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das Erste, 1.3k

1,9 Milliarden Überstunden sind zuviel!

Ralf, 15.1k „Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind. Die Variation des Arbeitstags bewegt sich daher innerhalb physischer und sozialer Schranken. Beide Schranken sind aber sehr elastischer Natur und erlauben den größten Spielraum. So finden wir Arbeitstage von 8, 10, 12, 16, 18 Stunden, also von der verschiedensten Länge.
Der Kapitalist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tageswert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswert während eines Arbeitstages. Er hat also das Recht erlangt, den Arbeiter während eines Tags für sich arbeiten zu lassen. Aber was ist ein Arbeitstag? Jedenfalls weniger als ein natürlicher Lebenstag. (Der) Kapitalist ist (...) nur pesonifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital aber hat einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse an Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert. Konsumiert der Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten.
Der Kapitalist beruft sich also auf das Gesetz des Warenaustausches. Er, wie jeder andre Käufer, sucht den größtmöglichen Nutzen aus dem Gebrauchswert seiner Ware herauszuschlagen.
Plötzlich aber erhebt sich die Stimme des Arbeiters, die im Sturm und Drang des Produktionsprozesses verstummt war: ‘Die Ware’ die ich dir verkauft habe, unterscheidet sich von dem anden Warenpöbel dadurch, daß ihr Gebrauch Wert schafft und größeren Wert, als sie selbst kostet. Dies war der Grund, warum du sie kauftest. Was auf deiner Seite als Verwertung von Kapital erscheint, ist auf meiner Seite überschüssige Verausgabung von Arbeitskraft. Du und ich kennen auf dem Marktplatz nur ein Gesetz, das des Warenaustausches. Und der Konsum der Ware gehört nicht dem Verkäufer, der sie veräußert, sondern dem Käufer, der sie erwirbt. Dir gehört daher der Gebrauch meiner täglichen Arbeitskraft. Aber vermittelst ihres täglichen Verkaufspreises muß ich sie täglich reproduzieren und daher von neuem verkaufen können. Abgesehen von dem natürlichen Verschleiß durch Alter usw., muß ich fähig sein, morgen mit demselben Normalzustand von Kraft, Gesundheit und Frische zu arbeiten, wie heute. Du predigst mir beständig das Evangelium der ‘Sparsamkeit’ und ‘Enthaltung’. Nun gut! Ich will wie ein vernünftiger, sparsamer Wirt mein einziges Vermögen, die Arbeitskraft, haushalten und mich jeder tollen Verschwendung derselben enthalten. Ich will täglich nur so viel von ihr flüssig machen, in Bewegung, in Arbeit umsetzen, als sich mit ihrer Normaldauer und gesunden Entwicklung verträgt. Durch maßlose Verlängerung des Arbeitstags kannst du in einem Tage ein größeres Quantum meiner Arbeitskraft flüssig machen, als ich in drei Tagen ersetzen kann. Was du so an Arbeit gewinnst, verliere ich an Arbeitssubstanz. (...) Du zahlst mir eintägige Arbeitskraft, wo du dreitägige verbrauchst. Das ist wider unsren Vertrag und das Gesetz des Warenaustausches. Ich verlange also einen Arbeitstag von normaler Länge, und ich verlange ihn ohne Appell an dein Herz, denn in Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf. Du magst ein Musterbürger sein, vielleicht Mitglied des Vereins zur Abschaffung der Tierquälerei und obendrein im Geruch der Heiligkeit stehn, aber dem Ding, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust. Was darin zu pochen scheint, ist mein eigner Herzschlag. Ich verlange den Normalarbeitstag, weil ich den Wert meiner Ware verlange, wie jeder andre Verkäufer.
Man sieht: von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Nomalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“ (Karl Marx, Das Kapital, Band I, Der Abeitstag)
Was hier so obsolet klingt, weil es im Subtext auf ein Klassenbewußtsein rekurriert, das heuer abwesender denn je ist, hat nicht ein Fünkchen an Objektivität verloren:
Laut der Bundesanstalt für Arbeit werden allein in diesem Jahr rund 1,887 Milliarden Überstunden anfallen – 37 Millionen mehr als im Vorjahr.
„Hier ist was faul im Staate Deutschland“, konstatiert Bild und stellt fest: „Das müssen wir ändern. Andernfalls wäre unsere Gesellschaft krankhaft egoistisch.“ Gesellschaftlicher Konsens ist daher, die scheinbar unvermeidlichen Überstunden durch angeblich zuviel anfallende Arbeit in Arbeitsplätze umzuwandeln, die man öffentlich schon selbstverräterisch genug glattweg als Beschäftigung tituliert und damit offenbart, wie sehr diese Gesellschaft längst in ein Stadium des Buhlens um Beschäftigung, um reinste und feinste Simulation von Arbeit, eingetreten ist. Der Staat fungiert gegenüber seinen Bürgern und deren künstlich-naturhaften Bedürfnissen nach Beschäftigung – und nicht etwa wie noch in der durchsichtigen Klassengesellschaft nach Arbeit – je nach Belieben und Lobby als verzweifelter und hilfloser Regulierer, Steuerer oder Ankurbler. Die Rede von der sogenannten Deregulierung besagt schlichtweg nichts anderes, als daß die Regulierung des Ökonomischen, wie sie sich deutschlandspezifisch als korporiertes Männer-Bündnis für Arbeit – der auch Frauen zulassenden Burschenschaft von Regierung bis Gewerkschaft – präsentiert, durch Volkes Maul nur als „Palaverkreis altgedienter Kartellverwalter“ (Leipziger VolkszeitungLVZ) abgecancelt werden kann. Einem Kreis also, der nichts tun würde, außer „palavern“, und dem man mal richtig auftischen müßte, was zu tun ist, damit endlich „ein Entscheidungsfundament etwa für ein flexibleres, betriebsorientierteres Tarifrecht, für eine weitere Senkung der Lohnzusatzkosten, für eine Entkernung der Sozialsysteme“ (LVZ) ausgehoben werden könne. Denn fest stünde, daß diese Bündnis „keine Programmatik, keine Fantasie, keine Organisation und keine Entscheidungsverfahren“ hätte (taz). Worüber die postfordistische Guerilla namens Bündnis für Arbeit ohnehin zusammenhockt, nämlich ein Entscheidungsfundament für ein flexibleres betriebsorientiertes Tarifrecht, für eine weitere Senkung der Lohnzusatzkosten, für eine Entkernung der Sozialsysteme zusammenzuwerkeln, weil es bisher keine Programmatik, keine Fantasie, keine Organisation und keine Entscheidungsverfahren gibt, geht dem autoritären Charakter des Staatsbürgers deshalb auf die Ketten, weil er ja 1,887 Milliarden Überstunden schrubbt, sein Arbeitsplatz auch noch gefährdet ist und die da oben doch nur „palavern“, wo sie doch nur jenen willigen Verzicht, der sich im von allen enger zu schnallenden Gürtel metaphorisiert, zu formalisieren hätten.
Wenn man „die Persönlichkeitstypen ganz allgemein unter gewissen Gesichtspunkten in solche einteilen kann, deren Aggression sich gegen den Mächtigen und deren Sympathie sich für den Unterdrückten entwickelt, und in solche, deren Aggression sich gegen den Wehrlosen und deren Sympathie sich auf den Mächtigen erstreckt, so ist der autoritäre Charakter ein eindeutiger Repräsentant des zweiten Typs“, schrieb Erich Fromm in Studien über Autorität und Familie. Dieser Typ drückt in seiner Ohnmacht gegenüber den objektiven Zwangsverhältnissen des Tausches im Kapitalismus nichts anderes aus, als daß ihm die Mächtigen nicht mächtig genug sind, weil sie über das nur „palavern“ würden, was aber längst schon hätte getan werden müßen.
Das schlechte Gewissen des einzelnen Bürgers verdrängt die Unbill über 1,887 Milliarden Überstunden, weil die letztlich als notwendig empfunden werden – als Verzichtserklärung gegenüber dem Staat, der allgemein anerkannten zuständigen Instanz des Über-Ichs. Dafür erwartet man die Gegenleistung, daß aus dem gesellschaftlichen Fetisch der Arbeit quantitativ Beschäftigung (!) entspringen muß.
Das höchste Gut, was das Kapital der einzelnen Ware Arbeitskraft zu geben vermag, ist das Recht auf Selbstausbeutung. Für genau dieses haben die Linken Jahrzehnte unter der Verwendung von Kampfbegriffen wie Menschenrechte, Arbeitsrechte, Frauenrechte, Recht auf Freiräume, auf Selbstbestimmung, auf Kreativität oder auf Selbstverwirklichung gestritten.
In der Selbstausbeutung wird die Entfremdung von Arbeit als Schein in einem Maße verdrängt, wie es die Modernisierungspläne im Kapitalismus vom bürgerlichen Subjekt verlangen. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit als der angebliche Klassenwiderspruch schlechthin wird hier als systemimmanenter entschleiert (Moishe Postone). Selbstausbeutung ist die Produktivkraft innerhalb der Teamarbeit, welche wiederum das geschichtlich entwickelte Bedürfnis des bürgerlichen Subjektes nach der freien Wahl der Ausbeutungsform auf die Spitze treibt.
Das Verlangen nach Selbstausbeutung ist grenzenlos. Es ist weder zeitlich nocht territorial zu binden. Flexibilität und Mobilität sind die Komponenten eines scheinbaren Paradoxons: was als ein Mehr individueller Freiheit und Selbsverwirklichung erfahrbar wird, zeugt von einer nicht vorhandenen Freiheit, die unter der Wertform der bürgerlichen Existenz schier zerquetscht wird.
Die Corporate Identities, welche als ein bunter Strauß von Waren mit entsprechender Image-Aura wahrgenommen und rezipiert werden, sind endgültige Gleichmacherei. Sie kennen nur einen Zweck und ein Mittel: den Tausch und die Ware. Nur damit vermag sich das bürgerliche Individuum überhaupt noch zu identifizieren, was davon abweicht, ist eben Wert-los.
All das aber „hat nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert wird. (...) Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche (...) wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht. Gesellschaftlich notwendige ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen. Es ist also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, welche seine Wertgröße bestimmt. Die einzelne Ware gilt hier überhaupt als Durchschnittsexemplar ihrer Art. Waren, worin gleich große Arbeitsquanta enthalten sind, oder die in derselben Arbeitszeit hergestellt werden können, haben daher dieselbe Wertgröße. Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder andren Ware, wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der andren notwendigen Arbeitszeit. ‘Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit’“ (Karl Marx, Das Kapital, Band I, Die Ware)
Die gesellschaftliche Notwendigkeit von Überstunden ergibt sich also aus der Kategorie Zeit als Abstraktum. In dieser werden Produktion und Reproduktion als gesellschaftliche Größen nach männlichen Prinzipien bestimmt. Das allerorts postulierte Ende des Sozialstaats, von New Deal und Keynes – am Rhein wie überall – erzeugt bei den Menschen die Symbiose aus Verzicht und Romantik. Der Wunsch nach geordneten Verhältnissen unter dem Bewußtsein, daß durch die Realisierung dieses Bedürfnisses letztlich alles zusammenbrechen würde, findet Ablenkung in der Sphäre der Freizeit. „Die Frage, welche dem Phänomen der Freizeit heute gerecht würde, wäre wohl die, was aus ihr bei steigender Produktivität der Arbeit, aber unter fortdauernden Bedingungen von Unfreiheit wird“, meinte Adorno schon 1969 in seinem Aufsatz Freizeit. Er kommt dort zu dem Schluß, daß sich in der Freizeit, in der sich die Unfreiheit „verlängert“, jene organisierte nur „zwangshaft“ sein könne: Das Verlangen der Menschen nach Freizeit sei „deren eigenes Bedürfnis nach Freiheit“, welches aber „funktionalisiert“ werde, „vom Geschäft erweitert reproduziert“, wodurch daß, „was sie wollen, nochmal ihnen aufgenötigt“ werde. Deshalb gelänge die „Integration der Freizeit so reibungslos; die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, Unfreie sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von ihnen abstrahiert“ werde. Das Ergbnis sei eine Art „Pseudo-Aktivität“ als „fehlgeleitete Spontaneität“.
Diese Sponateneität aber läßt sich übersetzen in den Willen der bürgerlichen Subjekte, sich dem gesellschaftlich notwendigen Zeitmaß freiwillig zu unterwerfen: „Nicht zuletzt dadurch sind sie an ihre Arbeit und an das System gekettet, das sie zur Arbeit dressiert, nachdem es dieser weitgehend bereits nicht mehr bedürfte.“ (Adorno, ebenda)
Sogenannte Zeitforscher, schon seit Jahren auf Expedition in die Zukunft der Zeit für das Kapital, prognostizieren längst, daß unsere bisherigen Zeitmaßstäbe wie z.B. Wocheneinteilungen in absehbarer Ferne hinfällig würden. Was sie aber angeblich nur vorhersagen, nimmt erst durch ihre Analyse der Auswirkungen für die Gesellschaft Gestalt an. Unterm Strich nämlich werden dabei – wie immer bei der Forschung – die Mittel zur Effektivierung der totalen Vergesellschaftung entwickelt, die das Kapital aus der nächsten Krise, der Krise, hervorgerufen durch das schon jetzt vorhersagbare Ende des Postfordismus, führen wird.
Doch auch dann wird wohl immer noch in einer FAZ dieser Welt stehen, was selbige bereits am 12. Februar 2001 in einem Leitartikel feststellte: „Der Kapitalismus ist eine gute Sache“ mit einem „fröhlichen Wettbewerb“ als Kern.
Genau das müssen die Menschen lesen, weil sie daran glauben wollen. So ein Wahnsinn ist das.
Ralf

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last modified: 28.3.2007