• Titelbild
• Editorial
• das erste: Eine Erfolgsgeschichte. Zwei Aktenordner, oder: das Jahr 1990 durch die Augen der Connewitzer Hausbesetzerszene
• Das Imperiale Russland und seine Huldigung durch linke Dogmatiker:innen
• Skill Sharing - Feminist*in-Sein – Selbsterfahrungspraxis Reloaded!
• RECHT EXTREM - über eine rechte Gewerkschaft aus der Autobranche
• Stellenanzeige: Redakteur*in gesucht! (m/w/d)
• Spieleabend im Lixer
• 105 bezahlbare Wohnungen in LEIPZIG SÜD erhalten
• das letzte: Liegen bleiben
Das Jahr 1990 ist in aller Munde. Sei es in der Belletristik oder im ZDF-Fernsehspiel, im Feuilleton oder in der politischen Bildung – allerorten wird dem Jahr 1990 seit geraumer Zeit spezifische Aufmerksamkeit zuteil. Gemein ist diesen Zugängen jeweils, dass sie einen neuen, bislang vernachlässigten Blick auf die Wendezeit zu präsentieren vorgeben. Und in der Tat ist nicht zuletzt anlässlich der 30jährigen Jubiläen von Friedlicher Revolution und deutscher Wiedervereinigung in den vergangenen drei bzw. zwei Jahren darauf hingewiesen worden, dass das Jahr 1990 im Vergleich zur Ereignisikone »1989« für lange Zeit ein Schattendasein fristete. Das öffentliche Gedenken etwa an die Ereignisse vor 30 Jahren habe sich Jubiläum für Jubiläum auf den Herbst ´89 konzentriert; jenseits dessen komme das Jahr 1990 allenfalls in Form des Vollzugs der Wiedervereinigung am 3. Oktober vor. Die Zeit dazwischen, also zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung (aber auch darüber hinaus) sei indes gleich einem schwarzen Loch dem Vergessen anheimgefallen. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von Publikationen wie dem fulminanten Katalog »Das Jahr 1990 freilegen«, der vor mittlerweile drei Jahren im Leipziger Verlag SpectorBooks erschien, diese Lücke näher bestimmt zu haben. Auf nahezu 600 Seiten unternimmt dieser mittels Fotografien, Zeitzeugenberichten und Artefakten wie zeitgenössischer Illustrierten-Werbung eine »Remontage der Zeit«.
Zugleich gibt es mehr als ein historisches Interesse daran, wie ein ganzes Jahr derart in der Erinnerung absinken konnte. So ist das seinerseits zur Chiffre geronnene »1990« nach seiner »Wiederentdeckung« selbst Gegenstand politischer Debatten. Schon die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung zwischen dem Religionssoziologen Detlef Pollack und dem Historiker und ehemaligen Bürgerrechtler Ilko-Sascha Kowalczuk, die beide im Sommer 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung führten, berührte auch das Jahr 1990. Zwar stritten sie in erster Linie darum, welchen Anteil die Bürgerrechtsbewegung an der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 hatte, ob nämlich – so Pollack – nicht die Beteiligung der Normalbevölkerung letztendlich den Ausschlag für ihr Gelingen gab. Auch hier machte sich im Hintergrund jedoch bereits die Problemlage bemerkbar, dass es der sich im Jahr 1990 überschlagende Einigungsprozess gewesen war, der die politischen Optionen der Bürgerbewegung des Jahres 1989 entwertet, ja diese eigentlich obsolet gemacht hatte.
Kowalczuks Replik auf Pollack, so ist angemerkt worden, fiel womöglich auch deshalb so harsch aus, weil er sich gezwungen sah, sich ihm unliebsamer Bezugnahmen auf 1989 zu erwehren. So hatte die Alternative für Deutschland im Landtagswahlkampf 2019 die Erinnerung an 1989 politisch nutzen wollen, indem sie erklärte, die Wende müsse »vollendet« werden. Was damit genau gemeint war, wird wohl für immer das Geheimnis der AfD bleiben; Kowalczuk jedenfalls verbat sich verständlicherweise die Instrumentalisierung »seiner« Revolution von rechts außen, wobei er glaubhaft nachweisen konnte, dass die Bürgerrechtsbewegung dereinst mit völkischen oder anderen rechten Parolen nichts am Hut gehabt hatte. Dieser Nachweis freilich konnte nur zu dem Preis erfolgen, nicht über die politischen Einstellungen der »Normalbevölkerung« des Jahres 1990 zu sprechen und dass sie es war, die durch ihre Parteinahme für Helmut Kohl und die Allianz für Deutschland der Reformierbarkeit des Sozialismus endgültig eine Absage erteilte und die Einheit erzwang.
Andere Wortmeldungen hingegen unternehmen durchaus den Versuch, das Wahlverhalten der Ostdeutschen 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution mit den Ereignissen von 1990ff. zu erklären. Für das spätere Kreuz bei der AfD werden dabei gleich mehrere Belege im Jahr 1990 lokalisiert. So sei der Sieg der Allianz für Deutschland bei der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 »völkerrechtswidrig« zustande gekommen, urteilt beispielsweise die Publizistin Yana Milev, indem die West-CDU Wahlkampf in der souveränen DDR geführt habe; überhaupt, so der vormalige Chefredakteur des Leipziger Stadtmagazins Kreuzer, Andreas Raabe, sei fraglich, ob die DDR-Bevölkerung nur wenige Wochen nach dem Herbst 89 »zurechnungsfähig« gewesen war, um derart einschneidende Entscheidungen treffen zu können. Auch weiteren Ereignissen des Jahres werden solcherart Deutungen zuteil. Die Währungsunion zum 1. Juli 1990 etwa sei unter irreführenden Absichten der DDR aufoktroyiert worden – ihre Notwendigkeit (die drohende massenhafte Abwanderung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik) sei nicht nur übertrieben gewesen, vielmehr hätte es sich eigentlich um eine geplante »Insolvenzsetzung« der DDR-Wirtschaft gehandelt, mit dem Ziel, westdeutschen Unternehmen den Boden zum Ausverkauf der DDR zu bereiten. Die Liste ließe sich fortsetzen, wobei sie früher oder später stets auf den Höhepunkt zusteuert, wonach die Einrichtung der Treuhand primär dem generalstabsmäßigen Ausverkauf der DDR gedient hätte. Die Ostdeutschen, so das Credo einer ganzen Reihe von Beiträgen zum »vergessenen« Jahr, seien 1990 demnach belogen und um ihre Revolution »betrogen« worden; dieses Trauma halte bis heute an und führe entsprechend zur Parteinahme für die AfD. Ob der Debatte über die politische Kultur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wirklich geholfen ist, wenn man weiten Teilen der Ostdeutschen rückwirkend unterstellt, sie seien im Jahr 1990 nicht Herr ihrer Entscheidungen gewesen und benutzt worden, sei dahingestellt; allerorten ist jedenfalls zu vernehmen, man müsse zur Erklärung des Wahlverhaltens der Ostdeutschen »die Zeit [von und] nach 1990 einbeziehen.«
In dieser Konstellation kommt ein Quellenbestand gerade recht, dessen ich vor einiger Zeit durch Zufall gewahr wurde. Die Rede ist von zwei unscheinbaren Aktenordnern der »Connewitzer Alternative«, auf die ich vor gut drei Jahren im Leipziger Infoladen – einem Archiv linker Gruppen im Soziokulturellen Zentrum Conne Island ‒ stieß, als ich dort in einer anderen Angelegenheit recherchierte. Mein Erstaunen angesichts der zwei vergilbten Ordner war immens: Sollte es sich hier wirklich um so etwas wie das Archiv der »Connewitzer Alternative« handeln, jenes Vereins, der gemeinhin als Keimzelle der bis heute bestehenden Hausbesetzer- und linken Szene in Leipzig-Connewitz gilt? Ein erster Blick in die Ordner schien diese Vermutung zu bestätigen. Sie enthielten in der Tat Protokolle und Konzeptpapiere des Vereins, aber auch Schriftverkehr mit Behörden und Ämtern, Privatpersonen und der Polizei für den Zeitraum 1990 bis 1992.
Zunächst richtete sich mein Interesse auf Fragen der Überlieferung. Dunkel in Erinnerung war mir, dass sich die »Connewitzer Alternative« Anfang der 1990er Jahre aufgelöst hatte und aus ihr eine Wohnungsgenossenschaft hervorgegangen war, die bis heute ein gutes Dutzend ehemals besetzter, nun mit Verträgen ausgestatteter Häuser verwaltet. Warum aber hatte die AWG, die Alternative Wohngenossenschaft Connewitz, das Archiv ihrer Vorgängerin nicht übernommen? Auf welchem Wege waren die Ordner in eine Einrichtung wie den Infoladen gelangt, die gemeinhin dafür bekannt sind, Periodika und sogenannte graue Literatur zu sammeln, nicht aber Archivgut im engeren Sinne? Irgendetwas – und das machte die Sache nur interessanter ‒ war merkwürdig an diesen beiden Aktenordnern und dass sie den Weg in den Infoladen gefunden hatten, wo sie zudem dem Anschein nach eher ein unbeachtetes Dasein fristeten. (Erst später, während der Recherchen zu diesem Vortrag, stieß ich darauf, dass sie sehr wohl schon einmal konsultiert worden waren, und zwar für die Master-Arbeit der Leipziger Geographin Sophie Perthus, die 2016 unter dem Titel »Kommunale Kriminalprävention in Leipzig-Connewitz im Dienste der Inwertsetzung des Stadtteils, 1990–2014« erschien.)
Sodann wandte sich mein Interesse ihrem Inhalt zu. Was würde den beiden Ordnern an Informationen zu entnehmen sein? Sie erschienen in jedem Fall auch deshalb von möglichem Wert, weil Genaueres über die Anfänge der Hausbesetzerbewegung in Connewitz eigentlich nicht bekannt ist. Sicher weiß man (das haben mittlerweile selbst überregionale Tageszeitungen zur Genüge wiederholt), dass sich Connewitz als linkes Viertel der Wendezeit verdankt, als das Interregnum zwischen untergehender DDR und sich vereinigendem Deutschland günstige Bedingungen schuf, aufgrund derer sich in Connewitz eine alternative Szene ansiedelte. Das Wissen darüber freilich basiert neben den Orten, die aus dieser Zeit noch bestehen, wesentlich auf Hörensagen, auf vornehmlich mündlichen Überlieferungen in Form von Erzählungen oder Zeitzeugeninterviews, während quellenbasierte Forschung sowohl aufgrund der geringen zeitlichen Distanz als auch der ausgeprägten Abneigung der linken Szene gegenüber ihrer eigenen Historisierung eigentlich (bis auf Ausnahmen) gar nicht vorliegt. Auch vor diesem Hintergrund erweckten die beiden Ordner mein Interesse, stellen sie doch womöglich eine Materialsammlung dar, anhand derer sich die mit den Anfängen der Connewitzer Hausbesetzerszene verbundenen Erzählungen (um nicht zu sagen: Legenden) kontextualisieren lassen.
Schließlich war auch die Verbindung ins Jahr 1990 recht schnell augenfällig, das zu dem Zeitpunkt, als ich auf die Ordner stieß, bereits Interesse auf sich zog. Nicht von ungefähr ziert beispielsweise den Rückumschlag des erwähnten Katalogs »Das Jahr 1990 freilegen« eine Fotografie aus Connewitz, eine Ansicht der Biedermannstraße nämlich, in der die Spezifik von 1990 ‒ das Nebeneinander von alter und neuer Zeit, von zum Abriss freigegebenen Altbauten und noch in Entstehung befindlichen Plattenbauten ‒ emblematisch eingefangen zu sein scheint. Inwieweit also würde sich der Verlauf des Jahres 1990 in den Akten der Connewitzer Alternative abbilden und welche der Prämissen, mit denen für gewöhnlich auf das Jahr 1990 geschaut wird, ließen sich erhärten? Würden sich Belege finden lassen für die heute bemühten »neuen« Perspektiven, die das Jahr 1990 als das annum lokalisieren, in dem die Ostdeutschen »betrogen« wurden? Verbindet sich mit der Linken als angenommener »Verliererin der Revolution« gar so etwas wie ein besonderes Erkenntnispotential auf die Wendezeit? ‒ ‒ Solcherart Fragen gingen mir beim Anblick der beiden Ordner durch den Kopf, das berufsbedingte Interesse des Historikers war geweckt, wobei ich mir weniger überbordende neue Erkenntnisse versprach, sondern mich zunächst schlicht die Neugier umtrieb, wie sich das Jahr 1990 wohl in beiden Ordnern spiegeln würde. Sein Niederschlag soll im Folgenden anhand dreier Schlaglichter vorgestellt werden.
I.
Schon die Entstehung der »Connewitzer Alternative« ist ‒ wen wundert es ‒ untrennbar mit dem Jahr 1990 verbunden, und dies nicht nur, weil die Gründung des Vereins auf das Frühjahr 1990 datiert, genauer auf den 29. März. Sie ist es auch deshalb, weil der Entschluss zur Besetzung von Häusern in Connewitz auf das Engste mit der sich verändernden Lage in jenem Frühjahr korreliert, genau gesagt damit, dass die Friedliche Revolution endgültig an ihr Ende gekommen war. Die Legende will es nämlich, dass die Entscheidung zur großangelegten Besetzung von leerstehenden Altbauten in Connewitz sowohl seitens Aktivistinnen und Aktivisten gefasst wurde, die der Bürgerbewegung Neues Forum angehörten oder mit ihr sympathisierten, als auch am Abend des 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR. Wieso genau an jenem Abend? Weil auf der Wahlparty des Neuen Forum im Leipziger Haus der Demokratie, so erzählen es zumindest zwei Beteiligte, in jener Nacht das blanke Entsetzen geherrscht hatte: Die im sogenannten Bündnis 90 zusammengeschlossenen Urgesteine der Bürgerbewegung vom Herbst 89 ‒ Neues Forum, Demokratie Jetzt! und die Initiative für Frieden und Menschenrechte (die von sich selbst als den »Initiatoren der Revolution« sprachen) ‒ hatten gemeinsam gerade einmal 2,91 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können.
Damit freilich war der Traum, die DDR reformieren zu können (ungeachtet dessen, wie divers die Ansätze dazu gewesen waren), ausgeträumt. Der unerwartet überwältigende Sieg der Allianz für Deutschland (bestehend aus CDU, Demokratischem Aufbruch und Deutsch-Sozialer Union) ließ nicht nur den baldigen Anschluss an die Bundesrepublik antizipieren bzw. dass dieser Weg unaufhaltsam eingeschlagen war; das schlechte Abschneiden der Bürgerbewegung bedeutete auch, dass sie im parlamentarischen System der Volkskammer keine gestaltende Rolle mehr einnehmen würde, wie noch unter der kurzlebigen Regierung Modrow, in der man mehrere Minister ohne Geschäftsbereich gestellt hatte. Lapidar vermerkte das Leipziger Wochenblatt Die Andere Zeitung, das Sprachrohr der Bürgerbewegung, unter der Überschrift »Der letzte Tag« eine Woche nach der Wahl: »Die Zeit der großen Ideen scheint erst einmal vorbei zu sein.« ‒ Die Angehörigen des Leipziger Neuen Forum wiederum, so heißt es, machten daraufhin aus der Not eine Tugend, und fassten noch in der Wahlnacht den Entschluss, der großen Politik abzuschwören und »etwas Konkretes« zu unternehmen ‒ nämlich sich der Besetzung von Häusern zuzuwenden. Und in der Tat war als Kontaktadresse der kurz daraufhin gegründeten »Connewitzer Alternative« das Haus der Demokratie ebenso angegeben wie erste Entwürfe für Konzepte des neuen Vereins auf den Rückseiten von Werbematerial des Neuen Forums niedergeschrieben wurden, das noch in Hinblick auf die Volkskammerwahl produziert worden war.
Dass Mitglieder des Neuen Forum oder Sympathisanten von ihm zur Praxis der Besetzung griffen, mutet unterdessen nur heute zufällig an; in der Wendezeit war es ein weit verbreitetes Phänomen, das nachgerade zum Signum der Bürgerbewegung geworden war. Schon der erste Ableger des Neuen Forum in Leipzig hatte in Ermangelung eigener Räume, in denen man sich treffen konnte, am 23. Oktober 1989 ein leerstehendes, zum Abriss freigegebenes Haus in Lindenau in Besitz genommen und dort ein Kontaktbüro eingerichtet. Mehr Aufmerksamkeit erfuhr gut anderthalb Monate später dann die Besetzung der Leipziger Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit in der sogenannten »Runden Ecke«, während der Bürgerrechtler erwirkten, dass die Vernichtung der Akten gestoppt und die Räume versiegelt würden. Und auch mit dem Haus der Demokratie, das sich der Runde Tisch im Dezember 1989 von der SED-geführten Stadtverwaltung erstritt, verhielt es sich ähnlich – um den neugegründeten Bürgerinitiativen und Parteien ein geeignetes Arbeitsumfeld zu ermöglichen, hatten diese erwirkt, dass ihnen zum 2. Januar 1990 das Haus der SED-Stadtleitung in der Bernhard-Göring-Straße zur Nutzung übertragen wurde. Schließlich waren Angehörige des Neuen Forum darunter, als im Februar 1990 der ehemalige Sitz der FDJ-Stadtleitung in der Karl-Tauchnitz-Straße, die sogenannte »Villa«, besetzt und in das erste selbstverwaltete Jugendzentrum Leipzigs umgewandelt wurde. Dies vollzog sich bereits analog zur »Connewitzer Alternative« aus der Motivation heraus, sich nach der für beendet angesehenen Revolution »überschaubareren Aufgabe[n]« zuzuwenden. Nicht nur von den Akteuren, sondern auch von der Praxis her führte ein roter Faden von der Bürgerbewegung des Jahres 1989 zu den Besetzungen des Frühjahrs 1990.
Aber auch Connewitz war nicht beliebig gewählt. Zum einen besaß der Stadtteil bereits den Ruf als »alternatives« Viertel. Vor allem die Praxis der Zuweisung von in Connewitz gelegenen Wohnungen an Studierende Leipziger Hochschulen hatte in dem Arbeiterviertel für eine gewisse Vielfalt gesorgt. So ist es letztlich kein Zufall, dass zwei der wichtigsten Chronisten, die unser Bild von Connewitz seit den 1980er Jahren entscheidend geprägt haben, Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst waren und als solche eine Wohnung in Connewitz zugewiesen bekommen hatten. Die Rede ist von Thomas Steinert, der bereits seit 1972 in Connewitz wohnte und en passant den Verfall des Viertel dokumentierte, und von Mahmoud Dabdoub, einem seit 1982 in Connewitz lebenden palästinensischen Austauschstudenten, der mit der Kamera vor allem anachronistische Aspekte der DDR-Moderne festhielt. Sie, aber auch eine ganze Reihe anderer Künstler und Kunstschaffender wie beispielsweise Judy Lübke, der zwischen 1985 und 1990 seine heute weltberühmte Galerie Eigen+Art in einem Hinterhof der Fritz-Austel-Straße (heute: Bornaische Straße) betrieb, sorgten dafür, dass Connewitz bereits vor der »Wende« alternatives Flair verströmte. Hinzu trat die auch in Connewitz verbreitete Praxis des »Schwarzwohnens«, d.h. der stillschweigende Bezug leerstehender Wohnungen durch junge Leute, der seit Mitte der 80er Jahre merklich angestiegen war. So waren bereits 1983 in der Stöckart-Straße mehrere Wohnungen besetzt worden.
Zum anderen war im Januar 1990 in einem weiteren Akt bürgerbewegter Initiative ein Abrissstopp für weite Teile von Connewitz erwirkt worden. Angesichts der sich wandelnden politischen Umstände hatte u.a. der oberste Denkmalschützer der Stadt Leipzig mittels einer eigenhändig einberufenen »Volksbaukonferenz« erreicht, dass der seit Jahrzehnten geplante und 1984 auch offiziell beschlossene Teilabriss von Alt-Connewitz ausgesetzt wurde. Ganze Straßenzüge im Dreieck von Bornaischer, Meusdorfer und Wolfgang-Heinze-Straße, die bereits zum Abriss vorbereitet, d.h. »freigewohnt« worden waren, blieben seitdem zwar vom Abbruch verschont, waren jedoch auch weiterhin sich selbst, d.h. dem Verfall und Plünderungen überlassen. Ihre Bausubstanz war katastrophal, da sie nicht nur generell dem Mängelregiment der DDR-Bauwirtschaft unterstanden hatten, wie praktisch alle Altbauten, sondern da ihr Schicksal seit den 1970er Jahren als besiegelt galt ‒ sie sollten langfristig durch Plattenbauten ersetzt werden, weshalb an ihnen keinerlei Reparaturen geschweige denn Investitionen mehr vorgenommen wurden. Dies war der eigentliche Grund gewesen, weshalb die Kommunale Wohnungsverwaltung Wohnzuweisungen nach Connewitz vorgenommen hatte – bis zum endgültigen Abriss sollten sie das Wohnungsproblem entschärfen, wobei man sie aufgrund ihres schlechten Zustands bevorzugt an Studierende vergab. Zum vollständigen Abriss kam es freilich nie – die realsozialistische Bürokratie war selbst mit dem geplanten Abbruch derart überfordert, dass bis zur Jahreswende 1989/1990 nur weite Teile der Biedermann-Straße abgerissen worden und an ihrer Stelle lediglich ein Plattenbau im Rohbau errichtet worden war (nämlich jener eingangs gezeigte des Typs WB70). Den Rest besorgte die politische Wende, in der der geplante Abriss gänzlich zum Stillstand kam und damit sowohl Häuser als auch Arbeitsgerät zunächst sich selbst überlassen blieben.
In diese Lücke stießen im März 1990 die Pläne der Aktivisten des Neuen Forum, deren Büroräume im Haus der Demokratie im Übrigen nur einen Steinwurf vom Sanierungsgebiet entfernt lagen. Ihre Motivation changierte dabei. Unter dem (falschen) Eindruck, der Abriss von Connewitz müsse verhindert werden, verstand man die Aktion als Beitrag zur Rettung des Stadtviertels, ähnlich so, wie zur selben Zeit (und aus demselben Milieu heraus) die Stilllegung des Braunkohletagebaus Cospuden im Süden Leipzigs erreicht wurde. Angesichts des ernüchternden Ausgangs der Volkskammerwahl erfuhr dieser bürgerbewegte Impetus, der noch ganz dem Geist von 89 entsprach, freilich zusätzlichen Charakter. Wie ein Blick in die Satzung der »Connewitzer Alternative« verrät, die gemeinsam mit der Vereinsgründung am 29. März verabschiedet worden war, beabsichtigten die Instandbesetzer nun nämlich nichts Geringeres, als Connewitz zu einem »selbständig verwalteten Territorium« zu machen, in dem sich »vielfältig[e] soziale und kulturell[e] Strömungen […] in einem nicht profitorientierten und inhaltlich freien Rahmen zur Entfaltung« bringen könnten. Wenn man so will, gedachte man in Connewitz nun also das zu realisieren, wofür man in Hinsicht auf das gesamte Gebiet der DDR in der Volkskammerwahl kein Mandat mehr erhalten hatte.
Philipp Graf