Was ist Kapital und was ist Klassenkampf? Von Robert Kurz. (entnommen aus ND vom 19. Februar 1999)
Das gesellschaftliche Paradigma des Klassenkampfes ist
historisch erledigt. Ohnehin war es im wesentlichen immer nur ein
Verteilungskampf innerhalb des modernen warenproduzierenden Systems gewesen.
Diese systemimmanente Auseinandersetzung schien grundsätzlicher zu sein,
als sie wirklich war, solange Sozialstaat und Arbeitsverwaltung noch
unterentwickelt blieben und die Lohnarbeiter von den kapitalistischen Eliten
nur widerstrebend als selbstverantwortliche Staatsbürger anerkannt wurden.
Klassenkampf, das hieß, daß der Kapitalismus beiderseits noch
weitgehend in einem ständigen, halbfeudalen Sinne (miß-)verstanden
wurde. Die Eliten faßten ihn als ihren kollektiven Familienbesitz auf und
die gesellschaftliche Lohnarbeit gewissermaßen als das dazugehörige
Gesinde, das paternalistisch zu behandeln war. Umgekehrt sahen gerade deswegen
die Lohnarbeiter den Kapitalismus auch ihrerseits als ein System von
»Privilegien der Reichen« an, bedingt etwa durch das
bürgerliche Erbrecht, das einer kleinen Minderheit die
»Verfügungsgewalt« über den gesellschaftlich produzierten Reichtum garantiere.
Bei einer solchen Betrachtungsweise erschienen die gesellschaftlichen Formen
und Funktionskategorien des Kapitals (Wert, Geld, abstrakte
»Arbeit«, Betriebswirtschaft, Markt, Staatsapparat) eigentlich
gar nicht als »Kapitalismus«, sondern als quasi neutrale
Gegenstände, um die sich der Klassenkampf eben drehte. Deshalb hat der
Sozialismus auch alle einschlägigen ökonomischen Kategorien
ausnahmslos übernommen, um sie vermeintlich anders zu moderieren. Das
alles wirkt heute antiquiert und naiv. Jedes Kind weiß, daß wir es
mit einem anonymen, mechanischen Systemzusammenhang zu tun haben. Marx,
insofern theoretisch schon immer weit jenseits der Arbeiterbewegung, sprach vom
»automatischen Subjekt« des ökonomischen Werts. Damit meinte
er, daß Kapitalismus nicht etwa eine Privilegienveranstaltung »der
Reichen« ist, sondern eine gesellschaftliche Maschine. Diese Maschine
besteht in der automatischen Rückkoppelung des Geldes auf sich selber, das
sich so aus einem bloßen Medium (das es am Rande der alten
Agrargesellschaften gewesen war) in einen irrationalen Selbstzweck verwandelt
hat. Dieser blind prozessierende Selbstzweck der »Verwertung des
Werts&171; bringt Funktionsgesetze und Verlaufsformen hervor, die jenseits
jeder subjektiven »Verfügungsgewalt« liegen.
Die alte Betrachtungsweise war offensichtlich an einen unentwickelten Zustand
des Systems gebunden, in dem der »automatische« Aspekt noch nicht
so deutlich in Erscheinung trat. Aber je mehr das alte Paradigma
verblaßt, desto hilfloser sind die Menschen dem gesellschaftlichen
Roboter des Kapitals ausgeliefert. Das liegt natürlich daran, daß
kein kritischer Begriff des Ganzen mehr existiert. Solange man sich »das
Kapital« noch als eine soziale Gruppe von Aneignungssubjekten vorstellen
konnte, die in ihren Ansprüchen zu zügeln oder schlicht zu enteignen
waren, schien Kapitalismuskritik eine simple Sache zu sein.
Aber wie soll man einen stummen ökonomischen Mechanismus »enteignen«?
Das ginge nur, wenn an die Stelle der Preise von Waren Institutionen einer
gesellschaftlichen Selbstverwaltung der Ressourcen treten, wobei Produktion und
Verteilung gemeinsam nach Bedürfnissen und Kriterien
sozialökologischer Vernunft organisiert werden, also nicht mehr durch Warentausch auf anonymen Märkten.
Aber davor schreckt das auf- und abgeklärte Bewußtsein von Menschen
zurück, die sich selber nur noch als Marktteilnehmer definieren
können. Der Warentausch erscheint auch im Massenbewußtsein als
Garantie der Freiheit (insofern hat die bürgerliche Ideologie gesiegt),
obwohl er nichts weniger ist als die Sphäre des freien Aushandelns
zwischen »unabhängigen Produzenten«. Denn der allseitige
Warentausch exekutiert ja nur die »Realisation« des
kapitalistischen Selbstzwecks, die Rückverwandlung von abstrakter
»Arbeit« in Geld. Marktteilnehmer sind wir nicht als freie
Produzenten, sondern als demokratische Sklaven der Arbeitsmärkte. Unsere
Freiheit des Kaufens und Verkaufens ist identisch mit unserer Unfreiheit
hinsichtlich der Bedingungen unserer Existenz. So kommt es, daß das
größere, aber unkritische Bewußtsein über den abstrakten
Systemcharakter des Kapitals die Menschen nicht etwa klüger, sondern
dümmer gemacht hat als bei der früheren naiven Betrachtungsweise.
Das Resultat ist ebenso absurd wie unheimlich: Der kapitalistische
Systemwiderspruch verschwindet nicht, sondern er wird in das Innere der
Individuen verlagert. Jetzt zeigt sich, daß der historische Kampf um
systemimmanente »Rechte« auch eine Falle war: Er hat die Massen
reif gemacht für die kapitalistische »Selbstverantwortung«.
Heute können »unternehmerische Funktionen« in immer
größerem Maßstab auf die Beschäftigten selber
übertragen werden. Der ehemalige Klassenkampf findet jetzt in der Brust
der einzelnen Selbstverwertungsmonade statt: jeder sein eigenes Unternehmen,
jede ihre eigene Gewerkschaft. Das selbstregulative System des
»automatischen Subjekts« verlangt selbstregulative Individuen,
die sich selber automatisch eine Verlaufsform durch die Systemwidersprüche suchen; notfalls bis zur Selbstaufgabe.
Für Unternehmensberater heißt das inzwischen, daß die Leute zu
ihren Vorgesetzten kommen und sagen sollen: »Ich glaube, ich
schöpfe nicht genug Mehrwert. Können Sie mir helfen?« Von den
Arbeitslosen andererseits darf bei einem solchen Bewußtseinszustand
erwartet werden, daß sie sich von selber auf die Suche nach
»Mehrwertschöpfung« begeben und zwar um jeden Preis. Damit
sind wir am absoluten Ende des kritischen, reflexiven Denkens angelangt, denn
der menschliche Daseinszweck ist ein für allemal erkannt. Von Esel zu Esel
in der Tretmühle: Haben Sie heute schon genügend Mehrwert geschöpft. Herr Nachbar? |