Am Ende dieses Jahrhunderts stehen wir in den
Trümmern einer Geschichte, die von der Idee und der Praxis der sozialen
Befreiung mitgeprägt war mehr noch: von einer rasenden Regression,
die sich auf den gefallenen Utopien von einer freien Gesellschaft
austobt. (Ebermann/Trampert, 1995)
Utopien waren in der Gedanken- und Diskurswelt der Linken
immer präsent. Die Vorstellungen von einer befreiten Gesellschaft, der
freien Assoziation freier Individuen, der Welt ohne Unterdrückung und
Ausbeutung aber auch Strategien zu ihrer Verwirklichung waren für viele
Linke Ziel- und nicht selten Ausgangspunkt ihrer politischen Identifikation.
Dabei war der Umgang mit dem Wunschbild einer zukünftigen Gesellschaft
schon immer problematisch, verführte es doch, in illusionären
Sphären zu schweben und entweder die reale Situation im Sinne einer
möglichen Einlösbarkeit der Utopie zu beschönigen oder aber, die
Fiktion von Zukunft auf Kosten von wirklichem Engagement als Fluchtpunkt zu
benutzen. Beide Umgangsweisen wurden auch in der Linken der BRD praktiziert,
wobei natürlich die konkrete politische Situation den einen oder anderen
Trugschluß nahe legte - zumindestens im Rückblick
verständlicher macht. Grob vereinfacht, bestand das illusionäre
Moment darin, daß große Teile der radikalen Linken sich ihren aus
der Utopie gespeisten revolutionären Optimismus, implizit Massenansatz,
nicht nehmen ließen und auch heute noch im Revolutionsromantizismus
schwelgen. Das Verhältnis der Utopie zu materialistischen oder
andersartigen Gesellschaftsanalysen war oft ein Affirmatives. Der große
Teil der neuen sozialen Bewegungen dürfte aber wohl eher stärker von
Utopien beeinflußt worden sein, denn diese müssen als die
unkompliziertere Anschlußmöglichkeit an linke Politik gelten. Lassen
sie sich doch auch einfacher mit individuell-identifikatorischen
Befindlichkeiten (z.B. die private Revolte im Kinderzimmer)
verbinden und schließen auch eine übergewichtige emotionale Bindung
an linken Protest und Widerstand nicht aus. Ganz im Gegenteil. Der meines
Erachtens weit schlimmere Umgang bestand jedoch darin, das kritische Potential,
welches durchaus aus dem Widerspruch von Utopie und Realität seine Nahrung
erhalten kann, im Alternativmilieu zu neutralisieren. Diese für die
Gesellschaft sogar weitgehend innovativ verlaufende Integration ließ sich
dann sowohl über das Argument begründen, daß die Utopie einer
komplexen Systemalternative sich als nicht einlösbar erwies, als auch mit
einem angeblich neuem Weg zur Verwirklichung einer solchen. Doch
spätestens mit der sich seit 1983 vollziehenden konservativen Wende in der
BRD, hat sich der reformistische Weg, die Politik der kleinen Schritte erneut
als Sackgasse erwiesen.
Mit dem Ende des Realsozialismus und dem Niedergang der westdeutschen Linken,
zeigt sich heute auch eine neue Art des Umgangs des Systems mit linken Utopien.
Der postmoderne Überbau (J. Hirsch) des hiesigen
Metropolenkapitalismus scheint nicht mehr darauf angewiesen zu sein, mittels
Repression und Reformbereitschaft den dissidenten Gehalt von Utopien zu
entschärfen. Sie werden schlicht und einfach in solch einem Maße
popularisiert und kommerzialisiert, daß sie nunmehr eine Ware darstellen,
die politisch fast völlig richtungslos und von ihren realen
Entstehungszusammenhängen gelöst ist. Besonders offensichtlich wurde
diese Strategie mit der stark personifizierten Entwirklichung linker Utopien
der 50er/60er und 70er Jahre durch eine Reportagen-Reihe des Spiegel im
vergangenem Jahr. Nacheinander wurde anhand von Ulrike Meinhof, Rudi Dutschke,
Ché Guevara und Tamara Bunke linke Geschichte entsorgt. In der
Titel-Story über Ché (Nr. 38, 16.9.96) stand unter anderem:
Seine Wahrheit ist die schöne alte Utopie von der humanen Welt ohne
Ausbeuter und Unterdrückte, die unausrottbar wie Malariaschübe immer
wieder über die Menschen kommt. Die Suggestion ist komplex aber
perfekt: Die Idee der humanen Welt... wird zu etwas antiquiertem,
nicht mehr zeitgemäßen. Nun gut, diese Feststellung könnte man
meinen, entbehrt ja nicht eines gewissen deskriptiven Wertes. Aber dies
festzustellen, ist nicht Absicht des Autors, geht es doch hier um eine subtile
politische Abrechnung, die vorallem darüber funktioniert, die
Entwirklichung der Utopie so lange zu forcieren, bis der Rest des politischen
Gehalts durch mehr oder weniger gekonnte Polemik allemal diskreditiert werden
kann. So weidet man sich an der Beobachtung, daß der Mythos
Ché Guevara von der Nobel-Uhrenfirma Swatch (das
Konterfei des Ché auf dem Ziffernblatt eines Firmenmodells) über
die Biersorte (Ché), von den Villen bis zu den Autonomen
kompatibel ist - wobei letztere mit ihrem Vereinahmungsgehabe gegenüber
den Befreiungsbewegungen nicht ganz unschuldig sind. Das Symbol wird
willfährig mit ausgehöhlt, die Tendenz zur beliebigen
Ausfüllbarkeit von jeder und jedem gerne bedient und was von der Negation
der politischen Verhältnisse damals und eventuellen Parallelen heute
übrigbleibt, bekommt einen chronisch auftretenden pathologischen
Charakter, demgegenüber sich die Welt aber im großen und ganzen als
immun erwiesen hat.
Für den Spex-Autor Jörg-Uwe Albig Grund genug mit solcher Art
bewältigter Utopie endgültig zu brechen, da sie mittlerweile nur noch
den Gedanken nach der Befreiung von seinem Anlaß (Spex, 1/97)
repräsentiere. Anders die Konsequenzen, die der mexikanische
Schriftsteller und Ché-Biograph Pablo Ignazio Taibo II aus dieser
Entwicklung zieht. Bei der grandiosen Vorstellung seines Buches über
Ché und die afrikanische Guerilla (der Autor überzeugte schon durch
den Stil des unaufhörlich Gitanes rauchenden und Coke bevorzugenden linken
Bohemiens) wurde er auch darauf angesprochen, wie er sich zu der
Entpolitisierung des Mythos des lateinamerikanischen Revolutionärs
positioniere. Für ihn besteht die Antwort darin, den politischen Menschen,
die Verbindung von persönlichen Eigenschaften und den gesellschaftlichen
Ursachen sowie die Intentionen seines Denkens und Handelns, wieder in den
Vordergrund zu rücken. Der Mythos und die Utopie soll auf solche Weise mit
neuem Leben (P.-I.Taibo) erfüllt werden. Damit könnte
auch eine neue Bezugnahme der Linken auf eine ihrer
Integrationsfiguren wieder möglich sein. Ja dies sei aufgrund der immer
stärker spürbaren Konsequenzen einer weltweiten neoliberalen
Entwicklung geboten. Der Mythos und sein ihm innewohnender Bestandteil von
Utopie könne sich über ein den heutigen Verhältnissen
angepaßtes kritisches Bewußtsein und die daraus folgende Suche nach
praktischen Interventionsmöglichkeiten erneut materialisieren. An der
Utopie soll hier also generell festgehalten werden, aber einzelne Bestandteile,
wie zum Beispiel das Konzept der kontinentalen Revolution, können der Zeit
und den Kräfteverhältnissen entsprechenden Perspektiven weichen. Nun
gut, mit zwei Guerilla-Organisationen im Rücken und dem
Eingeständnis als Schriftsteller und nicht als Theoretiker zu
argumentieren, ist dieses Festhalten an einer linken Determination des
Begriffes verständlich. Und wäre die besagte Veranstaltung der
Maßstab, sich für oder gegen die Utopie, als eine Motivation
für linkes Engagement zu entscheiden, dann hätte das Pro wenigstens
bei denen gesiegt, die in ihren Genuß kamen. Wer würde denn nicht
bei den kryptischen Andeutungen des mexikanischen Schriftstellers, daß
wir bald von einer dritten bewaffneten Bewegung im NAFTA-Staat hören
würden, in seinen ganz persönlichen, nennen wir es
Revoltenromantizismus schwelgen. Die Behauptung, es gäbe
Linke, die völlig frei von dieser zugegebenermaßen sehr
emotionalisierten und klischeehaften Vorstellung wären, muß erst mal
bewiesen werden. Und auch die von Taibo vertretene individuelle Strategie, sich
als Linker in schweren Zeiten mit der Utopie eine moralische
Dickköpfigkeit (P.-I. Taibo) zu bewahren, um gegenüber den
Korruptionsverlockungen des Systems resistent zu bleiben, ist eben gerade wegen
der Einschränkung auf einen weiteren quasi-definitorischen Bereich linken
Selbstverständnisses der besseren Moral habhaft zu sein
konsensfähig. Aber genau hier ist wiederum der Anschluß einer
unreflektierten und inhaltsleeren Adaption von Utopie möglich. Moral und
Utopie sind eben politisch vage, unbestimmt und können genauso von
Renegaten wie von Propagandisten des regressiven Zeitgeistes beansprucht
werden. Als zum Beispiel im Juni 95 der Bundestag den ersten Kriegseinsatz
deutscher Soldaten nach dem 2. Weltkrieg absegnete und große Teile der
Grünen von utopischen Pazifisten zu reellen Kriegstreibern wurden, war der
Diskurs im Vorfeld von zutiefst moralischen Argumentationen geprägt, die
nicht selten auf die Vorstellung einer humanen Weltordnung zielten.
Muß die Linke also jenseits von Utopie und Geschichte (T.
Fatheuer) nach einer neuen Interventionsfähigkeit Ausschau halten, ja
sollte sie generell auf die Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft und
damit legitimierte Handlungen verzichten? Wäre dies nicht letztendlich das
Ende linker Politik oder bliebe der Ausweg einer puren Theorie und Praxis der
Negation. Die gegenwärtige politische Situation, besonders auch die der
Linken kann darüber keinen befriedigenden Aufschluß geben. Zwar
existiert die Linke noch als Rest, sie ist jedoch vielmehr Heimat
als ein Konzept. Oder besser gesagt, sie ist ein Patchwork von Kleinkonzepten,
sich widersprechenden Analysen und symbolischen Vereinfachungen. Und gerade die
Auseinandersetzung mit den in letzter Zeit publizierten Analysen zur
Entwicklung des globalen und nationalen Kapitalismus und den darausfolgenden
Kriterien für linke Politikansätze man vergleiche nur die
Auseinandersetzung zwischen Ebermann/Trampert und Kurz/Roth in der Zeitschrift
konkret legt ja förmlich den Schluß nahe, als
theoretisch nicht so beschlagene/r oder interessierte/r Linke/r in den
Einfachheiten des praktischen Antifaschismus oder in den
Plattheiten der Autonomen und Arbeiterklasse-Linken zu verharren. Die
Mobilisierungserfolge der Autonomen zur Tag X-Kampagne, zum
1. Mai in Berlin und zur Antifa-Demo in Wurzen sprechen ja leider eher für
diese These und nicht dafür, daß die Linke anders als praktisch
ohnmächtig die politische und soziale Entwicklung in diesem Land
(wahrscheinlich, wie überall in den Metropolen) verfolgt. Und mit dem
Verweis auf dieses Spektrum der radikalen Linken, läßt sich wieder
der Bogen zu dem, für die Linke funktionalistischen Charakter von Utopien
schlagen. Ermöglicht nicht gerade die niederschwellige Politisierung bei
der Masse der autonomen Antifa, welche wiederum von einer radikalen
Sprachmetaphorik und Symbolik konterkarriert ist, einen relativ unkomplizierten
Einstieg (und Ausstieg) in linke Politik? Hat nicht auch die Möglichkeit
der Identifikation über die Utopie der Autonomen: des richtigen
Lebens im Falschen, eine Alternative für politische Mobilisierung
jenseits von blinder Massenanbiederung natürlich im Gegensatz zu
theoretischen Positionen der meisten autonomen Gruppen aufgezeigt? Die
Lage ist durchaus verzwickt und meiner Meinung nach, ist es noch nicht an der
Zeit, jeglichen positiven Bezug auf die jüngste Geschichte der Linken in
der BRD und ihre Utopien auszuschließen. Fakt ist, positioniert man sich
undifferenziert gegen linke Utopie, läuft dies darauf hinaus, die
Marginalisierung der Linken weiter zu befördern, denn man kappt damit eins
ihrer stärksten identifikatorischen Momente. Der Umkehrschluß, auf
Teufel komm raus und allen Bewußtseinslagen eventueller Subjekte linker
Politik zum Trotz, die gegenwärtige Position der Linken nicht wahrnehmen
zu wollen, wäre jedoch auch nicht des Rätsels linke
Perspektiven Lösung. Vielleicht liegt der gegenwärtige Ausweg,
wie so oft dazwischen. Die Linke kann sich und ihre Utopien nicht einfach
auflösen. Dazu ist sie zu wenig Partei und zuviel Kampagne, ist in ihr
zuviel Differenz und wenigstens zur Zeit zum Glück wieder theoretische
Bewegung. Sie kann sich gerade wegen des prophezeiten Endes der
Geschichte nicht aus ihr herausschleichen und von ihren Vorstellungen
einer besseren Welt abschwören. Aber sie kann und muß sie
hinausschieben auf einen wirklich utopisch fernen Zeitpunkt. Sie muß ihre
Utopien konservieren und verändern, jedoch sichtbar bleiben lassen, so wie
sie es schon oft genug getan hat. Dies heißt nichts anderes, als auch die
Perspektiven, den Blickwinkel linker Politik relativieren zu müssen. Was
kann es schaden demnächst nur von den Rändern, aus einer
bewußten Minderheitenposition zu denken, die nicht alle
Anschlußmöglichkeiten negieren muß? In Anbetracht dieser
Position, könnte dann auch mit viel mehr Gelassenheit gegenüber
linken Reflexen (G. Fülberth), also eigentlich überholten
oder fragwürdigen Handlungen, die entweder der Entwicklung der Linken
und/oder der unübersichtlichen Lage geschuldet sind, kritisiert und nach
Alternativen gesucht werden. Zur Zeit gibt es jedenfalls keine
strategische Antwort (Fülberth) auf die Frage Was
tun?. Und daß diese Frage nicht mit genügender Signifikanz
beantwortet werden kann, hat tatsächlich etwas damit zu tun,
daß dieser Kapitalismus sich zur Kenntlichkeit verändert, aber in
vielen Punkten die Kenntlichkeit noch nicht angenommen hat, die er 1902 in
einer vorrevolutionären Situation in Rußland für Lenin
hatte. (Fülberth in Was tun?, konkret texte 4) Und ob er
überhaupt in dieser Schärfe auftreten wird, oder ob er in einer
modifizierten Form als wirklicher Neoliberalismus auftritt, dürfte auch
noch nicht eindeutig vorauszusehen sein. Jedenfalls gibt es einige interessante
Versuche die Frage nach dem, was ist, zu beantworten (Trampert/Ebermann,
Hirsch, u.a.). Wahrscheinlich braucht es aber noch einige Enttäuschungen
und vielleicht sogar noch eine Verschärfung der sozialen und politischen
Regression, ehe sich erstere Frage als grundlegend für die Beantwortung
der letzteren durchsetzen wird.
Letztendlich ergibt sich der Sinn oder Unsinn, auf linke Utopien Bezug zu
nehmen, aus der Frage nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen und der
Einsicht, daß sich diese hier kaum jemand stellt. Die reellen
Handlungsoptionen werden in absehbarer Zukunft nicht über ein
Nicht-Mitmachen, der Schulung eines kritischen Bewußtseins
und der Reflexion der linken Reflexe hinausgehen. Erlangte dabei der Begriff
der Utopie von einer relativ konkreten Vorstellung einer besseren Gesellschaft
und deren Verwirklichung eine Bedeutungsverschiebung hin zu Subversion und
Widerstand, als eine prärevolutionäre Aufgabe, als Pflicht zur
Negation, zum Prinzip Aufruhr, zur umstürzlerischen Idee, die materielle
Gewalt werden kann (M. Krauß in konkret buch &
deckel, 12/96 ), erhielte sich die Linke ein wichtiges
Anschlußmoment, welches den Umständen entsprechend, ja auch wieder
anders definiert werden kann. ulle
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