home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[53][<<][>>]

»Nicht klüger, sondern dümmer.«

, 0.0k

Was ist „Kapital“ und was ist „Klassenkampf“?
Von Robert Kurz. (entnommen aus ND vom 19. Februar 1999)

Das gesellschaftliche Paradigma des Klassenkampfes ist historisch erledigt. Ohnehin war es im wesentlichen immer nur ein Verteilungskampf innerhalb des modernen warenproduzierenden Systems gewesen. Diese systemimmanente Auseinandersetzung schien grundsätzlicher zu sein, als sie wirklich war, solange Sozialstaat und Arbeitsverwaltung noch unterentwickelt blieben und die Lohnarbeiter von den kapitalistischen Eliten nur widerstrebend als selbstverantwortliche Staatsbürger anerkannt wurden.
Klassenkampf, das hieß, daß der Kapitalismus beiderseits noch weitgehend in einem ständigen, halbfeudalen Sinne (miß-)verstanden wurde. Die Eliten faßten ihn als ihren kollektiven Familienbesitz auf und kurz, 8.6k die gesellschaftliche Lohnarbeit gewissermaßen als das dazugehörige Gesinde, das paternalistisch zu behandeln war. Umgekehrt sahen gerade deswegen die Lohnarbeiter den Kapitalismus auch ihrerseits als ein System von »Privilegien der Reichen« an, bedingt etwa durch das bürgerliche Erbrecht, das einer kleinen Minderheit die »Verfügungsgewalt« über den gesellschaftlich produzierten Reichtum garantiere.
Bei einer solchen Betrachtungsweise erschienen die gesellschaftlichen Formen und Funktionskategorien des Kapitals (Wert, Geld, abstrakte »Arbeit«, Betriebswirtschaft, Markt, Staatsapparat) eigentlich gar nicht als »Kapitalismus«, sondern als quasi neutrale Gegenstände, um die sich der Klassenkampf eben drehte. Deshalb hat der Sozialismus auch alle einschlägigen ökonomischen Kategorien ausnahmslos übernommen, um sie vermeintlich anders zu moderieren. Das alles wirkt heute antiquiert und naiv. Jedes Kind weiß, daß wir es mit einem anonymen, mechanischen Systemzusammenhang zu tun haben. Marx, insofern theoretisch schon immer weit jenseits der Arbeiterbewegung, sprach vom »automatischen Subjekt« des ökonomischen Werts. Damit meinte er, daß Kapitalismus nicht etwa eine Privilegienveranstaltung »der Reichen« ist, sondern eine gesellschaftliche Maschine. Diese Maschine besteht in der automatischen Rückkoppelung des Geldes auf sich selber, das sich so aus einem bloßen Medium (das es am Rande der alten Agrargesellschaften gewesen war) in einen irrationalen Selbstzweck verwandelt hat. Dieser blind prozessierende Selbstzweck der »Verwertung des Werts&171; bringt Funktionsgesetze und Verlaufsformen hervor, die jenseits jeder subjektiven »Verfügungsgewalt« liegen.
Die alte Betrachtungsweise war offensichtlich an einen unentwickelten Zustand des Systems gebunden, in dem der »automatische« Aspekt noch nicht so deutlich in Erscheinung trat. Aber je mehr das alte Paradigma verblaßt, desto hilfloser sind die Menschen dem gesellschaftlichen Roboter des Kapitals ausgeliefert. Das liegt natürlich daran, daß kein kritischer Begriff des Ganzen mehr existiert. Solange man sich »das Kapital« noch als eine soziale Gruppe von Aneignungssubjekten vorstellen konnte, die in ihren Ansprüchen zu zügeln oder schlicht zu enteignen waren, schien Kapitalismuskritik eine simple Sache zu sein.
Aber wie soll man einen stummen ökonomischen Mechanismus »enteignen«?
Das ginge nur, wenn an die Stelle der Preise von Waren Institutionen einer gesellschaftlichen Selbstverwaltung der Ressourcen treten, wobei Produktion und Verteilung gemeinsam nach Bedürfnissen und Kriterien sozialökologischer Vernunft organisiert werden, also nicht mehr durch Warentausch auf anonymen Märkten.
Aber davor schreckt das auf- und abgeklärte Bewußtsein von Menschen zurück, die sich selber nur noch als Marktteilnehmer definieren können. Der Warentausch erscheint auch im Massenbewußtsein als Garantie der Freiheit (insofern hat die bürgerliche Ideologie gesiegt), obwohl er nichts weniger ist als die Sphäre des freien Aushandelns zwischen »unabhängigen Produzenten«. Denn der allseitige Warentausch exekutiert ja nur die »Realisation« des kapitalistischen Selbstzwecks, die Rückverwandlung von abstrakter »Arbeit« in Geld. Marktteilnehmer sind wir nicht als freie Produzenten, sondern als demokratische Sklaven der Arbeitsmärkte. Unsere Freiheit des Kaufens und Verkaufens ist identisch mit unserer Unfreiheit hinsichtlich der Bedingungen unserer Existenz. So kommt es, daß das größere, aber unkritische Bewußtsein über den abstrakten Systemcharakter des Kapitals die Menschen nicht etwa klüger, sondern dümmer gemacht hat als bei der früheren naiven Betrachtungsweise.
Das Resultat ist ebenso absurd wie unheimlich: Der kapitalistische Systemwiderspruch verschwindet nicht, sondern er wird in das Innere der Individuen verlagert. Jetzt zeigt sich, daß der historische Kampf um systemimmanente »Rechte« auch eine Falle war: Er hat die Massen reif gemacht für die kapitalistische »Selbstverantwortung«. Heute können »unternehmerische Funktionen« in immer größerem Maßstab auf die Beschäftigten selber übertragen werden. Der ehemalige Klassenkampf findet jetzt in der Brust der einzelnen Selbstverwertungsmonade statt: jeder sein eigenes Unternehmen, jede ihre eigene Gewerkschaft. Das selbstregulative System des »automatischen Subjekts« verlangt selbstregulative Individuen, die sich selber automatisch eine Verlaufsform durch die Systemwidersprüche suchen; notfalls bis zur Selbstaufgabe.
Für Unternehmensberater heißt das inzwischen, daß die Leute zu ihren Vorgesetzten kommen und sagen sollen: »Ich glaube, ich schöpfe nicht genug Mehrwert. Können Sie mir helfen?« Von den Arbeitslosen andererseits darf bei einem solchen Bewußtseinszustand erwartet werden, daß sie sich von selber auf die Suche nach »Mehrwertschöpfung« begeben und zwar um jeden Preis. Damit sind wir am absoluten Ende des kritischen, reflexiven Denkens angelangt, denn der menschliche Daseinszweck ist ein für allemal erkannt. Von Esel zu Esel in der Tretmühle: Haben Sie heute schon genügend Mehrwert geschöpft. Herr Nachbar?

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[53][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007