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Für Menschen mit Ausdauer | |||
Zwei deutsche Familien zwischen 1940 und 1993, mehrere Generationen, deren Lebensläufe uns mittels ihrer Korrespondenzen vermittelt werden. Im Mittelpunkt stehen Inge Lüttjes, die Fremdsprachenkorrespondentin, und Richard Schlosser, der Maschinenbaustudent, die sich in Hannover kennenlernen, die jedoch die meiste Zeit ihres gemeinsamen Lebens getrennt verbringen und deshalb eine stattliche Anzahl Briefe hinterließen. Diese Originalbriefe, die Henschel teilweise überarbeitet und zusammengefaßt hat, die jedoch nicht verfälscht wurden, werden uns auf fast 800 Seiten präsentiert. Ein halbes Jahrhundert liegt dem Leser/der Leserin zu Füßen, dargestellt am Mikrokosmos Familie. Diese jedoch scheint sich weder für politische Ereignisse noch für die alltäglichen Nachrichten zu interessieren, sondern verschwendet ihre ganze Kraft darin, möglichst auch ein Stück vom Wirtschaftswunder abzubekommen. Angesichts der endlosen Banalitäten, die in den Briefen ausgetauscht werden (wieviel Kilogramm Äpfel eingekocht wurden, dass frau sich einen Latex-Badeanzug gekauft hat, der wohl ihr vierter ist usw.), kann man die 68er Generation verstehen, die nun endlich mal an der deutschen Vergangenheit rütteln wollte. In den Briefen des Romans ist vom Faschismus nie die Rede, und wenn man doch mal in Erinnerung schwelgt, spricht man vom "verlorenen Krieg". Auch die Studentenunruhen von 1968 tangieren das deutsche Kleinbürgertum in keinster Weise. Die Lüttjes und Schlossers stehen hier beispielhaft für tausende andere deutsche Familien, deren stilles Leben von der offiziellen Geschichtsschreibung immer etwas vernachlässigt wird, obwohl es doch wesentliches Element einer Epoche ist. Zu Beginn des Romans muß man sich erstmal ein bißchen durchfitzen: wer ist wer, wer schreibt an wen und wie stehen sie miteinander in Beziehung. Doch wenn das gelungen ist, entwickelt das Buch eine Erzähldynamik, der man sich schwer entziehen kann. Es darf mitgefiebert werden! Oft wünscht man sich, die lebenslustige Inge möge doch endlich vom stockpiefigen Richard lassen, der später auch aus weiter Ferne sinnlose Erziehungsratschläge geben wird ("Renate sieht ja schlimm aus. Kann man ihr nicht bald einen richtigen Bubikopf schneiden lassen?" oder "Hoffentlich hat Renate nicht die Motten... Vielleicht machst Du probeweise auch mal eine Wurmkur mit ihr.") Schließlich heiraten sie 1954. Es gibt "Geflügelsalat i/Orange, Klare Oxtail m/Cherry, Medaillon v. Kalb..., Brasilianische Eisbombe" wie die Speisekarte verrät. Und während das Wirtschaftswunder tobt, quält sich die entstehende Familie Schlosser durch die fünfziger Jahre. Bei Richard wird Tuberkulose diagnostiziert, er kommt für lange Zeit in ein Sanatorium und verbeißt sich in rechtliche Auseinandersetzungen, die ihm eine Kriegsversehrtenrente einbringen sollen. Denn schon Richard hat sich mit 17 Jahren im Feld bewährt und durfte auch mal schießen (Brief vom 19.11.43: "Endlich war es soweit. Wir haben geschossen... Das machte mal Spaß. Denn ohne Schießen wird das hier stur."), nur die russische Gefangenschaft ist ihm dann wohl nicht so gut bekommen... Die sechziger Jahre bringen dann endlich die ersehnte finanzielle Erholung. Richard findet eine Anstellung beim "Amt für Wehrtechnik und Beschaffung". Die Familie zieht nach Koblenz. Doch das gemeinsame Glück will einfach nicht einziehen. Sind es erst die Dienstreisen Richards, die für die räumliche Distanz sorgen, so sind es bald die ungleichen Lebensentwürfe, die das Liebespaar mehr und mehr entfremden. Auch das viel zu große Traumhaus bringt sie nicht wieder zueinander. Richard wird zur menschenscheuen "Kellerassel", und Inge möchte noch die ganze Welt bereisen und sich Freunde ins Haus einladen. Einen Kompromiss finden sie nicht. Inge nimmt sich vor, auszuziehen. Sie schreibt an Richard: "Was Du im Innersten willst, ist eine unselbständige Frau, die stets auf Deinen Rat und Deine Hilfe angewiesen ist und um Gottes willen keine eigenen Vorstellungen oder gar Wünsche hat." Schlußendlich stirbt Inge mit sechzig Jahren an Krebs. Richard sind noch einige Jahre vergönnt, in denen er seinen Kindern das Leben schwer macht und sich darüber beklagt, im Rheinland gelebt zu haben: "Heimisch bin ich im Rheinland nicht geworden; der Menschenschlag lag mir nicht. Wenn man mich fragt, welcher Landsmann ich sei, dann würde ich sagen, daß ich nach wie vor Ostpreuße bin. Die für die Entwicklung eines Heimatgefühls maßgebenden Jahre habe ich in Ostpreußen verbracht, und ich fühle mich auch heute noch als Vertriebener der ersten Stunde." Egal, wie sich die Protagonisten verhalten, man "lebt" quasi mit ihnen und fragt sich ständig, warum da vieles so falsch läuft. Durch die Authentizität des Romans wird man ständig dazu angehalten, selbst mal einen Blick in seine Familiengeschichte zu werfen. Fanny Müller schreibt in der Zeitschrift "konkret": "Scheinbar belanglose und dennoch so typische Briefe, und ich erkenne sie mit Grausen wieder: meine eigene Familiengeschichte. Oder Ihre." Und noch was: überlegt man sich, dass die Mehrzahl der Deutschen so gelebt haben, dann kann man nur immer wieder Heinrich Heine zitieren: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht..." Anne |