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Stereo Total

Handsägen für Karriereleitern.

bild 1, 9.3k Bedarf es einer besonderen Intelligenz, jene Naivität vorzutäuschen, die das Stigma ausmacht, das Stereo Total anhaftet? Nun, die Frage nach einem Zynismus-Ersatz drängt sich förmlich auf.
Eine New Wave-Ästhetik spielt da sicherlich eine Rolle. Welche genau, muß so offen bleiben, wie die Ziellosigkeit der gesamten Achtziger-Jahre-New Wave-Szene eben war.
Francois Cactus und Brezel Göring, die Stereo Total verkörpern, sind nicht salopp oder leichten Sinnes, sondern Besitzer eines geschärften Blickes (vergleiche dazu nebenstehenden Text Francois' aus Die Zeit), der ihnen ermöglicht, jenen Abstand zu wahren, den beispielsweise Der Spiegel und seine Leser zu gerne ebenfalls unter die obszöne Mär einer „Spaßoffensive“ subsumieren würden.
Diese Attitüde und das Punk-infizierte Lebenscredo aus einer Zeit, als Punk noch als Lebenslüge einer Abkehr von „der“ Gesellschaft funktionieren konnte, bewirkte trotzdem eine durchaus lebenslange glitzernde Nostalgie, die die Erträglichkeit des Seins nicht als Retro-Kiste mißversteht.
bild 2, 6.7k Mit hoher Wahrscheinlichkeit wissen Stereo Total - im Gegensatz zu neunzig Prozent ihrer Fans -, daß die Karriereleiter nur mit einer Handsäge bewaffnet erklommen werden darf: für den Fall nämlich, daß die Sproßen der Leiter abgesägt gehören, um seine eigene Identität nicht zu gefährden.
Rezeptionsüberschneidungen bei Hörern von Guildo Horn, Die Doofen und Konsorten sind trotzdem kaum zu vermeiden. Wahrscheinlich auch deshalb interessieren sich „deutsche Musikjournalisten deutlich stärker für Stereo Total als etwa für Combustible Edison oder japanische Popstars (...).“
Wer tiefer in die Gedankenwelt von Francois Cactus eintauchen möchte, dem sei ihre „Autobigophonie, Abenteuer einer Provinzblume“ (Martin Schmitz Verlag, Kassel 1996) wärmstens empfohlen. Ralf

aus DIE ZEIT Nr. 50, 6. Dezember 1996:

„Unser Ausland“

Was ausländischen Mitbürgern hierzulande auffällt – Françoise Cactus, 33 Jahre, Musikerin aus Frankreich, lebt seit zehn Jahren in Deutschland.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum fast allen deutschen Männern die Haare ausfallen, sogar bei den jungen sieht man schon diese Geheimratsecken.
Vielleicht liegt es an der schlechten Luft oder an der schlechten Ernährung? Ich weiß es nicht, hätte aber einen Tip: In Italien gibt es so ein Spray, das kann man sich auf die Glatze sprühen, und dann entwickelt sich dort ein neuer Teppich.
bild 3, 6.0k Ich bin wegen eines Mannes nach Deutschland gekommen, zuerst war ich in Husum. Dort habe ich gelernt, wie wichtig es hier ist, sich beim Bäcker immer richtig in die Reihe zu stellen, sonst fliegen einem von der Seite sofort die Aggressionen zu. Leute, die eingeschlossen leben, meinen manchmal, sie müßten auf die ganze Welt aufpassen, und haben einen ganz starken Drang, alle anderen auf ihren Weg zu schicken, dabei kommt man doch nur weiter, wenn man den Rahmen sprengt.
Ich bin später nach Berlin gekommen, und das war eine richtige Befreiung. Als dann die Mauer fiel, haben viele meiner Freunde die Flucht ergriffen, dabei gibt es doch im Moment auch im Osten ganz lustige Orte. Schlimm wird es bestimmt erst, wenn die Regierung antrudelt.
Wenn ich die Männer mit den französischen Jungs vergleiche, dann stelle ich fest, sie gehen sehr viel vorsichtiger mit Frauen um, hören besser zu und sind nicht so sehr Machos wie die französischen Jungs. Und sie sind romantischer, stehen auf diese kleinen Natursachen – Muscheln, Blumen, Blätter – das gefällt mir, obwohl es manchmal auch lästig ist, wenn so ein Typ unbedingt mit seiner Prinzessin im Wald auf Beerensuche gehen will. Das ist wohl ein Überbleibsel von früher, denn die Deutschen stammen ja von den Germanen ab, und die haben sich auch ständig im Wald aufgehalten.
Viele Männer haben Probleme, mit der Wirklichkeit umzugehen – sie haben ein ganz festes Ideal von ihrer Traumfrau. Zugleich schleppen sie die ganzen Enttäuschungen mit ihren Verflossenen wie einen schweren Sack mit sich herum, das macht sie hypervorsichtig. Die Angst vor neuen Enttäuschungen läßt die deutschen Männer nicht gut altern – im Gegensatz zu den deutschen Frauen, die im Alter immer besser werden. Ich glaube, daß den deutschen Männern eine Gefühlserziehung fehlt, die Frauen haben zwar auch keine besonders gute, aber sie lesen zumindest Brigitte, Marie-Claire und Elle, da erfahren sie dann, was los ist, wenn sie den Freund ihrer Freundin lieben oder der Mann eine andere hat. Für Jungs ist das alles unbekanntes Terrain, sie wissen gar nicht, wohin mit ihren Aggressionen, und wenn sie eifersüchtig sind, geben sie es nicht zu und suchen irgendwelchen Quatsch, ein nebensächliches Detail, über das sie sich aufregen. Die Frauen haben dagegen eine eigene Frauensprache, sind selbstbewußter als die Französinnen, und sie tun nicht immer das, was von ihnen erwartet wird. Das hat vor allem mit der Frauenbewegung zu tun, die in Frankreich nie so stark war.
Aber leider gibt es hier keine Komplizenschaft unter Frauen, zum Beispiel vermisse ich es, mich vor dem Ausgehen stundenlang gemeinsam mit Freundinnen zu schminken, und trallaia: Pumpst du mir dies, pump’ ich dir das! Manchmal ist das Verhalten der Frauen untereinander etwas kompliziert, aber das liegt vielleicht auch an mir, weil ich die Tendenz habe, mich in den Mittelpunkt zu drängen, und dann denken die anderen: Ach, da kommt wieder die Nervensäge!
In Frankreich gehörten immer auch viele Arbeiter, Teenies und Araber zu meinen Freunden hier ist alles sehr nach Berufen und Völkern und Alter getrennt, das ist schon komisch, unter meinen Freunden ist kein einziger Arbeiter. Aber – Entschuldigung! – ich finde das deutsche Proletariat auch unerträglich: Die Arbeiter sind konservativ, lärmempfindlich, streiken fast nie, sind immer schlecht gelaunt und haben überhaupt kein Klassenbewußtsein. Statt irgend etwas in Frage zu stellen, geht es ihnen immer nur darum, ihren Standard zu verbessern, sie wollen eine größere Wohnung und immer mehr Platz. So etwas habe ich überhaupt noch nie erlebt, wie die Leute hier um Raum kämpfen und zu Furien werden, wenn man etwas von ihrem Platz wegnimmt!
Sie wohnen ganz eng übereinander in ihren Hochhäusern, tun aber immer so, als würden sie am liebsten ganz allein dort wohnen, genauso auf der Straße. Jedes andere Auto ist ihnen zuviel, und sie werden ganz nervös, wenn die U-Bahn mal voll ist. Vielleicht sind die Deutschen ja wirklich alle klaustrophobisch. Aufgezeichnet von Dorothee Wenner


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last modified: 28.3.2007