• Titelbild
• Editorial
• das erste: Fortsetzung: Eine Erfolgsgeschichte. Zwei Aktenordner, oder: das Jahr 1990 durch die Augen der Connewitzer Hausbesetzerszene
• Hot Water Music
• BoySetsFire
• Soulground
• Gibt es ein richtiges Konsumieren im Falschen?
• Brettspielenachmittag im Conne Island
• Ignite + The Drowns + School Drugs
• doku: Das Tragische an der Emanzipation der Frau
• Stellenanzeige: Redakteur*in gesucht! (m/w/d)
II.
Auch andernorts ist diese Transformation vom Großen ins Kleine beobachtet worden. Der bundesdeutsche Schriftsteller Martin Gross beispielsweise, der das Jahr 1990 in Dresden verbrachte (woraus sein Buch »Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land« hervorging), hielt in seinem Eintrag vom 12. April 1990 fest: »Die Demokratiebewegung scheint in der Depression zu stecken. Keine großen Projekte mehr, jedenfalls keine politischen. Stattdessen die kommerziellen Projekte: Szene-Kneipen zum Beispiel. Die gibt es plötzlich an verschiedenen Ecken.« Weiter heißt es bei Gross: Ein solches Café »befindet sich übrigens in einem besetzten Haus. Es steht seit drei Jahren leer und ist ziemlich verfallen. Da die städtischen Kompetenzen ungeklärt sind, lässt man die Besetzer erst einmal gewähren.«
Unschwer lässt sich Gross‘ Beobachtung auf Leipzig (und andere ostdeutsche Städte) übertragen, mit dem Unterschied, dass in Connewitz ein ganzer Häuserzug besetzt wurde. Bis Mitte April hatte die Initiativgruppe des Neuen Forum von mehr als einem Dutzend Häusern Besitz ergriffen, die sich alle um den südlichen Teil der Stöckart-Straße, eine Connewitzer Nebenstraße mit zwei- bis dreistöckiger Gründerzeitbebauung, konzentrierten; mehr als 100 Personen sollen dem Verein zu diesem Zeitpunkt bereits angehört haben. Neben ersten Instandsetzungsmaßnahmen trug man sich bald mit Plänen, welcher Art Projekte man ansiedeln würde. Dazu gehörten ein Bürger-Büro, in dem sich Anwohner des Stadtteils über den Stand der Sanierungen würden informieren können, eine Küche, die bevorzugt Ältere und Einkommensschwache versorgen sollte, eine Galerie und eine Freie Schule, aber auch Werkstätten für Holz- und Korbmöbel oder Fahrräder. Auch die obligatorische Szene-Kneipe, von der Gross gesprochen hatte, fehlte nicht: In besagten Ordnern stellt eine der frühesten Schriftstücke ein Konzeptpapier dar, mit dem zwei junge Frauen sich darum bewarben, im Rahmen der Connewitzer Alternative ein »Kneipen-Café« errichten zu können. Der Zielgruppe (und wohl auch dem Selbstverständnis) angepasst hieß es darin, dass dessen Preise »unter dem Durchschnitt« liegen, d.h. gemäß der Satzung »nicht profitorientiert« sein sollten; dem Zeitgeist dürfte freilich genauso entsprochen haben, dass man den Gästen ein Angebot zu präsentieren gedachte, das ihnen im Realsozialismus jahrzehntelang vorenthalten worden war: »Espresso [und] Cappuchino« nämlich, »Tequilla + Whisky« sowie »Pizza [und] Lasagne«.
Offensichtlich vollzog sich die Besetzung der Stöckartstraße also geräuschlos und ohne größere Hindernisse. Bereits für den 4. und 5. Mai lud man erstmals zu einer »30-Stunden-Fete« ein, die so und in anderer Form in den nächsten Jahren vor allem aufgrund von Life-Musik den Leipziger Süden zu einem Publikumsmagneten machte. Am erstaunlichsten ist indes das Wohlwollen, mit dem Stadtverwaltung und Behörden dem Projekt begegneten. Während seit 1993 ‒ und bis heute ‒ die sogenannte »Leipziger Linie« gilt, die bei neuen Hausbesetzungen kategorisch die Räumung innerhalb von 24 Stunden vorsieht, kündigte die Initiativgruppe dereinst ihre Aktion nicht nur öffentlichkeitswirksam an, indem sie per Annonce in der Leipziger Volkszeitung bzw. in der Anderen Zeitung (DAZ) nach Mitstreitern suchte – genau genommen streckte auch die Stadtverwaltung ihre Hand weit aus. Inwieweit die Besetzungen womöglich im Vorfeld abgesprochen war, ist unklar, dennoch befand man sich Anfang April bereits im Kontakt mit allen für Wohnungsfragen Zuständigen – mit dem Runden Tisch Kultur, vor allem aber mit der Kommission Bauwesen beim Rat der Stadt, in der alle relevanten Ämter repräsentiert waren: der Vertreter des Hauptauftraggebers komplexer Wohnungsbau des Bezirks Leipzig (HAG), der für die Planung und Durchführung von Wohnungsbauprojekten zuständig war; der Stellvertretende Baudirektor der Stadt Leipzig ebenso wie der Chefarchitekt der Stadt; vor allem aber der Abgeordnete der Gebäudewirtschaft Leipzig, der kommunalen Wohnungsverwaltung GWL, der zu dieser Zeit etwa 65 Prozent der Wohnungen der Stadt – und damit auch der Großteil der Häuser in Connewitz – unterstanden. Unisono lautete das Credo der Beteiligten über die Connewitzer Alternative, wie sich dem vereinsinternen Protokoll entnehmen lässt: »Zustimmung«, »werde mit ihnen zusammenarbeiten«, »man werde sich einsetzen« oder »schätze es hoch, dass sie sich sozio-kulturell betätigten«. Diese Sympathiebekundungen waren keine leeren Worte. Bereits wenige Tage später, am 11. April, erfolgte eine bautechnische Begehung der von der Alternative in Besitz genommenen 15 Häuser, bei denen festgelegt wurde, welche von ihnen bewohnt werden konnten; zugleich stellte die kommunale Wohnungsverwaltung GWL Nutzungsverträge mit einer Laufzeit von fünf Jahren in Aussicht, die im Laufe des Sommers (und nach einigen Querelen) auch abgeschlossen wurden; ferner stellte sie mehrere Zehntausend Mark für Sofortreparaturen zur Verfügung.
Dieses Wohlwollen war nicht nur selbstlos, auch wenn es sicher Sympathien gab, so seitens des bereits erwähnten obersten Denkmalsschützers der Stadt oder der eben bestellten Stadträtin für Kultur, Brunhild Matthias, die nicht nur selbst Mitglied des Neuen Forum war, sondern auch der Ansicht, dass es »ohne Alternativ- auch keine Hochkultur« geben könne. Genau genommen kam den Besetzern noch etwas Anderes zupass. Zum einen natürlich der zu Beginn des Jahres durch die »Volksbaukonferenz« erwirkte vorläufige Abrissstopp für Alt-Connewitz, der Anfang April durch einen neuen Bauleitungsplan für das Sanierungsgebiet bestätigt (und dann im November auch offiziell verabschiedet) wurde. Der von Seiten des Bezirks Leipzig an eine Initiativgruppe Architekten vergebene Leitfaden kam am 10. April zu dem Schluss, dass das »gesichtslose Neubauprojekt« – jene für Connewitz geplanten Plattenbauten – gestoppt und stattdessen auf die »behutsame und sukzessive Erneuerung« des Stadtviertels gesetzt werden solle. Alt-Connewitz hatte dadurch offiziell wieder eine Zukunft, und es kann vermutet werden, dass es den Verantwortlichen der GWL gerade recht kam, den weiteren Verfall und die Plünderungen leerstehender Altbauten zu unterbinden, wären ihre Häuser wieder bewohnt und sei es nur provisorisch.
Sekundiert wurde diese lokale Entwicklung zum anderen von einer zeitgleich ergangenen Vorgabe aus Berlin. Anfang April hatte der amtierende Minister für Bauwesen der Modrow-Regierung, Gerhard Baumgärtel, Arbeitshinweise hinsichtlich der »Nutzung leerstehender Häuser und Wohnungen durch Bürger und Gemeinschaften« erlassen. Diese sprachen die Empfehlung aus, über nicht länger der sogenannten Wohnraumlenkung unterliegenden Wohnungen befristete oder unbefristete Nutzungsverträge abschließen zu lassen, wenn die bautechnische Sicherheit gewährleistet war, das Objekt sich in Volkseigentum befand bzw. die Zustimmung des Eigentümers vorlag, wenn die Rechtsfähigkeit der Vertragspartner gegeben war und anderes mehr. Dabei dürfte der Minister, ein CDU-Mann, der auf einen Schlag und äußerst niedrigschwellig die Besetzungen legalisiert hatte, besonderer Sympathien für die Hausbesetzerbewegung unverdächtig gewesen sein. Vielmehr ging hier ein Pragmatismus, der angesichts grassierender Wohnungsnot bei hohem Leerstand republikweit dringend geboten war, Hand in Hand mit einer Wertschätzung basisdemokratisch-bürgerschaftlichen Engagements, wie sie typisch war für die Wendezeit.
Über das Frühjahr 1990 hinaus hielt dieses Wohlwollen der Behörden gegenüber der Connewitzer Alternative an. Nicht nur die bereits erwähnte Stadträtin für Kultur setzte sich gegenüber anderen Ämtern für deren Belange ein; auch der im Juli 1990 vom neu gewählten Oberbürgermeister Lehmann-Grube (seinerseits im Übrigen ein Westimport, wenngleich von der SPD) nach Leipzig geholte ehemalige Stadtbaudirektor Mannheims, Niels Gormsen, der fortan als Baudezernent wirkte, verwandte sich wiederholt und dezidiert für den Verein, indem er versprach, bei Problemen ansprechbar zu sein und zu vermitteln. Im Juli schließlich wurde die Connewitzer Alternative eingeladen an den Sitzungen eines Arbeitskreises teilzunehmen, der fortan die Überarbeitung der Planungen für das Sanierungsgebiet verantwortete. Die Connewitzer Alternative hatte sich – das war nicht zu übersehen – etabliert; zunächst jedoch machten im Sommer 1990 ihre Mitglieder das, was wohl alle DDR-Bürger diesen Sommer taten: wie sich Vertreter des Vereins wenig später in einem Interview erinnerten, nutzten »alle« die neugewonnene Reisefreiheit und verbrachten ihren Urlaub »woanders«, nämlich: »vorwiegend im Süden«.
III.
Aus den Quellen geht nicht hervor, ob die Angehörigen der »Connewitzer Alternative« während ihres Sommerurlaubs »im Süden« die Ereignisse um die Wiedervereinigung ähnlich atemlos verfolgten wie der zur Erholung in der Provence weilende Schriftsteller Martin Gross, der ‒ wie er notierte ‒ angesichts der sich »überstürzenden Nachrichten« eigens noch vor dem Frühstück in die nächstgelegene französische Kleinstadt fuhr, um »eine deutsche Zeitung zu ergattern«. In der Tat war die lange nur schwer zu fassende Einheit bzw. ihr Vollzug nun endgültig terminiert worden. Nachdem sich beide Staaten Anfang Juli auf die Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen am 2. Dezember geeinigt hatten, schälte sich im August als Termin für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ein Tag in der ersten Oktoberwoche heraus: nach der Tagung der KSZE-Außenminister am 2. Oktober, die dem Vorgang noch zuzustimmen hatten, aber vor dem 7. Oktober, der als Stichtag galt für acht Wochen vor dem Urnengang vorzulegende Wahlunterlagen. In einer nächtlichen Sondersitzung der Volkskammer einigte sich die Mehrheit der Delegierten auf den 3. Oktober als das Ende der DDR.
Auch darüber, wie man innerhalb der Connewitzer Alternative auf die Wiedervereinigung blickte, ist den Akten nichts zu entnehmen. Hatte man sich mit dem endgültigen Ende der DDR mittlerweile arrangiert? Wahrscheinlich. Änderungen waren zweifellos zu erwarten. Zum einen war die Anpassung der kommunalen Verwaltungsstruktur an bundesrepublikanische Vorschriften und Gepflogenheiten vorhersehbar, und betraf den Verein direkt, indem etwa im Sommer der HAG in das Amt für Wohnungsbau und Stadterneuerung umgewandelt wurde, oder (im Dezember) die GWL in der kommunalen Leipziger Wohnungsbaugesellschaft LWB aufging ‒ die Mitarbeiter auf mittlerer Ebene freilich meist dieselben blieben. Zum anderen warf die Übernahme der bundesrepublikanischen Rechtsordnung ‒ auch und gerade in Eigentumsangelegenheiten ‒ Fragen auf, wie nicht zuletzt politische Graffiti im Leipziger Straßenbild schon seit Längerem zum Ausdruck brachten. Die Connewitzer Alternative war hier paradoxerweise halbwegs geschützt. Zunächst bestanden ja die Nutzungsverträge vom Frühjahr (auch wenn sich noch erweisen musste, von welchem Wert sie waren); zudem hatten der Einigungsvertrag bzw. das noch im August von der Volkskammer verabschiedete »Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen« den Kreis rückzuerstattender Immobilien auf solche eingegrenzt, die in der DDR ohne oder nur gegen geringe Entschädigung enteignet worden waren ‒ davon waren die sich im Besitz der GWL befindlichen Häuser, die einst zum Abriss freigegeben worden waren, mehrheitlich ausgenommen. Überhaupt kann man den Eindruck gewinnen, dass die Umstellung zumindest im Herbst 1990 eher geräuschlos von Statten ging – der Vorstand befasste sich mit Fragen eines fehlenden Telefonanschlusses, mit der Beantragung von ABM-Stellen oder der Abrechnung von Eigenleistungen. Dabei wechselten bisweilen nur die Briefköpfe der korrespondierenden Partner: aus der Staatlichen Versicherung der DDR wurde die Allianz, aus der Deutschen Volkspolizei Revier Süd die Revierkriminalstelle Süd und aus der Deutschen Post die Deutsche Bundespost.
Zum nunmehr bundesdeutschen Tagesgeschäft eines Vereins gesellte sich freilich ein ganz anderes Problem – das einer zunehmend angespannten Sicherheitslage. Für Anfang Juli 1990 ist zum ersten Mal überliefert, dass Neonazis die Stöckartstraße gezielt angriffen. Wie Die Andere Zeitung berichtete, hatten die Täter die Fensterscheiben der Galerie StöckArt zerschlagen und Molotow-Cocktails geworfen, die jedoch keinen größeren Schaden anrichteten. Der Meldung war überdies zu entnehmen, dass der Polizei »bereits 6 entsprechende Anzeigen« vorgelegen hätten. Und tatsächlich hatten sich derartige Angriffe seit dem Jahreswechsel abgezeichnet. Ab diesem Zeitpunkt waren all jene, die auf den Montagsdemonstrationen vor überstürzter Vereinigung gewarnt oder auf Eigenständigkeit der DDR beharrt hatten, zunehmend Anfeindungen oder sogar körperlichen Übergriffen ausgesetzt gewesen, so zuletzt auf der Wahlkundgebung Helmut Kohls am 14. März auf dem Augustusplatz, wo Neonazis und Passanten im Anschluss unbehelligt Jagd auf Ausländer und Linke machten, die sich daraufhin in die Mensa der Universität flüchteten. Im Herbst 1990, in Hinblick auf die Wiedervereinigung, häuften sich diese Übergriffe. Offensichtlich spornte die wiederhergestellte Einheit Nazis dazu an, mit Allem aufzuräumen, was ihnen nicht »deutsch« erschien. Zumindest ereigneten sich ab dem Herbst beinahe im Wochentakt nächtliche Angriffe auf besetzte oder als »links« wahrgenommene Projekte in Leipzig, so auf die Villa in der Karl-Tauchnitz-Straße in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober, und dann auch auf die Häuser in der Stöckart-Straße am 13., 22. und 27. Oktober.
Wenn es so etwas gibt wie eine »hässliche« Seite von 1990, dann zweifelsohne diese Übergriffe (die denen auf Ausländer und Vertragsarbeiter in »Hässlichkeit« in nichts nachstanden). In Bezug auf 1990 ist daran jedoch auch interessant, dass sich die Angriffe mit der Wiedervereinigung noch einmal intensivierten, und dies nicht allein, weil Neonazis sich angesichts des Vollzugs der Einheit dazu bemüßigt fühlten, sondern auch, weil der Wechsel der Staatlichkeit die Behörden offenbar vor große Probleme stellte, derartige Übergriffe wirksam zu unterbinden. In der Tat sind die Beispiele Legion, in denen die Polizei in jener Zeit nicht, nur widerwillig, zu spät oder in ungenügender Zahl an Orten erschien, wo Rechte besetzte Häuser, Jugendklubs (und später Asylbewerberheime) attackierten. Sie kam, um genau zu sein, ihrem Auftrag, für Recht und Ordnung zu sorgen, nicht länger nach. Auch mit der Strafverfolgung haperte es. Die Ermittlungen zu einer Sachbeschädigung beispielsweise, während der auf den Vorsitzenden der Connewitzer Alternative im Oktober eine Schusswaffe abgefeuert worden war, und die dieser zur Anzeige gebracht hatte, wurde zwei Monate später mit Verweis auf mangelnde Ermittlungserfolge eingestellt ‒ und dies, obwohl man den Behörden das polizeiliche Kennzeichen des Autos der Angreifer hatte mitteilen können. Die Frage ist freilich, ob die Polizei diese Übergriffe aus unterschwelliger Sympathie mit den Angreifern nicht unterband, wie heute bisweilen unterstellt wird, oder inwieweit sie dazu überhaupt in der Lage war. In Bezug auf die Connewitzer Alternative sprechen die Beispiele eher für Unvermögen, denn für Unwillen. Denn zunächst waren beide Seiten durchaus eine Sicherheitspartnerschaft eingegangen; zumindest hatte man sich im Vorfeld des 3. Oktober mehrfach darüber verständigt, welche Gefahr zu erwarten war und sich verabredet, dass Connewitz bestreift würde und wer im Notfall zu kontaktieren war. In die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken hineingezogen zu werden, waren die demoralisierten und schlecht ausgerüsteten Angehörigen der ehemaligen Deutschen Volkspolizei dann in der Tat nur wenig gewillt, wie sich kurz darauf zeigte: Als die Polizei am 27. Oktober tatsächlich mit 15 Streifenwagen in Connewitz erschien, um einen Angriff von bis zu 200 Neonazis auf die Stöckartstraße aufzulösen, sah sie sich angesichts der äußerst gewaltbereiten Masse rechter Jugendlicher, die nun mit Pyrotechnik und Kanthölzern auf die Ordnungskräfte losging, gezwungen, mehrere Schüsse abzugeben. Eine Woche darauf kam es in einer ähnlichen Situation – bei Ausschreitungen anlässlich eines Fußballspiels zwischen dem FC Sachsen Leipzig und dem FC Berlin ‒ gar zu einem Todesopfer, als die Polizei Angriffe auf sich mit Schüssen in die Menge beantwortete. Offensichtlich hatte die Wiedervereinigung den neuen Strukturen ein Machtvakuum überantwortet, das sich in deren Folge ‒ der eigentlichen Übergangszeit, in der die neuen Strukturen nur begrenzt griffen ‒, noch verschärfte.
Jene Gewaltfrage war es schließlich auch, über der sich Teile der ersten Generation der Connewitzer Alternative von dem Projekt abwandten. Angesichts der zunehmenden Neonazi-Angriffe hatten sich sowohl innerhalb des Vereins als auch in Connewitz Stimmen gemehrt, die forderten, dazu überzugehen, die Überfälle nicht länger hinzunehmen, sondern sich zu wehren und auch in die Offensive zu gehen, d.h. aus den Häusern zu kommen und die Angreifer nach Möglichkeit in die Flucht zu schlagen. Die damit verbundene Militanz erschien nicht wenigen der sich als »gewaltfrei« und »pazifistisch« verstehenden Gründergeneration als zu radikal, zumal sie zunehmend politisch, d.h. »antifaschistisch« und »links« begründet wurde. Der Dissens, der auch personell Folgen hatte, indem er dazu führte, dass viele der Erstbesetzer im Frühjahr 1991 die Stöckartstraße verließen, ruft freilich noch einmal die Spezifik der Gründung der Connewitzer Alternative im März 1990 in Erinnerung. Er verweist nicht nur auf die Tradition der Ablehnung von Gewalt innerhalb der Bürgerbewegung, wie sie ein Kennzeichen (wenn nicht gar eine Bedingung) der Friedlichen Revolution gewesen war, sondern auch darauf, dass der Verein als solcher in erster Linie ein »alternatives«, und nicht zwingend ein linkes, geschweige denn »linksautonomes« Projekt gewesen war. Als kleinster gemeinsamer Nenner hatte den Beteiligten im Zuge der Aufbruchsstimmung des Frühjahrs 1990 die Vorstellung jenes ‒ wie es in der Satzung geheißen hatte ‒ »inhaltlich freien Raumes« genügt. Auf diese Entwicklung kann man zwiespältig schauen oder nicht. So ließe sich anführen, dass eine fehlende kohärente politische Vision der Gründergeneration dazu geführt habe, dass diese sich bald aus dem Projekt zurückzog; man könnte aber auch geltend machen, dass das, wofür sie 1989 angetreten war ‒ nämlich in erster Linie politische Freiheit und das Ende von Bevormundung ‒ mit der Wiedervereinigung eingelöst worden war und keiner Fortführung mehr bedurfte.
Wenn man so will, steht das Schicksal der zwei Ordner der Connewitzer Alternative im Leipziger Infoladen also sinnbildlich für den Bedeutungsverlust des Vereins innerhalb der Connewitzer Szene. Dieser vollzog sich endgültig zwar erst zur Jahreswende 1992/1993, als der Verein nach internen Differenzen anlässlich einer Straßenschlacht mit der Polizei vollends zerbrach und die in der Alternative versammelten Häuser eigene Wege gingen, hatte sich jedoch bereits über das Jahr 1990 hinweg angekündigt. Analog dazu gab es irgendwann auch keinen Bedarf mehr für das Archiv der Connewitzer Alternative, wobei offenbar doch jemand so etwas wie eine Ahnung hatte, dass den Akten eine gewisse Bedeutung zukam und sie besser nicht verloren gehen sollten, und sie deshalb dem Infoladen übergab. Und in der Tat ist ihnen einiges an Einsichten zu entnehmen.
In Bezug auf Connewitz und die Anfänge der Hausbesetzerbewegung hielten die beiden Ordner gleich mehrere Überraschungen bereit. Am erstaunlichsten ist dabei sicher der Zusammenhang zum Neuen Forum bzw. dessen ausgesprochen realistischer Einschätzung, was im Frühjahr 1990 mit der unaufhaltsam auf die Einheit zusteuernden DDR noch anzufangen war bzw. dass es aussichtslos sein würde, gegen den Willen der Mehrheitsbevölkerung anzukämpfen. Genau genommen resultiert Connewitz als alternatives Viertel demnach nicht nur aus der Unfähigkeit der realsozialistischen Bürokratie, den Abriss eines Stadtviertels zu organisieren; es verdankt sich gleichermaßen der »Wende in der Wende«, dem gesamtdeutschen Turn weiter Teile der ostdeutschen Bevölkerung, die um jeden Preis die Einheit wollte, und stellt demzufolge eigentlich ein »Rückzugsgefecht« der Oppositionsbewegung dar. ‒ ‒ Auch zu den heute allerorten zu vernehmenden Beschwörungen, Connewitz sei einst »erkämpft« worden, die gern als Vorbild für gegenwärtige, womöglich militant zu führende Kämpfe gegen Gentrifizierung bemüht werden, will der Inhalt beider Ordner nicht so recht passen. Im Gegenteil, nicht nur die Ausgangslage – ein, wenn man so will, leerstehender Stadtteil, der nur darauf wartete, in Besitz genommen zu werden ‒, vor allem aber äußerst wohlwollende Behörden, die umgehend mit Nutzungsverträgen und Reparaturarbeiten aufwarteten, legen vielmehr nahe, dass hier nicht gegen Widerstände etwas »besetzt«, geschweige denn »erkämpft« werden musste. Vielmehr war es die Übergangszeit selbst, die derart günstige Bedingungen schuf. Mehr noch, während es stimmen mag, dass Connewitz gegen Neonazis verteidigt werden musste, war es einem als solches nachgerade in den Schoß gefallen. Und selbst die Sicherheitslage wirft Fragen auf. Zumindest steht die zeitweilig mit den Ordnungshütern eingegangene Sicherheitspartnerschaft, auch wenn sie recht schnell in Enttäuschung umschlug, im auffälligen Gegensatz zu der von blindem Hass gekennzeichneten Haltung, mit der die Polizei südlich des Connewitzer Kreuzes heute für gewöhnlich bedacht wird.
Resultiert aus diesem Befund aber auch ein neues Bild des Jahres 1990? Hier ist die Antwort schon schwieriger, und dies nicht nur, weil sich die Frage stellt, wie repräsentativ die Erfahrungen der Mitglieder der Connewitzer Alternative verglichen mit dem Gros der DDR-Bürger eigentlich waren. Durch ihre Augen jedenfalls erscheinen die Ereignisse des Jahres 1990 durchaus als Erfolgsgeschichte. Dazu reicht ein Gang durch das ehemalige Sanierungsgebiet Biedermannstraße, wo man den Eindruck gewinnen kann, als hätten sich die vormaligen Ziele der Connewitzer Alternative größtenteils erfüllt: Der Abriss wurde gestoppt, die Altbauten saniert, Freiflächen anteilig mit sozialem Wohnungsbau bebaut, Nebenstraßen begrünt, ein Kindergarten, ein Spielplatz und ein Seniorenheim errichtet, und der Platz für diverse linke Initiativen und Kneipen ‒ den immer wieder beschworenen »Freiraum« ‒ erhalten. Dazu, dies anzuerkennen, zählt freilich auch, dass es vornehmlich der von Beginn an an den Tag gelegte Legalismus war, der das Überleben der im März 1990 für die Connewitzer Alternative in Besitz genommenen Häuser sicherte. Jedenfalls sind es genau diese Häuser (und einige in Trägerschaft städtischer Ämter stehende Vereine), und nicht die »wilden«, sich dem Abschluss von Verträgen entziehenden Besetzungen, die es in Connewitz auch gab, die bis in die Gegenwart überlebt haben. Zu dem Bild jedenfalls, 1990 sei das Jahr gewesen, in dem die Ostdeutschen »betrogen« wurden, will diese Erfolgsgeschichte nicht so recht passen. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, als habe sich just in diesem Jahr ein ungeheurer Freiraum eröffnet, der dem, der es wollte, weder zuvor denkbare noch danach wieder erreichte Möglichkeiten freier Entfaltung bot. Vielleicht war 1990 doch nicht so ein fürchterliches Jahr, wie heutzutage gemeinhin angenommen wird.
Philipp Graf