1. Mai, die beste Demo aller Zeiten. Muss ich hingehen!
Halt, keine Gewalt!
Der Kapitalismus scheint sich aller bedeutenden Konflikte entledigt zu haben,
so dass nur eins bleibt, was das bunte Treiben demokratisch verfasster
Marktwirtschaften noch stören kann: Gewalt. Amokläufer, Nazis,
Räuber und Mörder aller coleur, Vergewaltiger, Kinderschänder,
Gangmitglieder und viele andere Gestalten der Zeitgeschichte lassen sich auf
den gemeinsamen Nenner der Gewalttäterschaft herunterbrechen. Daher hat
sich um jede der genannten Gruppen eine eigene außerpolizeiliche Bewegung
gebildet, die Werbung gegen sie macht.
Auch die radikale Linke hat sich dem Kampf gegen Gewalt verschrieben,
allerdings gegen die Gewalt der Herrschenden bzw. der herrschenden
Verhältnisse (strukturelle Gewalt). Sie hat zu recht darauf bestanden,
dass die Gesellschaft, besonders da wo sie besonders zivilisiert erscheint, auf
Gewalt beruht. Allerdings nicht ohne Gewalt zum größten Problem des
Kapitalismus aufzublähen; groß genug um selbst gewalttätig zu
werden oder zumindest darüber zu diskutieren.
Weil sie den bürgerlichen Verkehrsformen als ihr Anderes
gegenübersteht, also die Grenzen dessen kennzeichnet, was als normal,
formal, erlaubt und richtig gilt, wird Gewalt von Bürgern als
außerordentliches Geschehen wahrgenommen. Trotz ihrer
Denunziation der Gewalt kapitalistischer Verhältnisse hat die bei ihrer
Kritik dieser Gesellschaft deren legitimatorische Struktur unbewusst
reproduziert. Jahrelange Debatten militanter Aktivistinnen und Aktivisten
über Formen und Ziele (Personen oder Sachen) von Gewalt wurden stets
doppelt legitimiert, mit der Schuldigkeit des Angegriffenen und mit dem
Versprechen, letzten Endes für ein Ende der Gewalt einzustehen. Dabei
haben sie oft guten Geschmack bewiesen und sind zweifelsohne nicht selten die
moralischen SiegerInnen gewesen. Dass sie aber dennoch wie der bewaffnete Arm
der Sozialdemokratie wirken, erklärt sich durch einen völlig
unreflektierten Umgang mit Bestimmung und Bedeutung von Gewalt.
Was Gewalt ist, bestimmt sich in Recht und Moral. Gewalt wie ihr Ausschluss und
ihre Unterdrückung sind somit gleichursprüngliche Momente der
bürgerlichen Gesellschaft. Im blinden (und gewaltsamen) Kampf gegen die
Gewalt hat die militante Linke die bürgerliche Gesellschaft verdoppelt,
sie hat sich als die kleine Schwester der Zivilgesellschaft erwiesen.
Zivilgesellschaftlicher Totalitarismus
Im Kampf gegen Gewalt offenbart die Zivilgesellschaft
Hoffnungsträgerin und Spielwiese sozial- und bürgerrechtsbewegter
Demokratiefanatiker zugleich ihre totalitären Züge.
Gewaltverzicht fungiert hier als Glaubensbekenntnis, als Eintrittskarte zu den
höchstoffiziellen Stellen der Gesellschaft. Gewalt wird dabei stets als
körperliche Gewalt, nie als strukturelle Gewalt begriffen als ob
gesellschaftliche Zwangsstrukturen wie Lohnarbeit oder Wehrdienst nicht Formen
der Gewalt wären. Das zivilgesellschaftliche Kollektiv konstituiert sich
im Verzicht auf diejenigen Formen von Gewalt, die ihm als unnütz oder
gefährlich erscheinen, also gerade nicht durch einen reflektierten Umgang
mit Gewalt- und Zwangsverhältnissen. Sein Versprechen auf weitestgehende
Gewaltfreiheit besteht gerade in der Drohung, diese jederzeit anwenden zu
können. Dies zeigt sich an der monatelangen Debatte über Fischers
Haltung zur Gewalt; darüber, ob und wie Joschka sich mit einem Polizisten
prügelt, während seine Verantwortung für die Kriegsverbrechen an
der jugoslawischen Bevölkerung im Frankfurter Molli-Nebel verschwinden.
Dabei wiederholt sich eine tausendfach geführte Debatte an einem nicht mal
neuen Gegenstand, indem nach totalitarismustheoretischer Manier Gewalt als das
schlechthin mit Demokratie und Rechtsstaat unvereinbare verstanden und
verurteilt wird.
Wenn sie nicht gerade in den Fotoalben ihrer rebellischen Tage blättern,
brüskieren die Akteure der bundesdeutschen Zivilgesellschaft sich derzeit
mit Vorliebe über Rechtsradikale. Dabei sind sie, wie gewohnt,
gründlich, fest entschlossen und nicht zimperlich geht es doch
gegen (rechte, eigentlich aber jegliche) Gewalt und für die
Toleranz. Hinter dieser Aktivität verbirgt sich ein Denken, das sich kaum
vom Menschenbild des bekämpften Rassisten unterscheidet. Toleranz kann nur
demjenigen gewährt werden, der nicht gleichgestellt ist, sie ist eine
großzügige Geste des Herrenmenschen, dessen Artgenossen seit 12
Jahren in Ostdeutschland für Furore sorgen. Im Antifa-Sommer steht
offensichtlich weniger die Sorge um die Opfer der Nazis als Ärger
über die offen und stolz zur Schau getragene Asozialität ihrer
Mörder im Zentrum der neuen Mitbürgerlichkeit. Ausbleibende
moralische Empörung über Ausländergesetze, Abschiebung und die
brutale Sicherung der deutsch-polnischen Grenze sind nicht als Heuchelei oder
Doppelmoral zu verstehen, sie sind der konsequente Rahmen der Staatsantifa und
zeigen deutlich an, was Zivilgesellschaft ist.
Demokratisches Selbstverständnis schließt seine eigene
Gewalttätigkeit immer aus, um sie am anderen wahrnehmen zu können. Wo
Gewalt auftritt, ebnet sie alle spezifischen Differenzen ihres Erscheinens ein;
sie wird abstrakt als irrational und unmoralisch aufgefasst.
Dabei ist es mit der Gewaltlosigkeit der Demokratie nicht weit her, da gerade
sie auf Gewalt rückverwiesen ist. Es ist diese uneingestandene
konstitutive Verwiesenheit von Gewaltfreiheit und Gewaltausübung, die in
exzessiver Konzentration auf Vorfälle der Delinquenz und
Überschreitung kulminiert.
Kapital und Gewalt
Entgegen aller Verlautbarungen der Apologeten unserer Demokratie,
sind es gerade die Demokratie und die kapitalistische Gesellschaft im
allgemeinen, die durch Gewalt bedingt sind und sie ständig hervorbringen.
Nicht nur lagen die historischen Wurzeln des Kapitals u.a. darin, große
Teile der Bevölkerung in die Fabrikdisziplin zu prügeln. Auch im
Inneren seiner demokratischen Variante finden sich Zwang und Gewalt keineswegs
nur als Versehen oder Ausnahme. So konstituiert sich alle öffentliche
Ordnung durch gewaltgesetzte Grenzen, überwindet damit aber nicht einmal
die Möglichkeit von offenem Terror und Krieg im und durch den legal
bestimmten Raum, wie an Faschismus und Krieg, den Krisenoptionen
bürgerlicher Gesellschaft, erkennbar ist. Beide stehen nur formell im
Gegensatz zur Demokratie, sind aber deshalb nicht inkompatibel mit
kapitalistischer Gesellschaft.
Die Gewaltfreiheit des demokratischen Bürgers ist nicht die reflektierte
Gewaltlosigkeit einer emanzipierten Gesellschaft, sondern konstitutives Element
der Rechtsform des Warenbesitzers. Kapitalistischer Betrieb bedarf eben nicht
des ständig eingeforderten Verzichts auf jede
Gewalt. Er verträgt lediglich diejenige Gewalt nicht, die seine
Verkehrsformen beeinträchtigen, während er sich notwendig auf andere
stützt. Gewalt erscheint als das ausgeschlossene der bürgerlichen
Gesellschaft, als zivilisationsfeindlich und ordnungszerstörend. Sie
erscheint aber nur daher als das andere der demokratischen Gesellschaft, weil
sie als Naturgegebenheit des Krieges Aller gegen Alle ausgelagert
wird, die von bürgerlichen Rechtsformen zu bändigen sei.
Gewaltverzicht ist nur deshalb vernünftig und moralisch zwingend, weil
Vernunft und Moral Ausdrucksweisen kapitalistischer Gesellschaft sind. Er ist
daher notwendig aufs Individuum beschränkt und nicht Wesensmerkmal der
Gesellschaft. Im Gegenteil; die Gewaltlosigkeit richtet sich genau nach den
Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung, in der Gewalt an anderer Stelle
mit Notwendigkeit alltäglich ist. Das Gewaltmonopol des Staates garantiert
nicht das Ende von Gewalt, sondern bestimmt lediglich deren Grenzen und
sanktioniert disfunktionales und destruktives Verhalten.
Die Einheit von Repression und Toleranz, von Demokratie und Gewalt, von
Freiheit und Herrschaft in Gesellschaften westlicher Prägung ist schon 68
treffend als repressive Toleranz charakterisiert worden. Die
Freiheit, alles zu tun und zu lassen, was man will, solange es keinem anderem
schadet, ist in Herrschaft und Ausbeutung eingebettet. Gewaltfreiheit ist nur
die individuelle Pflicht innerhalb einer gewalttätigen Gesellschaft.
Bürgerliche Demokratien verfügen per definitionem über ein
vergleichsweise großes Spektrum individueller Persönlichkeitsrechte.
An ihnen ist daher auch nicht ein zu wenig an Freiheit, Gleichheit und
Gerechtigkeit zu bemängeln kritisiert werden muss, dass die
Freiheit, die wir meinen doch immer nur als eine andere
Spielart der gleichen, bereits vorhandenen Freiheit denkbar ist, der des
individuellen Warenbesitzers.
Spektakel und Kritik
Gewalt ist Spektakel. Nicht nur, weil sie aus der normativen Realität
bürgerlicher Langeweile hervorsticht, sondern gerade diese an ihre
uneingestandenen Voraussetzungen erinnert. Gewalt in bürgerlichen
Gesellschaften ist idealiter nur in wohldosierter Form von definierten
Exekutivkräften als staatliches Gewaltmonopol anzutreffen (z.B.
Polizeigewalt, strukturelle Gewalt). Der Exzess, die Überschreitung oder
die unkontrollierte, scheinbar nicht zielgerichtete Gewalt wird jenseits
durchaus vorhandener moralisch-politischer Wertungen als Spektakel
wahrgenommen. Die gängigen Verurteilungen oder Legitimationsversuche tun
dem Spektakulären an Gewaltausbrüchen keinen Abbruch. Anstatt Papier
oder Sendezeit durch hilflose wie naive Aufrufe gegen Gewalt zu verschwenden,
wäre zu konstatieren, dass ihr, nur deshalb derart pathologische
Aufmerksamkeit zukommt, weil sie trotz ihrer Alltäglichkeit als das
Gegenteil von allem Guten und Schönen in bürgerlichen Gesellschaften
wahrgenommen wird. Gerade weil Gewalt immer als Tat des anderen wahrgenommen
wird und die Thematisierung der eigenen Verstricktheit in Gewalt unterbleibt,
erfährt sie dies spektakuläre Interesse.
Der 1. Mai sollte in seiner Gewalttätigkeit nicht als
revolutionär verklärt werden; er ist ein Spektakel, das
durch die diskursive Fokussierung auf Gewalt erst erzeugt wird.
Revolutionär kann bloß die Einsicht in diese Tatsache und der Umgang
mit diesem Spektakel sein. Dieser Umgang heißt konkret, die
Gewaltdiskussion um den ersten Mai zum Anlass zu nehmen, grundsätzlich zu
fragen, was an Gewalt denn von Interesse ist, nach ihren uneingestandenen
Ursachen zu fragen. Die offensichtliche Sinn- und Ziellosigkeit der Gewalt im
Zusammenhang mit dem Fehlen eines konkreten Ziels oder Programms
prädestiniert den 1. Mai zu einem Event radikaler Kritik. Praxis, die dem
Begriff der Kritik gerecht würde, sucht nicht nach (individuellen)
Auswegen, nicht nach besserer Repräsentation klassenspezifischer
Interessen, sondern kritisiert den Kapitalismus an sich selbst.
Es mag unbefriedigend sein, zu wissen, dass Kritik negativ ist und bleiben
muss, dass sie nicht unmittelbar in Praxis eingehen kann. Dies ist jedoch
unbedingt auszuhalten, wenn man sich nicht in blindem Wiederholungszwang an die
Reorganisation längst gescheiterter Projekte begeben will. Im Gegensatz zu
aller ernsthaften Politik ist der 1. Mai gerade das nicht, was ihm
von revolutionären bis reformistischen Politemphatikern unterstellt wird.
Er ist kein unreflektiertes Ritual zwischen Hooliganismus und Love-Parade. Der
1. Mai ist negativ und somit kritisch im besten Sinne.
Affirmative und radikale Kritik
Als radikale Kritik richtet sich der 1. Mai nicht (nur) gegen Auswüchse
staatlicher Gewalt, sondern gegen den gewaltfreien Sektor, gegen die
natürlichen Grundlagen von Mensch und Gesellschaft. So sehr
wir auch der Meinung sind, dass Gewalt, die sich gegen die herrschenden
Verhältnisse richtet, sich moralisch rechtfertigen lässt, so sehr wir
auch der Überzeugung sind, dass die Sprengung eines Abschiebeknasts
gegenüber der Errichtung eines solchen das weit geringere Verbrechen ist,
so ist es doch nicht unsere Aufgabe, die Gewaltdiskussion in dieser Weise zu
füttern. Wenn gezeigt wird, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre
eigene Gewalt ausschließt, um sie beim anderen wahrzunehmen, dann nicht,
um unsererseits zu versichern, dass Gewalt nur im Kommunismus ihr Ende finden
wird, sondern um den Gewaltdiskurs als Element bürgerlicher Ideologie zu
kritisieren.
Aufgabe der radikalen Linken kann es nur sein, Kapitalismus als Ganzen zu
kritisieren und nicht seine immanente Gewalt zu verurteilen, um ihr eine
bessere entgegenzustellen. Solche Kritik zerstört den Schein der
Vernünftigkeit staatlicher Ordnung, von Recht und Moral. Dazu erfindet sie
keinen besseren Staat, sie zeigt seine inneren Widersprüche auf, indem sie
die Verbindung von Gewalt und Gewaltlosigkeit in Recht und Moral denunziert.
Sie fasst und verwirft die kapitalistische Gesellschaft als historisch
gewordenes System, setzt diesem aber keine Entwürfe eines anderen,
besseren Lebens entgegen, sondern kritisiert gerade, dass alle konkrete Utopie
sich stets nach den Maßgaben kapitalistischer Rationalität
richtet.
Kritik verweigert sich jeglicher konstruktiver Mitarbeit und hält statt
dessen an der Perspektive der revolutionären Überwindung des
Kapitalverhältnisses fest.
Für den Kommunismus!
Antifaschistische Aktion Berlin (AAB)
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