Als einen Zeitroman höchster Brisanz, der über drei
Generationen von politischem Kampf Résistance, Mai 68 und
die Anschläge der achtziger Jahre die Frage der Gewalt
diskutiert, bewarb der Rotbuch Verlag den 1989 erschienenen Roman des
spanischen Schriftstellers Jorge Semprún. Nicht zuletzt durch
Netschajew kehrt zurück avancierte der Autor samt seines
literarischen Werkes im europäischen Literaturbetrieb alsbald zum
Protagonisten der Abrechnung eines glaubhaften Dissidenten mit dem
Kommunismus. Was trotzdem und unter aktuellen Gesichtspunkten dran
ist an Semprún Versuch einer Einschätzung.
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Zugegebenermaßen bedarf es der eingehenden Betrachtung der Biographie
Semprúns, um einer Einschätzung seiner langjährigen
literarischen Arbeit und seiner Wandlung vom KP-Funktionär und Organisator
des kommunistischen Untergrunds im francistischen Spanien zum Antikommunisten
und Minister einer konservativen Regierung und Träger des Friedenspreises
des deutschen Buchhandels 1995 gerecht zu werden. Auch die Lektüre des
hier rezensierten Romans kann nicht ohne Hintergrundinformationen auskommen,
obwohl durch die umfangreiche Verarbeitung autobiographischer und
zeitgenössischer Informationen der Bogen durch die gesamte Geschichte
linksradikalen Widerstandes dieses Jahrhunderts gespannt wird. Nicht zuletzt
erfreuen sich die Bücher Semprúns in Szenekreisen
großer Beliebtheit. Die mit einer ordentlichen Portion
Revolutionsromantik versehene Verehrung soll deshalb im Folgenden
hinterfragt werden.
Zweifelsohne lädt die Biographie Jorge Semprún y Mauras dazu ein,
ihn als schillernde Person der Zeitgeschichte und autorisierten Vertreter
linker revolutionärer Geschichte zu goutieren. 1923 in Madrid als Sohn
einer teils geadelten, teils bürgerlichen Familie republikanischer
Tradition geboren, wächst er nach Francos Sieg in Paris auf. Durch zwei
deutsche Kindermädchen früh mit der deutschen Sprache und Literatur
vertraut, wird er nach der Lektüre von Hegel und Lukács Marxist. Am
traditionsreichen Pariser Gymnasium Henri IV. erhält er seine
philosophisch ausgerichtete Schulausbildung, bevor er sich 1941 der
kommunistischen Résistance-Organisation Francs-Tireurs et
Partisans anschließt. 1943 wird er von den Deutschen
gefangengenommen und bis Kriegsende im KZ Buchenwald interniert, wo er wegen
seiner guten Deutschkenntnisse im Auftrag der illegalen Lagerleitung der KPD in
einem von Kommunisten geführten internen Verwaltungsdienst, der
Arbeitsstatistik, arbeitet. Nach seiner Befreiung aus dem KZ
arbeitet er bis 1952 in Paris als Übersetzer für die Unesco. Dann
beginnt sein Aufstieg in der Kommunistischen Partei: Von 1953 bis 1963 leitet
und organisiert er die illegalen Aktivitäten der KP in Madrid; im Herbst
1954 wird er ins Zentralkomitee aufgenommen, im Sommer 1956 steigt er ins
Politbüro auf. 1964 wird er zusammen mit Fernando Claudín wegen
Abweichung von der Parteilinie aus der spanischen KP ausgeschlossen.
Semprún wurde von der durch Carillo geführten Mehrheit des
Politbüros vorgeworfen, er vertrete revisionistische und kapitulatorische
Positionen. Seitdem lebte er lange Zeit als freier Schriftsteller in Paris; mit
dem Ende des Franco-Regimes kann er seit 1967 wieder legal nach Spanien reisen.
Juli 1988 bis 1991 amtiert er als Kulturminister der sozialdemokratischen
Gonzalez-Regierung.
Die in den 60er Jahren mit den offiziellen Enthüllungen Chruschtschows und
durch die Lektüre Solschenizyns und Schalamows einsetzende Kenntnis von
der Existenz der stalinistischen Straflager führen schließlich zum
Bruch mit seiner kommunistischen Lebensauffassung. Im Anschluß wird er zu
einem der vehementesten Kritiker Moskaus, denen er eine objektive Tendenz
zur weltweiten Expansion unterstellt: Der Sieg der Bolschewiki im
Oktober 1917 war ein Unheil für die Arbeiterklasse der ganzen Welt...
Nichts auf der Welt (ist) so reaktionär, so rechts wie der
gegenwärtige russische Staat. Aber es kommt noch besser. Mit der
Umwandlung des Diktums Horkheimers, Wer aber vom Kapitalismus nicht reden
will, sollte auch vom Faschismus schweigen (1939) in Wer aber vom
Stalinismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen,
produziert er in seiner Eröffnungsrede zu den Frankfurter
Römerberggesprächen 1986 eine frühe Fassung der später im
Historikerstreit breitgetretenen revisionistischen Lieblingsthese vom
vergleichbaren und sich bedingenden Totalitarismus beider Systeme. Wie kommt es
zu dieser krassen Wandlung eines ehemaligen KP-Kaders, der es als
Buchenwald-Häftling eigentlich besser wissen müßte?
Noch als KP-Funktionär hatte er 1969 seinen ersten Roman Die
große Reise veröffentlicht. Es ist ein beeindruckender Bericht
über den mehrtägigen Transport von 119 in einen Güterwaggon
zusammengepferchten Gefangenen, die aus dem französischen Compiégne
ins KZ Buchenwald deportiert werden. Durch Rück- und Vorblenden immer
wieder unterbrochen und unter bewußtem Verzicht auf zeitliche
Abläufe die Ereignisse nach ihrem inneren Zusammenhang ordnend, ist
Die große Reise autobiographisches Gesamtporträt und
Bilanz einer ganzen Epoche zugleich Semprún erzählt von
Bürgerkrieg, Schule, Universität, vom Engagement für die
Résistance, von seiner Verhaftung und den Verhören, von KZ,
Befreiung und der Rückkehr nach Frankreich. Unter dem Eindruck der
Enthüllungen über den sowjetischen Gulag und seiner Rolle als
Überlebender des KZs sieht Semprún selber den Schlüssel
für seine Wandlung: Er widerruft seinen ersten Roman und ergänzt
seine frühere Darstellung des antifaschistischen Widerstandes und des
Alltags in Buchenwald durch Berichte über seine Erfahrungen mit dem
ideologischen Terror der Komintern-Parteien, vor allem aber durch Hinweise auf
die Leiden der Gulag-Opfer: Zur Auslöschung des Schuldgefühls,
das ich empfand, in der scheinheiligen Unschuld der Erinnerung an
Buchenwald gelebt zu haben, in der unschuldigen Erinnerung, zweifellos dem
Lager der Gerechten angehört zu haben, während die Ideen, für
die ich zu kämpfen glaubte, zur gleichen Zeit dazu dienten, die radikalste
Ungerechtigkeit, das vollkommenste Übel zu rechtfertigen: das Lager der
Gerechten hatte die Lager von Kolyma geschaffen und gelenkt.
Semprún ist mit diesem Schuldgefühl verständlicherweise nicht
fertig geworden; daraus jedoch die These vom vollkommensten
Übel des Gulags, jenes Übel, was wohl eher durch
die (Vernichtungs-)Lager der Deutschen repräsentiert wurde, zu
konstruieren und auch fortan von den Nazilagern als recht getreuen
Spiegel der stalinistischen Gesellschaft zu sprechen, weist den Weg in
die zur Genüge vorhandenen geschichtliche Fehlanalyse. Wolfgang Schneider
sprach in diesem Zusammenhang über die Entwicklung und das
fortführende Wirken Semprúns als dem Scheitern eines Autors,
der mit seiner politischen Vergangenheit bricht, ohne ihre Lügen und
Wahrheiten wirklich bilanziert zu haben, der sich nun vom Stalinismuskritiker
zum Antikommunisten wandelt und, wie zahlreiche Ex-Kommunisten vor ihm auf der
Suche nach der verlorenen Moral den politischen Verstand
verliert.(1)
Einen neuerlichen Beweis seiner nun vollends gewandelten
Vergangenheitsbetrachtung liefert Semprún in seiner Einschätzung
des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung. 50
Jahre nach Kriegsende stellt er anläßlich seiner Rede zur
Entgegennahme des Weimar-Preises der Stadt Weimar am 3. Oktober 1995 den
Deutschen den Persilschein aus: Das deutsche Volk war nämlich das
Hauptopfer des Nationalsozialismus. Natürlich hat Hitlers rassischer
Imperialismus Krieg und Verheerung, Unterdrückung und ethnische
Säuberungen über die Landesgrenzen hinaus getragen... Aber sein
erstes Opfer war das deutsche Volk. Ich denke hier nicht nur an die Tausenden
von deutschen Häftlingen und Toten aus den Gefängnissen und den
Konzentrationslagern. Auch die Mitläufer, die Gleichgültigen, jene,
die die NSDAP gewählt haben, solange es noch freie Wahlen gab: sogar diese
Deutschen, ohne Zweifel die Mehrheit, waren Opfer des Hitlerregimes.
Neben dieser Täter=Opfer-Mentalität finden sich weitere Register
Semprúnscher Aufarbeitung: Mit den Leiden der
Hundertausenden von deutschen Kriegsgefangenen, sei es in Rußland oder
Frankreich, der Zahl der Todesopfer des GULAG, [die] insgesamt die
der Toten in allen möglichen Nazilagern übertrifft oder dem
historischen Gewicht der deutschen Barbarei, das weiter auf
den neuen Generationen lastet und sie zu einer endlosen historischen Kritik
zwingt, gibt er nur ein Beispiel von dem, was [er] betonen
möchte. Folgerichtig ist demnach auch seine Position zur deutschen
Einheit: Indem Hitler Deutschland aus seinem möglichen
demokratischen Lauf gerissen hat, und es fortan vom
weltumspannenden Antagonismus der beiden atomaren Supermächte die
Teilung auferlegt bekam, hat mit dem historischen Prozeß der
Wiedervereinigung die politische Befreiung Deutschlands ihren
Abschluß gefunden. Die Demokratie siegt immer. Auch in Weimar, am Tag der
Deutschen Einheit 1995.
Doch noch einmal zurück. Noch vor dem Wegfall des Eisernen Vorhangs
unterliegt das weitere Werk Semprúns, und damit auch Netschajew
kehrt zurück, dem Primat der Aufarbeitung des kommunistisch
beeinflußten Terrors; anders gesagt beginnt hiermit auch, im
Gegensatz zur wachsenden öffentlichen Rezeption, der Abstieg seiner wahren
literarischen Bedeutsamkeit. Dabei ist der Horizont des Buches noch
größer, da es, wie schon gesagt, die Zeit dreier Generationen
behandelt. Mittelpunkt des Romans ist die Person Daniel Laurencons, der sich
der Selbstauflösung der französischen linksradikalen Splittergruppe
Proletarische Avantgarde in den 70er Jahren widersetzt und mit
seinem Festhalten am revolutionären Kampf und seinen Attentatsplänen
die bürgerlichen Karrieren der übrigen Kader gefährdet.
Netschajew (nach dem russischen Anarchisten Sergej Gennadijewitsch
Netschajew aus dem letzten Jahrhundert), dessen Liquidierung durch die Gruppe
beschlossen worden war, kehrt Mitte der 80er Jahre, zwölf Jahre nach
seiner vermeintlichen Hinrichtung, nach Frankreich zurück, um Kontakt mit
seinen ehemaligen Genossen aufzunehmen, die ihm helfen sollen, aus der Welt des
Terrors auszusteigen. Die plötzliche Wiederkehr Laurencons stürzt die
inzwischen in führenden Positionen des Überbaus
sitzenden, in den Medien etablierten Untergrundkämpfer, die es
zudem geschafft hatten, die Gesellschaft zu beherrschen, die sie hatten
zerstören wollen... und dabei zu Macht und Knete gekommen waren, in
hektische Betriebsamkeit: Sein Ausstiegsplan sieht auch eine Reihe von
Mordanschlägen vor, die sich gegen eine Reihe seiner alten Freunde richten
sollten. Am Ende des Romans steht die Einsicht Laurencons, weder seiner
Geschichte noch seinen Verfolgern entkommen zu können. Längst hat er
kapiert, daß nur die Gewalt [gerecht ist], welche die Strenge des
demokratischen Gesetzes wiederherstellt. Demokratie und Recht sind
für den ehemaligen Revolutionär nun die Bedingungen, die die
einzigen allgemeingültigen Werte der Menschheitsgeschichte
darstellen. Ausdruck der Aufgabe linker Positionen und der Hinwendung zum
demokratischen Bewußtsein findet sich auch in der veränderten
Darstellungsweise der handelnden Charaktere, die nicht zuletzt in
Netschajew heftig kritisiert worden ist. Politik, Geschichte und
Kunst werden nun mit einem Personal bestückt, das einem klischeehaften
Kitschfigurenfundus entnommen scheint und die allesamt in einem mondänen
Ambiente agieren. Dazu kommt eine überkommene Vorstellung der
Mann-Frau-Beziehungen, mit der er seine Helden ausstattet und die
einmal zu Recht als Altersgeilheit Semprúns charakterisiert
worden ist. Gerade die Figur des Revolutionärs Laurencon, der von
seinem Vater die Gestalt eines Wikingers geerbt hatte, ist es, die eher
dem romantisch verklärten Helden eines Groschenromans nahe scheint:
Mit einer Handbewegung hatte er noch einen Armagnac bestellt. Das junge
Mädchen kam mit der Flasche. Sichtlich betrübt. Ein so junger Kerl,
so männlich, und Alkoholiker! Liebeskummer, murmelte er,
während sie ihm abermals sein Glas füllte. Aber man rief die
Kellnerin am anderen Ende der Theke, sie konnte diesem Problem also nicht auf
den Grund gehen. Er sah ihr nach, sie hatte einen hübschen Hintern. Der
Alkohol und der schöne Arsch wärmten seinen Bauch.
Ungeachtet dieser eigentlich vernichtenden Kritiken bleibt Semprún
trotzdem lesenswert. Kann man aber ein Buch begeistert aufnehmen, wenn sich der
Autor im Nachhinein gelinde gesagt als Arschloch erweist? Man
kann bis zu einem gewissen Punkt: Denn auch wenn Semprún den
Versuch aufgegeben hat, sich seiner Geschichte und Identität zu
vergewissern, so sind es doch gerade die sichtbar gemachten
Erinnerungsfragmente von Situationen und Motivationen, die v.a. Die
große Reise und Netschajew kehrt zurück lesenswert
machen, indem sie linke Geschichte und historische Realitäten transparent
erscheinen lassen, die im konservativ und revisionistisch geprägten
Geschichtsbild unserer Zeit allzuoft ausgeblendet werden: So die Begegnung
Gérards (des [autobiographischen] Erzählers aus Die
große Reise) mit der Bewohnerin eines mit unmittelbaren Blick auf
die Krematoriumschornsteine Buchenwalds gelegenen Wohnhauses, die nach der
Konfrontation mit der schönen Aussicht ihrer Zimmer den Tod
ihrer beiden Söhne im Krieg anführt. Die Antwort Gérards:
Aber nicht alle Toten wiegen gleich schwer. Kein Gefallener der deutschen
Armee wiegt je so schwer wie das Gewicht des Rauches eines einzigen meiner
toten Kameraden. Oder nicht zuletzt die Episode von Pepe Ramirez, der als
einer der wenigen spanischen Überlebenden der Pariser Kampfgruppen der
kommunistischen MOI 1975 nach Spanien zurückkehrt und feststellen
muß, daß sich nach Einzug der Demokratie niemand in seiner
Heimatstadt an der Reiterstatue Francos stört, die auf dem Platz steht,
auf den zurückzukehren er die dreißig Jahre seines Exils
geträumt hat. Läßt allerdings die Begeisterung nach, weil
offenkundig wird, daß sich die Erinnerung nicht mehr im Gleichklang mit
dem damals empfundenen Lebensgefühl befindet, wird man wohl die
unfreiwillige Ironie der Bücher Semprúns für lesenswerte
Essenz halten: Die Essenz des Wandels linksradikaler Aktivisten zu den
Protagonisten des einst hart bekämpften demokratischen
Establishments, dessen bestes Beispiel wohl Jorge Semprún selber
geworden ist.
Philipp
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