalistischen Produktionsweise – ökonomisch und politisch erschüttert, jedoch rekonstituierten die restaurativen und konterrevolutionären Tendenzen des stalinistischen Systems nach der Oktoberrevolution eine bürokratisch-industrielle Terrorherrschaft: eine »asiatische Staatssklaverei« (Marx) mit »sozialistischem« oder gar »kommunistischem« Anstrich. Nach jahrzehntelanger gesellschaftlicher Stagnation und staatlich gelenkter Misswirtschaft brach diese Gesellschaft dann 1991 zusammen und wurde von Putin als despotisch gelenkter Staatskapitalismus weitergeführt. Dieser mündet aktuell in einem militärischen Krisenlösungsversuch eines staatlich organisierten Bandenwesens.
Global gesehen ist die kapitalistische Gesellschaft gegenwärtig in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager gespalten. Russlands Widersacher, der Westen, stellt zwar keineswegs das Ideal einer freien Gesellschaft dar, bietet aber gegenüber dem Regime Putins entscheidende Voraussetzungen für den Kampf um eine bessere Gesellschaft in Gestalt bürgerlicher Freiheitsrechte. Diese stellen einen notwendigen Bewegungsspielraum für eine revolutionäre Entwicklung hin zur kommunistischen Gesellschaft dar. Im despotischen System Russland werden derartige Ansätze, sofern überhaupt vorhanden, sofort brutal erstickt. Jeder globale Machtzuwachs der asiatisch geprägten Welt (des Dreiecks Peking-Moskau-Teheran bzw. der BRICS-Staaten, einschließlich Iran, Türkei, Indonesien usw.) schränkt die Möglichkeit eines emanzipativen Auswegs aus der sich immer deutlicher abzeichnenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft ein. Schlimmer noch, es macht autoritär- regressive Krisenlösungen wahrscheinlicher.
Eine auf die wahrscheinliche und zu erhoffende Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine möglicherweise folgende Revolte gegen das Putinsystem könnte zusammen mit dem Kampf um Befreiung der Frauen im Iran als antiautokratische Revolutionen der ganzen Welt zum politischen und kulturellen Vorbild dienen (und auch ein Kollaps des chinesischen despotischen Kapitalismus zeichnet sich am Horizont ab, mit ungeahnten Konsequenzen). Umfassend betrachtet stehen diese Proteste für den Kampf des Individuums, sich frei von despotischer Bevormundung entwickeln zu können, und damit gleichzeitig für die Befreiung von sämtlichen Formen des entfremdeten Lebens. Freie Individualität ist eine entscheidende Basis eines nichtkollektivistischen, individualistischen Kommunismus. Die aktuellen Proteste verlangen danach, mit einer kritischen Theorie unterfüttert zu werden. Sie benötigen einen kommunistischen Kompass, der auf eine freie Assoziation der Individuen abzielt. Dem politischen Kampf gegen das despotische Lager kommt mithin prinzipiell das Potenzial zu, zum Kampf um eine universelle soziale Befreiung ausgeweitet zu werden.
Eine Veranstaltung der antideutschen Kommunisten Leipzig