• Editorial
• Rocko Schamoni - Des Pudels Kern (Lesung)
• »Sex kaufen?« – Prostitution im Fokus: Von polarisierenden Modellen zu neuen Wegen ein Vortrag von Lensi
• OAT (Offenes Antifaschistisches Treffen): ANTIFA – Film & Gespräch über Antifaschismus in Ostdeutschland
• Conne Island Wintertischtennisturnier
• Macron-i with Cheese
• 25 Jahre Mitarbeiter/in der Herzen
• review-corner buch: Berlin, Chicago Jerusalem - mit Zwischenstop in Spiekeroog
• position: Erinnern heißt handeln!
• position: Nie wieder Stura! - Nie wieder Judenhass! Gegen die Kollaboration mit islamistischen Terrororganisationen!
• das letzte: The past must be rewritten: 300 Jahre CEE IEH
Eine Anmerkung vorneweg:
Die bisher hier besprochenen Bücher waren allesamt Waren, die innerhalb der letzten zwei Jahre als Hardcover auf den Markt gekommen sind und dementsprechend zwischen 23 und 28 Euro kosten. Das ist nicht billig, zumal in Zeiten von Inflation, und spricht wohl eher die wenigen Leute an, die nicht in materiell prekären Verhältnissen leben. Zwar erscheinen diese Bücher meistens, obgleich nicht immer, irgendwann auch als Taschenbuchausgaben. Dennoch soll der materielle Aspekt hier nicht damit weggebügelt werden. Und deshalb ist es gut, dass der im Folgenden besprochene Roman soeben als Taschenbuch erschienen ist.
Nun zum eigentlichen Text: Ist es eigentlich immer so, dass man sich mit jugendlichen Romanfiguren identifizieren kann, zumindest bis zu einem gewissen Alter? Oder gilt das generell für Romanfiguren? Werden sie gar bewusst so entworfen, um den Roman publikumsfreundlicher und damit erfolgreicher zu machen? Wie dem auch sei, die Protagonistin von Dana Vowinckels »Gewässer im Ziplock« ist auf jeden Fall so eine Kandidatin. Man kann nicht anders, als mitfühlen mit Margarita, wie sie – weil die Tradition es so will – eingesperrt ist bei ihren Großeltern in Chicago, die sie verabscheut, und dann auch noch verdonnert wird, ihre Mutter in Israel zu besuchen, die noch in ihren frühen Kindheitstagen schon abgehauen ist.
Abwechselnd wird in dem Roman von ihr und ihrem Vater Avi erzählt, der als Kantor in einer jüdischen Gemeinde in Berlin arbeitet und versucht, ein liebevoller, wenn auch strenger Vater für seine nicht ganz einfache Tochter zu sein. Dass hier die Rollen mal vertauscht sind – der stets bemüht sich kümmernde Vater und die abwesende Mutter – ist so erfrischend wie handlungsleitend für diese Geschichte, in der es fast zwangsläufig öfters kracht. Unnötig auch zu erwähnen, dass die Geschichte der Verfolgung, Flucht und Deportation, wie in wohl jeder jüdischen Familie, hier eine zentrale Rolle spielt. Ohnehin muss zu dem Roman eigentlich nicht mehr so viel gesagt werden, denn es gab und gibt bereits viel Lob, das auch dessen Rückseite ziert: »Ein großes Buch. Ein Familienroman über unsere Zeit« (Spiegel), »ein erschütterndes, hinreißendes Debüt« (SZ), »widerspenstig und bezaubernd« (Deutschlandfunk), »von tiefer Weisheit« usw. usf.
Ist das nicht ein wenig dick aufgetragen für den Debütroman einer Autorin Jahrgang 1996?
Die schöne Wahrheit ist: nein, ist es nicht. Und auch wenn Familienroman total nach Generationenkonflikt klingt und Weisheit nach Paulo Coelho und dem Café am Rande der Welt, alles eher abschreckende Schlagworte, ist doch der Autorin das Kunststück gelungen, einen zeitgenössischen Familienroman von tiefer Weisheit zu schreiben, der an keiner Stelle langweilig, abgedroschen oder peinlich wirkt.
Schon lange frage ich mich, was Literatur überhaupt noch leisten kann: ob sie Erfahrung vermitteln, man mit ihr bestenfalls selbst eine Erfahrung machen kann. Vowinckels Roman gelingt es jedenfalls auf erstaunlich ansprechende Weise, Erfahrungen des Jüdischseins in Deutschland literarisch zu verarbeiten. Dazu gehört beispielsweise auch die Frage, wie das – jüdisch sein – im Land der Täter der Schoa überhaupt möglich ist. Ob das authentisch ist, kann ich nicht beurteilen, aber es ist auf jeden Fall überzeugend, bisweilen auch überraschend witzig.
Dass es – wie in (post)migrantischen Gruppen häufig der Fall ist – einen Generationenkonflikt auch unter deutschen Juden gibt, ist ein weiterer von vielen Aspekten, der die Story des Romans ausmacht. Bei Margarita ist er noch dazu mit einer Familie verbunden, die sie selbst für total kaputt hält. Da die Mutter Marsha früh verschwunden war, schwelt ein eruptiver Konflikt, Rabenmutter lautet der implizite Vorwurf. Auf einer eher erzwungenen Reise durch Israel kommt es, neben Krach und Eskapaden, zu überraschenden Offenbarungen. Schien es erst, als könnten sich Mutter und Tochter annähern, wird plötzlich die eigene Herkunft und damit die gesamte eigene Identität in Frage gestellt… Einen tollen Roman hat Dana Vowinckel da geschrieben, über die Normalität jüdischen Lebens in Deutschland – oder seine Unmöglichkeit – und eine absolute Empfehlung für den und die typischen CEE IEH-Leser*innen!
Dana Vonwinckel: Gewässer im Ziplock. Roman. Taschenbuch, Suhrkamp 2024. 360 S., 13,00 €.
marlon