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Dieser Artikel ist die Grundlage eines Referates, welches am 8. März 19 Uhr im Tomorrow-Theorie-Café (19 Uhr, Braustrasse 20) gehalten wird.

Antijudaismus und Antisemitismus


    „Sie schieben uns Christen stets beiseite, sie drücken uns an die Wand, sie nehmen uns die Luft. Vom getauften Minister bis zum polnischen Schnorrer bilden sie eine Kette.“
    (Glagau, Otto(1))
    „Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus.“
    (Adorno, Horkheimer: Dialektik der Aufklärung)

Antimosaische Sezession

Bis zu der Epoche der Aufklärung begründete sich das Verständnis von Mensch, Geschichte und Welt in Europa religiös. Der gesamte Lebenszusammenhang wurde als ein von Gott geschaffener und befohlener begriffen. In einem solchen religiösen Verständnis ordneten sich die Menschen ein. Begriffe wie Rasse, Nation oder ethnische Zugehörigkeit spielten im Verständnis keinerlei Rolle, da es sie weder in der Wirklichkeit und somit auch nicht als deren begriffliche Widerspiegelung gab. Entscheidend war die religiöse Zugehörigkeit. So gab es zwar Unterschiede zwischen Christen und Christen, gemeint ist hier die Stellung in der Gemeinschaft, aber auch diese wurden religiös gerechtfertigt. Das Christentum entwickelte sich während des Zerfalls des römischen Imperiums zur herrschenden gesellschaftlichen Kraft in Europa. Unter Papst Gregor dem Großen (590-604) wurde mit der Errichtung einer weltlichen Machtbasis des Papsttums auf italienischen Boden ein Grundstein für einen Kirchenstaat gelegt, welcher der westlichen Kirche Mittel und Wege ermöglichte, um aktiv in die abendländische Epoche der Weltgeschichte einzugreifen. Aber auch in den ost- und südeuropäischen Gebieten gewann die Kirche enormen Einfluss, da im Kaiser geistige und weltliche Macht vereinigt waren. Auch hier gab es also keine Trennung zwischen Staat und Religion.
Angefangen hatte das Christentum als eine antimosaische Sezession, in dem sie das Gesetzeswerk Moses und die darauf basierende Bibel, das Buch der Juden, ablehnten und die Erwartung einer allgemein-menschlichen Weltkatastrophe am Ende der Zeiten verkündeten. Jesus als Erscheinung des Messias zeugte davon. Das Evangelium Jesu Christi löste die irdischen, d.h. sozialen und irdischen Erlösungshoffnungen zu Gunsten einer abstrakten Diesseitshoffnung ab.
Aus dieser religiösen Abspaltung entstand der Hass der Christen gegen die Juden. Hier ist für das Verständnis noch sehr wichtig, dass die Juden seit der Vertreibung aus ihrem heiligen Land Zion durch die Römer im 1. Jh. ihr Leben in der Diaspora (gr.: Zerstreuung) verbrachten. Dadurch gab es keine räumliche Trennung zwischen Juden und Christen. Die Juden lebten innerhalb des christlichen Europas, aber nicht nur dort, als Minderheit. Die religiöse Zugehörigkeit legte aber die sozialen Grenzen streng fest, da, wie am Anfang des Textes beschrieben, Religionen den Menschen zu dieser Zeit in seinem Denken und Handeln konstituierten.
Im neuen Testament trat auch schon eine relativ offene Feindschaft gegen Juden zu Tage, wenn im Johannesevangelium „die Juden“ als Kinder des Teufels beschimpft werden (Joh 8,44). In der christlichen Geisteslehre wurde Jesus zum Christen und Judas, der Ungläubige, zum Juden gemacht. Mit dieser durchweg negativen Sicht auf das Judentum wurde von den Christen schnell und effektiv die eigene Herkunftsgeschichte so zurechtgebogen, dass nicht mehr ersichtlich war, dass das Christentum ohne Judentum nicht denkbar wäre. Der besonders starke Hass der Christen auf die Juden gründet sich aus der Abspaltung der Christen von der jüdischen Religion. „Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehasst als die, welche es besser wissen.“ (Adorno, Horkheimer: Dialektik der Aufklärung) Die Juden waren die stille unweigerliche Mahnung an das Christentum, nicht eigenständig und nicht ewig, sondern als Abspaltung zu existieren. Die Juden waren das schlechte Gewissen einer Religion, die in großen Gebieten eine unhinterfragte und lebensbegründende Tatsache war. Dieses Verhältnis von Judentum und Christentum wurde in den Vorwurf an die Juden, die Mörder Jesus zu sein und Ritualmorde an Christen zu begehen, umgekehrt. Der Jude wurde zum Inbegriff des religiösen Verrats. Somit wurde aus der leibhaftigen Mahnung an den eigenen Ursprung die Personifikation des Anderen, des Teuflischen, des Gegenprinzips des Christentums. Dieses Prinzip des Bösen wurde verstärkt, weil die Verstreuung der Juden eine Verortung der Gegenmacht erschwerte und als konspirative Infiltration erschien.

Antijudaismus im Mittelalter

Politisch äußerte sich dies in einer Berufsdekretierung, die den Juden verbot, im bodenständigen Gewerbe tätig zu sein. Statt dessen wurden ihnen die als teuflisch und unchristlich verschrieenen Bereiche des Geldwesens und des Handels erlaubt. Außerdem wurde ihnen in vielen Städten und Gemeinden die Niederlassung verboten, und wenn, dann in separaten Gebieten, worauf sich der Begriff des Ghettos begründete. Und alle Juden mussten im „Heiligen römischen Reich deutscher Nationen“ seit 1342 eine sogenannte Judensteuer bezahlen. Zwischen 1348 und 1350 wurden im „Reich“ insgesamt 300 jüdische Gemeinden zerstört, da den Juden vorgeworfen wurde durch Brunnen- und Quellenvergiftung die Pest hervorgerufen zu haben. Diese Verschwörungstheorien tradierten sich später im Antisemitismus fort.
Nun implizierte ein christliches Weltbild auch, dass die Religion ein Glauben ist, den es zu verbreiten galt, und daher für die Juden die Möglichkeit bestand, durch die Taufe Christen zu werden. Ohne diesen Zwang, der demzufolge die einzige Möglichkeit war, sich einigermaßen in die hegemoniale christliche Kultur zu integrieren, so hieß es für die Juden nicht selten ‘Taufe oder Tod’, positiv bewerten zu wollen, stellte er doch eine Ausflucht aus einem bitteren Minderheitsstatus dar. Dies wurde in Spanien erstmals verwehrt. Nachdem dort im 13. und 14. Jahrhundert Pogrome gegen Juden stattgefunden hatten, obwohl zuvor die Juden über Jahrhunderte in Spanien sehr geschätzt wurden und keinerlei Sanktionen zu erleiden hatten, waren viele Juden zum Christentum übergetreten. Diese als Conversos (Neuchristen) bezeichneten Leute entgingen der Hatz auf sie – trotz der Taufe – nicht und wurden allesamt 1492 von Königin Isabella wegen ihrer schweren Bedrohung für die Christen „des reinen Blutes“ ausgewiesen. Hier wurde erstmals eine rassistische Argumentation gegen die „Juden“ angewandt, indem von der zu verteidigenden „Limpezza“ (Reinblütigkeit) gefaselt wurde. Die Juden Spaniens sind nach Nordafrika und Mitteleuropa geflohen. Doch auch hier wütete Hass gegen sie.
1543 erscheint Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Sie gab jahrhundertealte antijüdische Mythen wieder, pries die Judenverfolgungen, setzte die Juden dem Teufel gleich und empfohl Maßnahmen gegen die Juden. Er verstieg sich zu der Forderung, die Synagogen abzubrennen, die Wohnungen der Juden zu zerstören, den Rabbinern das Lehren zu verbieten, den Juden auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer zu machen und wünschte den Juden, in der Hölle zu schmoren, wobei für Luther „Hölle“ kein metaphorischer Begriff, sondern eine reale Begebenheit war. Somit wurden die Ressentiments gegen die Juden in den protestantischen Glauben übertragen. Martin Luther, der sich zum Beginn seiner geistigen Laufbahn sehr positiv auf jüdische Geistlichkeit berief, schien nicht so recht verkraftet zu haben, dass die Juden auf seine protestantischen Lehren nicht so positiv reagierten, wie er es sich erhofft hatte, denn letztendlich vertrat auch er die These, dass sich Juden taufen müssten, oder Kinder des Teufels bleiben würden.
Mit Luther begann der deutsche Sonderweg des Judenhasses. Denn während andere reformatorische christliche Ansätze den Juden positiver entgegentraten als die ursprüngliche Lehren, übertraf Luther mit seinem obszönen Judenhass die zuvor gewesene Feindschaft und konservierte sie in der deutschen Geistesgeschichte. Doch auch die katholische Kirche machte den Juden das Leben weiterhin schwer, so wurden die Juden aus Bayern vertrieben und in anderen Städten wurden die Ghettos auf Empfehlung von Papst Paul IV durch Mauern von der restlichen Stadt getrennt. Doch eine umgekehrte Entwicklung setzte in Handelsmetropolen wie den norddeutschen Hansestädten ein. Dort erhielten Juden wegen ihrer Beziehungen und Kenntnisse im Handel Niederlassungsgenehmigungen. Nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges setzte ein Umdenken ein. Religiöser Eifer und Machteinfluss wurden schwächer und Herrschaft bekam weltlichere Züge. Dies führte zu einer zweckgerichteten Anerkennung der Juden, die als Handelspartner und Finanzberater an den Fürstenhöfen akzeptiert waren.

Bürgerliche Epoche

Mitte des 18. Jahrhunderts setzte die Periode der Aufklärung ein, die stark bürgerliche Werte verbreitete, zu denen auch die Toleranz unter den Religionen zu zählen ist, was sich unter anderem darin zeigte, dass Denker unterschiedlichen Glaubens die gleiche Philosophie vertraten oder sich in der Ringparabel in „Nathan der Weise“ von G. E. Lessing literarisch niederschlug. Politisch wirkte die Aufklärung in Deutschland kurzzeitig in der Besetzung westrheinischer Gebiete durch Napoleon, wobei den Juden unter eben jenem erstmals die Emanzipation gewährt wurde. 1812 hatte es in Preußen Gesetze zur Judenemanzipation gegeben, welche aber in den folgenden Jahren rückgängig gemacht wurden. Gleichzeitig kam es verstärkt zu antijüdischen Pogromen, die sich gegen den sozialen Aufstieg der Juden richteten. Das 19. Jahrhundert war geprägt von politischen Kämpfen zwischen feudalen, bürgerlichen und vermehrt auch sozialistischen Kräften. Diese Kämpfe jedoch waren Ausdruck der sich durchsetzenden Moderne, beziehungsweise der kapitalistischen Vergesellschaftung. Dieser gewaltige Protest formierte ein völlig anderes Leben, religiöse Gemeinschaften wurden zerstört, das Ordnungsgefüge der Großfamilie wurde obsolet, es setzte einhergehend mit der Industrialisierung eine Urbanisierung und Proletarisierung ein, die Subsistenzwirtschaften und agrarisch dominierte Wirtschaftsformen hinwegfegte, die Feudalstrukturen sind gesetzlich zerschlagen wurden, in dem die Leibeigenschaft verboten und die freie Wahl des Arbeits- und Wohnplatzes jeder Person erlaubt wurde, ohne Geld ging nun nichts mehr und ehemals wirksamer gesellschaftlicher Stand war nur noch Schall und Rauch, da die bürgerliche Gesellschaft keine festen Stände mehr kannte. Die Rolle der Bourgeoisie, der dritte Stand, der die bürgerliche Gesellschaft politisch erkämpfte, wurde im Kommunistischen Manifest beschrieben: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‘bare Zahlung’. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.” (K.Marx, F.Engels)

Die Nation

Eine wichtige neue Institution der Moderne war die Nation, die den politischen Rahmen bildete. Sowohl innerhalb der Nation als auch zwischen den Nationen regelte sich der politische Verkehr. Innerhalb der Nationen wurden Verhältnisse hergestellt, die gegenüber der feudalen Politik einen Fortschritt darstellten und Grundbedingungen für eine kapitalistische Produktionsweise waren. Alle Menschen wurden gleich gestellt (zumindest in Etappen), damit allen einerseits politische Mitbestimmung und Verantwortung für die Nation möglich war und andererseits ihre Arbeitskraft in eine freie Konkurrenz zueinander treten konnte. Der Staat hat innerhalb der Nation die Aufgabe, die Interessen der Bürger widerzuspiegeln, die wirtschaftliche Konkurrenz der Bürger und die politische Konkurrenz der Klassen zu bändigen und die nötige Infrastruktur herzustellen, um eine wirtschaftliche und soziale Funktionalität auf der Höhe der Zeit zu garantieren. Die Nation als praktischer Vollzug der Emanzipation bedurfte einer neuen Konstruktion des Politischen. Den sie, die Nation, trat neu auf die Weltbühne und musste sich ja in den Köpfen der Menschen als Ordnungsprinzip legitimieren. Es musste klar werden, dass eine Nation was natürliches sei. Damit musste das Eigene (Identische) und das Fremde (Differente) definiert werden. Mit der Verfestigung des Identischen geschah dies auch mit dem Differenten und umgekehrt. In diesem Prozess hat sich natürlich keine Clique daran gemacht diese Definition zu bringen, sondern dies geschah durch alle Köpfe hindurch. Die Nation, die sich quasi als Ergebnis und Bedingung eines bestimmten Stadiums kapitalistischer Vergesellschaftung erwies, musste sich als eine solche auch in den Köpfen wiederfinden. Ursprünglich war der Nationalismus auch Emanzipationsbewegung des dritten Standes, durch welche die ständische Gesellschaft angegriffen wurde. Doch Aufgrund der Notwendigkeit, das Nationale füllen zu müssen, entstand daraus zunehmend eine anti-emanzipatorische Bewegung, die für viele sozial verunsicherten Gruppen Halt bot und eine pseudo-religiöse Funktion einnahm. Der Nationalismus offenbarte in diesem Prozeß zunehmend seine Tendenz zum Antisemitismus. Der religiöse Gegensatz zwischen Christentum und Judentum tradierte sich in der Nation, die Handlungs- und Bewusstseinskategorie wurde, zu einer national orientierten Differenz. Somit bedeutete der Bruch der Aufklärung mit der Religion keinen Bruch mit dem Judenhass, sondern war vielmehr eine Abrechnung mit den mosaischen Traditionen des Christentums. Mit der Tradierung des Judenhasses entwickelte sich ein anderer Begründungszusammenhang, der letztendlich den Begriff des Antisemitismus als differenten Begriff zum Antijudaismus notwendig macht.

Das Volk

Der Antisemitismus ist rassistisch. Die Juden werden nicht mehr als Religionsgemeinschaft, sondern als Rasse begriffen(2). Der Begriff der Rasse selber ist einer, der erst mit der Aufklärung wissenschaftlich hoffähig wurde, da in der Aufklärung die Tendenz zur wissenschaftlichen Kategorisierung angelegt ist. Während es in religiös dominierten Weltbildern eine eschatologische Ehrfurcht gibt und das Leben als göttlich und somit nicht als wissenschaftlicher Gegenstand begriffen wird, durchfurcht die aus der Aufklärung hervorgegangene Wissenschaft alles und macht sich die Welt zum Untertan. Die Wissenschaft vom Menschen, die Anthropologie, hat eine Menge Instrumente in die Welt gesetzt, mit denen völkische Weltbilder untermauert werden konnten. Alles wurde klassifizierbar und die Natur wurde auf ihre Gesetzmäßigkeit hin überprüft. Die Physiognomie und die Sprachwissenschaft halfen kräftig mit bei der Konstruktion von Rassen. Blut, Gesichts-, Körperbau- und Sprachtypen wurden zu Kriterien von Rassen. Auch war dies die Zeit der Kolonialisation, in der den Menschen die Unterschiede verschiedener Lebens- und Aussehensweisen vor Augen geführt wurden. Der Begriff der Rasse wurde zu einer physische und psychische Eigenschaften umfassenden Determinante, mit der sich die Welt ziemlich einfach erklären lies und die – wie gesagt – auch nötig war, um die eigene Nation als Gebilde legitim zu finden. Trotzdem würde man der Aufklärung Unrecht tun, würde man ihr die Schuld geben. Denn sie gebar zwar die Mittel, doch der Zweck des Antisemitismus stand den propagierten Idealen der Aufklärung entgegen. Seine ideellen Momente gewann der Antisemitismus eher durch die Aufwärmung romantischer Weltanschauungen, die sich durch ihre Hinwendung zum Biologisch-Kreatürlichem auszeichneten. Der Pietismus, von dem Herder sehr angetan war, entstand während der Aufklärung und propagierte das Volk als religiöse Gemeinschaft mit einer gemeinsamen (Rassen)Seele, die in ihrer Reinheit bewahrt werden müsse. Die Nation als künstliches Gebilde wurde als Rahmen der Volksgemeinschaft zu einer natürlichen beziehungsweise gottgewollten Gegebenheit. Typisch romantisch ist der Pietismus, weil er den künstlichen Gemeinschaften der Moderne angeblich organisch gewachsene natürliche Gemeinschaften entgegensetzte. Herder zum Beispiel bemühte den Vergleich der Volksgemeinschaft mit einem Baum. Dieser wächst empor, seine Lebensringe bilden eine Einheit und spiegeln Geschichte wider, seine Kraft nimmt der Baum aus dem Boden, jeder Teil des Baumes gehört zum Ganzen und hat seinen speziellen Platz. Diese Analogie sollte aufzeigen, dass das Volk ein ganzheitlicher Organismus ist und in der Dekadenz der Moderne seinen Platz behaupten muss. In der Mythologie offenbart der Volksgeist seine Kraft und bewahrt seinen Ursprung. Herder, ein Kind der Aufklärung, gehörte zu jener Denkerschicht, die in der Volksgemeinschaft die Rettung gegen die dekadente Moderne sahen.
Dass gerade in Europa und insbesondere Deutschland der Antisemitismus Fuß fasste, hat damit zu tun, dass eben hier, im Gegensatz zu den USA, die Nation nicht nur als politischer Zusammenschluss erfahren werden konnte, sondern die Konstruktion eines Identischen durch eine gemeinsame Sprachzugehörigkeit und gemeinsame Geschichte ermöglicht wurde. Die Nation konnte konkret bestimmt werden, während die Juden eben jene waren, die sich politisch emanzipieren mussten, um Staatsbürger zu werden, weil sie konkret nirgends dazu gehörten. Sie wurden so als Abstraktheit erfasst, die sämtlichen Nationen künstlich angehörte. Die Juden wurden – nicht nur in Deutschland – als wurzellos, international und abstrakt angesehen.
Nicht zu unterschätzen ist der Darwinismus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr bekannt wurde und gerade von Strömungen aufgegriffen wurde, die das Natürliche im Menschen suchten, anstatt den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu begreifen.

Das antibürgerliche Unbehagen

In ihrem Unbehagen gegenüber der Moderne sind sich rechte und linke Strömungen schon immer sehr nahe gewesen, was dann fatal wird, wenn gleiche Schlussfolgerungen und Lösungsformeln gefunden werden. Bakunin und Tolstoi haben mit rechter Kulturkritik zum Beispiel die Verherrlichung des Bauernstandes, der im Angesicht seines Schweißes arbeitet, gemeinsam(3). Mit dieser Verehrung des ärmlichen „schaffenden“ Lebens geht meistens eine Ablehnung des reichen „raffenden“ Lebens einher. Während die bürgerlichen Ideologen Aktien, Geld etc., welche die Erscheinungsformen der abstrakten Seite des Kapitalismus, der abstrakten Arbeit sind, als Naturgesetze des menschlichen Zusammenlebens hypostasieren, verewigen romantische antibürgerliche Ideologen, also rechte und viele „linke“ Kulturkritiker, die konkrete Seite der Erscheinungswelt im Kapitalismus, die sich im Gebrauch der Waren und in der konkreten Tätigkeit darstellen(4). Diese Erscheinungen werden als natürlich ausgewiesen, während die Geldsphäre als die kapitalistische definiert wird. Dabei befindet sich eine solche Analyse innerhalb der kapitalistischen Warengesellschaft und verewigen eine bestimmende Seite der kapitalistischen Warengesellschaft, wobei gerade die Arbeit die Substanz des Geldes ist. Doch bei der Hypostasierung der konkreten Seite wird nicht stehen geblieben, da die abstrakte Seite ebenfalls konkretisiert wird. Die abstrakte Seite des Kapitalismus wird als Unheimliches abgelehnt. Sie wird nicht in ihrer vollständigen Abstraktheit erkannt, sondern z.B. in Spekulanten und WTC verortet(5). Dass besonders in Europa die Wahl der Konkretisierung des Abstrakten auf die Juden abzielte, war innerhalb des europäischen Kontextes kein Zufall.
Mit der Bestimmung des Identischen der Nation, also dem Volk, der Rasse, bestimmt sich auch das Differente als Rasse. Im Begriff des Antisemitismus taucht dieses rassistische Prinzip auf, da die Juden nicht mehr als jüdische Religionsgemeinschaft bestimmt sind, sondern als Semiten. Somit zeichnet sich der Antisemitismus durch die Irreversibilität des in ihm gefassten Judeseins aus. Dem Juden wird keine Möglichkeit mehr in Aussicht gestellt, seinem vorgeblichen Wesen zu entkommen. Die negativen Stereotype, die sich an die Juden koppelten, wurden neu untermauert. Dabei wurden die Juden insbesondere mit den Eigenschaften in Verbindung gebracht, welche die Moderne als negativ empfundene mit sich brachte. In diesem Sinne stimmt es nicht ganz, dass Semiten als Juden galten, sondern eher, dass diejenigen Juden waren, die als wurzellos und eben jüdisch erschienen(6). Sie wurden zu Sündenböcken der Moderne: Zerstörung sozialer Gefüge, Technik-Triumph, Arbeitslosigkeit(7), Abschaffung der Subsistenzwirtschaft, Naturentfremdung, Werteverlust, Proletarisierung, Urbanisierung, Bevölkerungszuwachs(8), Geld, Industrialisierung, Säkularisierung, Habgier, Einzelinteresse, Gerissenheit, Morallosigkeit, etc. Gerade die assimilierten Juden wurden als Individuen angesehen, die das Prinzip ihres Wesens, wurzellos zu sein, umsetzten. Diese Juden wurden als Wölfe im Schafspelz angesehen, die ohne Heimat und doch aus dem Schoße ihres Volkes kommend das fremde Volk versauten. Die Rolle des Juden als Teufel blieb bestehen, galt er früher als Gottesmörder, war er nun Zerstörer der sozialen Ordnung.
Die Assoziation der Juden mit der Moderne entsprang einerseits der Unfähigkeit, die abstrakte Seite des Kapitalismus zu verstehen, und andererseits einer wahnhaften Übertreibung. So gab es eine Schicht von Juden, die wegen der Berufsdekretierung des Mittelalters gezwungen waren, in der Geld- und Handelssphäre zu arbeiten, was sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus als „günstig“ erwies, da diese Sphären boomten. Außerdem waren die Juden durch die Diaspora relativ flexibel und waren durch die Tradition des Talmud-Studiums alphabetisiert, was auch vorteilhaft war. Doch auf die Ostjuden beispielsweise, die wegen heftiger Pogrome in Russland ins westliche Europa und nach Amerika emigrierten, trifft dies überhaupt nicht zu, da diese eine proletarische Schicht bildeten. Das war den antisemitischen Subjekten egal. So hieß es dann bei einem anerkannten deutschen Historiker 1879 über die Ostjuden: „(...) über unsere Ostgrenzen aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.“ (von Treitschke, Heinrich)
Der Stereotyp des Parasiten verstärkte sich zusehends, was auch mit dem feudalen Ethos des Bodens und der Handarbeit zu tun hatte. Alle Arbeiten, die augenscheinlich nicht damit zu tun hatten, im Feld herumzustochern oder Gegenstände herzustellen, erschienen als unproduktiv und wurden als parasitär empfunden.(9) In den deutschen Feudalstaaten war es üblich, die Gemeinschaft durch geschlossene Zünfte abzudichten. Mit der Auflösung dieser Zünfte durch die liberale Gesetzesgebungen war es nun auch anderen Menschen möglich, Manufakturen, kleine Handwerksläden und ähnliches zu eröffnen. Dies geschah durch Juden, Holländer, Hugenotten, Italiener und viele andere. Diese hatten mehr Ahnung, wie eine moderne Betriebswirtschaft auszusehen hatte und stellten eine gewaltige Konkurrenz für die deutschen Handwerker und Bauern dar. Die Antisemiten verwechselten Präsentation mit Macht. Soweit es stimmt, dass ihnen durch Juden und andere des Handels erfahrene Menschen in der kapitalistischen Konkurrenz das Wasser abgegraben wurde, so ist der Glaube, die Juden hätten die Macht über die Moderne (Geldwirtschaft etc.), eine Projektion(10). Besonders Zeitungen, Börse und Banken wurden, weil sie Ausdrücke der bürgerlichen Gesellschaft waren, als Horte der Juden gesehen. Liberalismus und Kapitalismus wurden als jüdische Instrumente zur Machtbereicherung angesehen. Der Kapitalismus an sich funktioniert ohne direkte Herrschaft und ist in seiner Expansionstendenz machtvoll. Dazu bedarf er nicht der Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern wirkt durch alle Menschen hindurch als gesellschaftliches Verhältnis (subjektlose Herrschaft). Da die Macht des Kapitalismus keine ist, die sich dadurch auszeichnet, dass eine bestimmte Personengruppe zielgerichtete Macht ausübe, ist die Personifizierung des abstrakten Vergesellschaftungsvorgangs wahnhafte. Das Unbehagen im Kapitalismus schafft sich im Antisemitismus ein Ventil, wodurch alle Unzufriedenheit auf die Juden entladen wird(11).
Es ergab sich in Folge dieses Wahns ein unheilvolles Bündnis von zu kurz gekommenen. Dazu gehörten Proletarier, Mittelständische, Pfarrer, Adelige, kleine Beamte und Angestellte. Der Antisemitismus bot all diesen Leuten eine Erklärung, wer an der unbehaglichen Moderne Schuld trägt und dafür verantwortlich zu machen ist. Der Antisemitismus taugt zu jeder Argumentation. Ob es gegen den Liberalismus, die bürgerliche Gesellschaft oder den Sozialismus ging, ob es liberale, bürgerliche oder sozialistische Antisemiten waren, die Juden waren der Feind.

Leben oder Tod

Das Prinzip von Gott und Teufel, Christen und Juden tradierte zu dem Prinzip Leben oder Tod(12). Der Antisemitismus ist im Gegensatz zum Judenhass nicht Teil oder Ergebnis eines Weltverständnisses, sondern eine Welterklärung selber, aus der heraus sich unterschiedliche Formen entwickeln und die unbedingt und sich selbst Zweck ist. Der Antisemitismus ist ein geschlossenes Weltbild mit einem missionarischem Impetus, welches der festen Überzeugung ist, die Welt mit der Beseitigung der Juden von allem Übel auf immer und ewig zu befreien. Der Hass auf die Juden bildet den Mittelpunkt des Denkens antisemitischer Subjekte.
Während Judenfeindschaft bedeutet, dass bestimmte negative Eigenschaften von Menschen auf die Juden projiziert werden, überträgt der Antisemitismus Eigenschaften auf eine Menschengruppe, die auf niemanden zutreffen, weil sie Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses und in ihrem Wesen abstrakt sind. Diese Ideologie, die ein abstraktes gesellschaftliches Verhältnis auf Menschen projiziert, wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es permanent vernichtet. Der Antisemitismus kennt kein Ende seines Vernichtungswillens, da das Ziel seiner Angriffe ein wahnhaft erdachtes ist und die Ursache des Wahns fortbesteht.
Wichtig ist, dass Antisemitismus weder Bewusstseinsmanipulation noch zweckrationale Herrschaftsform, sondern eine umfassende Ideologie ist. Der Traditionsmarxismus hat den Antisemitismus meist als Herrschaftsmittel der Großindustrie angesehen, genau wie er Hitler als Diktator (oder als Marionette des Monopolkapitals) begriffen hat. Daraus entstand in der DDR ein Antifaschismus, der verordnete, dass alle Menschen nun in der DDR automatisch von der Schuld, Faschisten gewesen zu sein, befreit sind, weil das an sich ehrliche Volk unter der nationalsozialistischen Diktatur zu leiden hatte. Im Basis-Überbau-Schema der Traditionsmarxisten ist Ideologie die unmittelbare rationale Folge ökonomischer Interessen. Dass ist Quatsch und auch nicht in die Tradition von Marx zu stellen, der durch die Begrifflichkeit des Fetischs aufgezeigt hat, dass die Basis der ökonomischen Verhältnisse nicht in ihrem Wesen, sondern als Erscheinungen widergespiegelt werden. Gesellschaftliche Vermittlung, die in ihrem Wesen abstrakt ist, erscheint verdinglicht in Geld. Diese Verdinglichung spiegelt sich auch im Denken wieder, verschleiert das eigentliche gesellschaftliche Verhältnis der Menschen untereinander und gewinnt ein Eigenleben, indem eine „zweite Natur“ gebildet wird, in der sich Zwänge und Herrschaft als natürlich konstituieren und wobei Wahrnehmungen und Erkenntnisse in den Erscheinungsformen des Kapitalismus befangen bleiben. Und der Antisemitismus ist ein fetischistisches Denken und verwirklicht keine wirtschaftlichen Interessen. Eben darum wird der Antisemitismus sich selbst Zweck und deportiert auch dann noch Juden, wenn es schon rational sinnvoller wäre, die Züge zum Transport von Kriegsmitteln zu verwenden, um die Sowjetarmee aufzuhalten. Auch in den heutigen Lehrbüchern wird der Antisemitismus nicht als Ideologie, die durchs Volk getragen wurde, und aufgrund derer Hitler an die Macht gekommen ist, sondern als Ergebnis der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ begriffen.
Antisemitismus und Antijudaismus haben die Vorstellung einer jüdischen Macht gemeinsam: die Macht Gott zu töten, die Pest auszulösen, oder im Falle des Antisemitismus, die dekadente bürgerliche Gesellschaft zu verursachen. Der Antisemitismus unterscheidet sich vom Rassismus bezüglich der zugeschriebenen Macht. Während der Rassismus auf Menschen abzielt, deren Macht konkret und kontrollierbar scheint, wird den Juden durch den Antisemitismus eine abstrakte, konspirative und allgemeine und damit schwer zu kontrollierende Macht unterstellt(13). Diese Verschwörungstheorie ist sattelfest, weil sie von einer konspirativen Gegenmacht redet, die somit keiner konkreten Beweise bedarf und keine Gegenargumente akzeptiert. Eine wahnhafte Konstruktion kennt keine Gegenbeispiele, da sie sich in ihrem Wahn immer wieder selbst gerecht wird.
Typische Bilder einer antisemitischen Ideologie sind die, wo Marionetten von reichen Herren geführt werden, um das Volk zu bändigen.(14)
Besonders nach der Jahrhundertwende verstärkte sich der Antisemitismus fortfolgend. In dieser Zeit setzten in Folge eines größer werdenden Kulturpessimismus eine Suchbewegung ein, die anstatt eines sozial-politischen Diskurses einen kulturkritischen Diskurs forcierte, in dem Kultur anstatt Zivilisation gefordert wurde, was in dieser Trennung natürlich schon Quatsch ist. Ein Angebot innerhalb dieser Strömung war die neue Rechte, die sich durch einen aggressiven Antiliberalismus und sozialdarwinistischen Nationalismus kenntlich machte, wobei völkisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut breit und offen über Klassengrenzen hinweg propagiert und zu einem Bindemittel wurde(15). 1919 gründete sich eine der ersten antisemitischen Massenpartein in Deutschland, der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“, dem 200 000 Mitglieder angehörten. Auch gründete sich in diesem Jahr die „Deutsche Arbeiterpartei“, der später A. Hitler beitreten sollte und die schließlich in „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ umbenannt wurde.
An diesem Punkt soll der Exkurs abgebrochen werden. Es sollte gezeigt werden, dass der Antisemitismus kein plötzliches Phänomen war, welches 1933 in die Welt trat, sondern eine lange Geschichte hatte und, worauf hier nicht eingegangen wird, immer noch hat. Bei dem Vortrag am 8. März im Tomorrow-Theorie-Café wird eine Annäherung an die Ideologien Antijudaismus und Antisemitismus ähnlich wie in diesem Artikel referiert und explizit auf den Aufsatz von Moishe Postone (Nationalsozialismus und Antisemitismus), der das Verhältnis von Kapitalismus und Antisemitismus zum Thema hat, eingegangen.
Hannes

Fussnoten:
(1) Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, in: Gartenlaube (Familien-Illustrierte), Leipzig 1876, Auflage: 375 000
(2) „Aber es ist gar nicht nötig, dass der Jude vorschriftsmäßig im Kaftan, mit den Peies, dem Kastor und den hohen Stulpen erscheint, das sind Äußerlichkeiten der Kleidung, die er ablegen kann und in Deutschland wohl meist abgelegt hat. Aber seine körperlichen natürlichen Anlagen! Wie er sich in den Hüften wiegt, wie er mit den Armen gestikuliert, vorgebeugten Hauptes voraneilt ...“ (Endners, Wilhelm: 1880)
(3) „Jeder echte Deutsche ist Arbeiter. Das gehört zum Stil seines Lebens.“ (Sprengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus, München, 1920)
(4) Die konkrete Seite entspringt selber aber einem kapitalistischen Formzusammenhang. Ebenso wie Tausch- und Gebrauchswert sich gegenseitig bedingen, bedingen sich auch konkrete und abstrakte Arbeit.
(5) „Der ‘antikapitalistische’ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt von Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude.“ (Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Dan Diner, Zivilisationsbruch)
(6) Ahasver: eine typische Bezeichnung biblischen Ursprungs, die einen wurzellosen ungebundenen Menschen bezeichnet. Der Prototyp des kosmopolitischen Judens.
(7) Allein in Preußen suchten, nachdem 1807 die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, 100 000 Bauern als ArbeiterInnen Beschäftigung
(8) 1700 gab es auf dem Gebiet der späteren deutschen Reiches 15 Mio. Einwohner, 1900 waren es 56 Mio.
(9) „Reichtum der Juden ist Resultat der losesten und verächtlichsten Wucherkünste. Reichtum die Frucht eines gleichmäßig unterhaltenen produktiven Fleißes.“ Der Jude hat im Gegensatz zum Christen „auch nicht den schwächsten Antrieb ihn zum Bestand des Ganzen anzulegen.“ (Friedrich Buchholz, 1803)
(10) Besonders in Krisenzeiten ging der verbale Antisemitismus in die Tat über. In Folge der Gründerkrise titelte 1875 die auflagenstarke Zeitschrift Germania „Kauft nicht bei Juden!“.
(11) Richard Wagner meinte 1880, er hätte eine „instinktmäßige Abneigung gegen Juden“, diese seien der „plastische Dämon des Verfalls der Menschheit“. G. Fichte, der deutsche Philosoph glaubt, man müsste den Juden „in einer Nacht ... allen die Köpfe abschneiden und andere aufsetzen.“
(12) Der Hofprediger Adolf Stoecker (Christlich Soziale Partei) meinte 1885 bezüglich der Notwendigkeit eines Kampfes gegen die Juden: „Sein oder Nichtsein (...) einen Gegensatz an dem Völker zugrunde gehen können, wenn sie ihn nicht auskämpfen.“
(13) Wobei die Unterscheidung hier auf dem Papier zwar klar zu vollziehen ist, treten in der Wirklichkeit aber antisemitische und rassistische Phänomene verquickt auf. Dies gilt bezüglich der Motivation der Täter, als auch in der Wahl der Opfer. So beispielsweise im Ressentiment gegen die Zigarettenmafia, in dem sowohl rassistische als auch antisemitische Stereotypen enthalten sind.
(14) „Für die Bonzen steht ihr da, Marionetten ha, ha, ha.“, „Hinter dem Faschismus steht das Kapital, der Kampf um Befreiung ist international.“ (Beim zweiten dieser Demosprüche ist mit Kapital nicht die Einheit von Produktions- und Zirkulationssphäre, sondern sind Banker und Spekulanten gemeint)
(15) „Diese Fremdlinge pflegen durch ihre geschäftliche Unmoral schnell zu Wohlstand zu gelangen, (...) hier muss schonungslos durchgegriffen werden, wenn das deutsche Volk von dieser Landplage befreit werden soll.“ (Nov. 1919, Rhein- und Ruhrzeitung)
„Für uns besteht nicht der geringste Zweifel an der überaus großen Gefährlichkeit dieser Elemente. Da sie es bei ihrem Raffinement, bei ihren Verbindungen untereinander und mit Dritten und bei ihrer Geschicklichkeit, Ausnahmebestimmungen auszunutzen, anscheinend sehr gut verstehen, die gesetzlichen Vorschriften zu umgehen, so ist trotz aller hie und da verhängten Strafen und sonstigen Nachteilen gegen das Unwesen ein durchgreifender Erfolg kaum zu erhoffen, wenn es sich nicht ermöglichen lässt, die unerwünschten ausländischen Gäste, deren Anwesenheit für uns auch aus politischen wie aus Ernährungs- und Wohnungsrücksichten nicht gerade von Vorteil sein dürfte, von Deutschland fernzuhalten.“ (1.2.1919, Schreiben des Reichsbankdirektoriums an den Reichsminister des Inneren, anfangs werden „geeignete Maßnahmen“ gegen die „galizischen und polnischen Juden“ im Berliner Scheunenviertel gefordert)
„Die Erfahrung des Berliner Polizeipräsidiums und vieler anderer Dienststellen ergeben, dass sich unter ihnen zahlreiche, zu ungesetzlichen Handeln neigende Elemente befinden, die der inländischen Bevölkerung nicht nur durch Inanspruchnahme der ohnehin knappen Wohnräume und Nahrungsmittel zur Last fallen, sondern als Schädlinge im deutschen Wirtschaftsleben zu bezeichnen sind. (...) Dazu kommen die schweren Missstände in unserem Wirtschafts- und Erwerbsleben, die durch Wucher, Hehlerei, Schiebergeschäfte und andere Arten des ungesetzlichen Handelns hervorgerufen werden. Auch diese Missstände werden durch die ostjüdische Einwanderung verschärft, da erfahrungsgemäß ein großer Teil der Ostjuden zu unlauterem geschäftlichen Vorgehen neigt.“ (1.11.1919, Schreiben des Reichsinnenministers an sämtliche preußische Minister)



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last modified: 28.3.2007