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Aktuelles Heft

INHALT #282

Titelbild
Alles hat ein Ende, nur das Editorial hat keins.
Solidarität als linker Universalismus
»Arbeit, Dienst und Führung« am Beispiel des Leipziger Rüstungskonzerns HASAG.
Skill Sharing - »Füxe, Burschen, Alte Herren – Burschenschaften und ihre Rolle in der Rechten«
Re*mapping Leipzig: Feministisches Vernetzungstreffen und App-Release
Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen.
• interview: Der Lauf der Gentrifizierung ist keine Naturgewalt, die nicht aufzuhalten wäre
• doku: Im Rausch der Vergangenheitsbewältigung
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Dieses Interview ist Teil einer Reihe. Das erste Interview ist bereits im CEEIEH # 281 erschienen und weitere werden folgen.



Der Lauf der Gentrifizierung ist keine Naturgewalt, die nicht aufzuhalten wäre

Interview mit R., der seit 7 Jahren in Connewitz wohnt und in der wohnungspolitischen Initiative VERNETZUNG SÜD aktiv ist.

Gab es eine bestimmte, konkrete Situation, die zur ›Vernetzung Süd‹ geführt hat?

Ich glaube, es entstand aus einer Gemengelage, wie sich das Viertel entwickelt hat und einem Bedürfnis etwas zu tun. Eine Weile bevor wir uns im Frühjahr 2018 gründeten, da hatten sich am Leopold-Park, ehemals der Treuhand gehörend, Nachbarn zum Cornern verabredet. Und dann hingen da wohl so ca. 50 Leute ab, weil man nicht einverstanden war, dass schon wieder die nächste Freifläche für einen Wohnungsbau verschwindet, der wahrscheinlich keine preiswerten Mieten ermöglicht und die Mieten in der Nachbarschaft qua Mietspiegel mittelfristig ansteigen lässt. Ich war selbst nicht dort, aber mich hat geärgert, dass da Leute zusammenkommen und Wut äußern, aber es keine kontinuierliche politische Arbeit zum Thema Stadtentwicklung, Wohnungspolitik und Gentrifizierung gibt und ja, das hab ich für mich zum Anlass genommen, aktiv zu werden. 2018 wurde auch spätestens augenscheinlich, dass das Viertel sich stark verändern wird, weil zu dem Zeitpunkt ganz viele dieser Brachflächen bebaut wurden: Thalysiahöfe am Kreuz, der bereits genannte Leopold-Park, dann gegenüber die ehemalige Ruine an der Mühlholzgasse sowie die Kündigung des Stadtteilgartens neben dem Black Label und dessen Freisitz. Das war sehr geballt an der hinteren Wolfgang-Heinze-Straße. Aber auch an anderen Stellen: Der verhältnismäßig hochpreisige Genossenschaftsneubau auf der Ecke Leopold-/Biedermannstr, und die ehemalige Brache neben der Wiedebach-Passage, die mit teuren Mikroapartments bestückt wurde. Und das geht bis heute so weiter. Es gab in der Zeit auch Sanierungen, Mieterhöhungen sowie akute Entmietungen im Bestand, aber die Neubauten sprangen zu dieser Zeit ins Auge. Wir haben gezählt, seit 2015 sind bis zum heutigen Tag in Connewitz über 1200 Wohnungen neu entstanden und unserer Recherche nach bislang darunter keine einzige Sozialwohnung, also alles bei mindestens 10-12 €/qm kalt. Und das zeigt ja an, dass das Viertel sich von der Sozialstruktur stark verändern wird, bis hin zum Wahlverhalten, anderen politischen Verhältnissen, anderen Konsum- und Lebensgewohnheiten und so weiter. Diese Veränderungen mögen für einige auch angenehme Seiten haben, aber sie geschehen auf Kosten derer, die sich das nicht mehr leisten können.

Und wie ging es dann weiter?

Ich wohne erst seit 2016 in Connewitz und ich habe den Stadtteil da auch erst noch kennengelernt. Und mein erster Anlaufpunkt war das linXXnet. Ich habe dort angefragt: Gibt es Leute, die sich dem Thema Wohnungspolitik kontinuierlich widmen? Gibt es dafür eine Praxis hier im Stadtteil, auch eine, die andere Wege geht, als nur Graffiti und Scherbenbruch? Weil an jeder Stelle hörte man ja von jemanden, dass ihn/sie das ankotzte und dass Leute tatsächlich Probleme mit ihrem Vermieter haben und die Wohnungssuche sich im Viertel als schwierig bis unmöglich gestaltete. Es gab zum Zeitpunkt unserer Gründung bereits andere Gruppen, wie ›Stadt für Alle‹, die gibt es seit 2012, allerdings haben die in den letzten Jahren mehr Gremienarbeit gemacht und sie waren auch nicht in Connewitz und der Südvorstadt verankert.

Es gab hier aber eine Weile vor uns auch schon eine Mietervernetzung, aber sie drohte wieder einzuschlafen. Und dort waren Menschen aus den Entmietungs-Blöcken der Kantstraße und den (noch) unsanierten LWB-Häusern aktiv geworden. Und dann war da auch noch die Thierbacher Str. 6, eine politisch aktive Hausgemeinschaft, die wir gleich von Anfang direkt bei ihrem Protest gegen Entmietung unterstützten. Es gab mit all diesen Initiativen, die – und das ist wichtig zu betonen – vor allem aus der Warte von akut Betroffenen agierten, einen Austausch und Wissenstransfer. Da ging es von unserer Seite aus dann auch um Sicherung und Übertragung dieses Wissens. Etwas, was die Betroffenen selbst meist kräftemäßig nicht leisten können. Es ging oft um ein Mitfühlen und das jemand Drittes mit drauf schaut – was Grundbedingung für eine solidarische Praxis ist.

Und wie kamt Ihr auf den Namen ›Vernetzung Süd‹?

Den hat jemand in die Runde geworfen. Ich überlege manchmal, ob wir das nochmal lieber konkretisieren sollten, weil Vernetzung Süd klingt so »OK wir sind eine solidarische Nachbarschafts-Vernetzung, wir machen ganz vieles, auch bei anderen Themen«, aber wir sind eigentlich monothematisch, eine wohnungspolitische Initiative. Und wir konzentrieren uns vor allem auf Südvorstadt und Connewitz, der Süden Leipzigs umfasst aber natürlich noch mehr Stadtteile.

Könntest du sagen, wann diese Entwicklungen angefangen haben? Ich kann mich erinnern, als ich 2005 nach Leipzig gezogen bin, gab es sehr viele unsanierte Häuser. Und nach ein paar Jahren ging es plötzlich mit Sanierungen los: Schleußig, Plagwitz, Lindenau, Südvorstadt.... Aber ich könnte jetzt nicht richtig einordnen wann, vielleicht 2010?

Also live habe ich das auch nicht miterlebt, aber Connewitz und Südvorstadt waren eigentlich die Stadtteile (vor allem, weil Connewitz Sanierungsgebiet war - erkämpft auch in den Wendejahren) in denen eine erste Sanierungswelle schon Ende der 90er/ Anfang der Nullerjahre abgeschlossen war. Und jetzt ist in den letzten Jahren eine zweite gekommen, beziehungsweise wartet noch, harrt noch aus mit Besitzerwechsel und Mieterhöhungen und Sanierungen, die nach den teilweise auch billigeren Sanierungen aus den Neunzigern und Nullerjahren jetzt noch mal das Potenzial für Anleger*innen aufscheinen lässt, das hochwertiger zu machen und so die Häuser für ein anderes Klientel vermarktbar zu machen… Und bislang rentiert sich dieses Geschäftsmodell.

Deine persönliche Motivation war, dass du da so eine Lücke gesehen und gemerkt hast, da passiert einfach gerade total viel, aber dir fehlt dazu eine politische Bewegung? Also, dass man nicht einfach diesen Umbruch nur so über sich ergehen lassen, sondern dass man auch irgendwie mitreden, mitgestalten möchte?

Genau das ist eigentlich mein Hauptansporn. Raus aus der Resignation! Nicht den Kopf in den Sand stecken, weil ich denke, das ist keine Naturgewalt. Man muss es erstmal verstehen, warum die Entwicklung so passiert.

Der Begriff Gentrifizierung, wie er in Deutschland verwendet wird, haftet eine spezifische Interpretation an. Er wird hier oft sehr kulturell gelesen. Also die Studenten und Künstlerinnen kommen und dann die Mittelstandsfamilien und so weiter und dann die entsprechenden Konsumangebote. Am Ende dieser Interpretationskette steht dann manchmal leider nur noch das Konkurrenzverhältnis als Konsumenten untereinander, also dass man den ›typischen‹ Gentrifizierungsgruppen (was ja schon eine starke Abstrahierung von den einzelnen Personen bedeutet) den Herzug nur noch vermiesen will.

Im englischsprachigen Raum ist Gentrifizierung mitunter materialistischer gefasst, da geht es mehr darum: Wie kommt es dazu? Es gibt politische Entscheidungen, die dazu führen, die das begünstigen. Und man könnte dem auch entgegenwirken. Es sind auch ökonomische Großwetterlagen, wie zum Beispiel, dass nach 2008, nach der Wirtschaftskrise, Deutschland einer der Märkte war, wo es besonders attraktiv war, Kapital in Immobilien anzulegen, weil Deutschland ein Mietermarkt ist und die Wohnungen nicht den Mietenden gehören, also verkauft werden können. In Leipzig wohnen ca. 85% zur Miete. Auch deswegen gibt es immer wieder die Hoffnung, es ließe sich da vielleicht Stück für Stück eine soziale Bewegung aufbauen.

Denkst Du es ist eine ›Osterfahrung‹, man möchte dieses Mal in den Wandel eingreifen? Auch die Angst, dass sich alles, was man kennt, komplett verändert, wie du ja meinst, die ganze Zusammensetzung kann auseinanderbrechen und Connewitz könnte in vielleicht 10, 20 Jahren ein komplett anderer Stadtteil sein.

Dafür ist das Phänomen Gentrifizierung zu international. Allerdings das spezifisch Ostdeutsche oder das Lukrative für den Immobiliensektor an ostdeutschen Großstädten, mittlerweile auch mittleren Städten, ist, dass man da eine der höchsten Renditen erzielen kann, weil es hier Häuser gab die 20 Jahre leer standen und keinen neuen Besitzer fanden, weil es nicht die Nachfrage gab und den Wegzug und die Deindustrialisierung. Deswegen sind oder waren zumindest die Häuser für relativ wenig Geld zu erwerben und konnten dann, wenn die Person oder Firma lange genug wartete, von einem sehr niedrigen Wert auf einen sehr hohen weiterverkauft und saniert werden, oft ohne irgendwas an der Bausubstanz zu machen.

War es von Anfang an klar, dass sich in der Gruppe Einzelpersonen, aber auch Initiativen vernetzen? Wie hat sich denn die Struktur von der Gruppe aufgebaut? Es hat sich ja vielleicht erst über die letzten Jahre herauskristallisiert, welche Aufgaben die Vernetzung Süd für sich sieht.

Ja, also jetzt im März werden wir 5 Jahre alt. Wir haben uns noch nicht auflösen und überflüssig machen können (lacht). Ganz am Anfang war diese Wut bei vielen da und sie wollten erzählen, aber es gab auch Ratlosigkeit, wie man eigentlich ansetzen könnte. Es kamen dann auch Leute zu uns, die eine Beratung haben wollten oder einen Tipp, das ist eigentlich immer geblieben, dass wir so eine Art Anlaufstelle für Mieter*innen sind. Wir machen zwar keine rechtliche Beratung, wir verweisen dann an entsprechende Angebote. Wir sehen uns mehr in der Aufgabe, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, auch Protestformen zu entwickeln. Wir sammeln vor allem viel zum Geschehen vor Ort. Das wird sonst nicht dokumentiert, was auf Stadtteilebene passiert, was gebaut wird, wer investiert und wo in den Mietverhältnissen Scheiße passiert und auch warum Leute hier wegziehen. Ganz zu schweigen von jenen, für die ein Herzug gar nicht mehr möglich ist. Die Dokumentation soll künftig noch umfassender veröffentlicht werden, bislang läuft das nur auf unserem twitter-Kanal unter #KeineScheiszebauen. Wer uns bei der Dokumentation der Verdrängung unterstützen will, wir nehmen gern Hinweise entgegen und freuen uns auch über Hilfe das weiter aufzubereiten. Seit einer Weile kooperieren wir deswegen auch mit einer Forschungsgruppe der Uni Leipzig (Wem gehört Connewitz?), die die Eigentümerstrukturen untersuchen.

Als wir unseren ersten Aufruf unter dem Titel »Take it back before it's gone« veröffentlicht haben, luden wir viele Initiativen aus dem Viertel und auch Läden ein, ihn mit zu unterschreiben. Da haben wir uns vor allem bekannt gemacht. Es gab auch die Idee, mehr in Hausprojekte oder in Plena der Vereine zu gehen und sich vorzustellen. Das haben wir anfänglich gemacht, aufsuchenden Aktivismus betrieben, aus der Frage heraus, was interessiert euch an dem Thema und habt ihr auch Ideen dazu? Wenn wir heute noch ein paar mehr Leute wären, könnten wir solche Fäden wieder aufnehmen.

Wir haben uns mittlerweile auch mit anderen wohnungspolitischen Gruppen in der Stadt vernetzt und da gibt es jetzt einen intensiveren Austausch. Das alles muss erarbeitet werden und Wohnungspolitik ist halt so ein Thema, was durch die verschiedenen Verantwortlichkeitsebenen vertrackt ist und wo man langen Atem braucht. Man wird nicht schnell viel erreichen und es ist auch immer eine Suchbewegung, was man überhaupt erreichen kann.

Neben der Dokumentation und der Anlaufstelle für betroffene Mieter*innen sind wir eigentlich schnell auf die Frage gekommen: Was können wir denn überhaupt erreichen? Wir führen bei privaten Vermietern vor allem Abwehrkämpfe, d.h.das Schlimmste abwehren oder das Beste gerade noch so rausholen. Wir stellen da auch ein Stück weit moralische Unterstützung her, dass man nicht allein ist, in dieser existenziell bedrohlichen Lage. Und es ist eher selten, dass Mieter*innen in so einer Situation die Kraft haben, ihre Geschichte an die große Glocke zu hängen. Da sehen wir auch unsere Aufgabe, das als Dritte, nicht direkt Betroffene, zu übernehmen und unseren Namen herzugeben – sofern die Mieter*innen dem zustimmen. Das ist auch eine Art Mieterschutz.

Aber wie kommt ihr aus dem Modus Abwehrkampf raus?

Das ergab sich fast von selbst, wenn man verschiedene Wohnungskämpfe – bei verschiedenen Eigentümer*innen – versucht zusammen zu führen: Eins unserer Hauptprojekte sind deshalb die LWB-Häuser geworden. Einige LWB-Mieter*innen waren schon länger aktiv, mit offenen Briefen, einer Einwohneranfrage im Stadtrat usw. Sie wollten mehr Transparenz und Sicherheit bei der Sanierungsplanung und äußerten ihr Unverständnis darüber, dass in den Häusern seit Jahren nicht mehr neu vermietet wird. Wir haben dann aber gemerkt bei den Mieter*innen ist schnell die Luft raus, die sehen »wir kommen hier nicht weiter, auf die offenen Briefe kriegen wir keine Antwort, die zufriedenstellend ist. Die LWB möchte Ansprechpartner haben für jedes Haus, das kriegen wir nicht gebacken oder haben auch ein bisschen Angst davor. Wir wollen lieber als Gruppe auftreten und sind vielleicht auch nicht geübt, uns als Hausgemeinschaft zu organisieren.« Und da haben wir immer mal wieder nachgebohrt und haben auch Vorschläge unterbreitet und daraus entstand dann eine regelmäßige Arbeitsgruppe. Mittlerweile sind wir ein ganzes Stück weiter gekommen und haben Erfolge erzielt. Also die LWB hat uns eingeladen und legte offen, dass sie diese Häuser südvorstadtgerecht sanieren und danach neu vermieten möchte, also bei mindestens 10€ kalt. Als wir dann Anfang 2022 auf der Website der LWB geschaut haben, ob es denn nun eine Ausschreibung für die nächste Sanierung gibt, wurden wir fündig. Wir haben bemerkt, es sind die nächsten 105 Wohnungen dran, in der Kochstr. 13/15 sowie 59-63 und in der August-Bebel-Str. 81/83 und wir beschlossen: jetzt geben wir mehr Gas, weil das sind die letzten unsanierten Häuser in der Südvorstadt. Hier könnte wirklich noch preiswerter Wohnraum gesichert werden, vor allem, weil sie einer kommunalen Wohnungsgesellschaft gehören, das heißt, letzten Endes könnte der Stadtrat da eine Entscheidung treffen.

Da haben wir dann mit den Mieter*innen zusammen eine Idee gestrickt: »Südvorstadt für alle! Sozial und ökologisch nachhaltig sanieren!« Das haben wir dann zusammen mit dem Stadtbezirksbeirat Süd – ein Gremium, das vielen vielleicht gar nicht so bekannt ist - in den Stadtrat eingebracht. In den nächsten Monaten soll dieser Antrag endlich im Stadtrat debattiert werden.

Wieviel Zeit verbringst du jede Woche mit dieser Arbeit? Weil du hast dich ja in sehr viele Themen eingelesen und eingearbeitet, das ist ja fast ein Studium.

Ja, also wir lernen viel von den Mieter*innen selbst oder aus den Fällen. Es gibt außerdem viel Orga-Arbeit. Ich rechne mit so 10, manchmal sogar 20 Stunden in der Woche. Das ist nur möglich, wenn ich nicht so viel lohnarbeite. Es ist unbezahlte Arbeit, die ich nicht professionalisieren möchte. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass es in Leipzig mehr theoretische Debatten zum Recht-auf-Stadt gibt, sonst stagniert das auch bei mir. Ich bin ja kein Student mehr.

Vielleicht mal so eine BILDzeitungs- Frage: Wer sind so die schlimmsten Vermieter? Kann man das so öffentlich sagen?

Die bösen Überraschungen bekommt man am ehesten bei den Privaten, weil dort halt Weiterverkauf und Eigenbedarfskündigungen usw. drohen, bis hin zu hässlichen Entmietungspraktiken. Aber unter den Privaten gibt es auch Unterschiede. Welche, die selbst mit im Haus wohnen und vielleicht Interesse am Erhalt ihrer Nachbarschaft haben (was spätestens mit den künftigen Erben aber wieder anders aussehen kann). Und dann die großen, die erstmal aufkaufen, z.B. über fehlerhafte Betriebskostenabrechnungen sich eine Extra-Miete verdienen. Naja, und es gab auch schon einzelne Fälle, wo Vermieter*innen sich versuchten in Online-Chats von Mieter*innen einzuschleusen und diese daraufhin stalkten. Eine Sozialtypologie der Immobilienbranche würde sicherlich einige Abgründe offenbaren. Natürlich ist es wichtig zu wissen: wer baut scheiße, wer trägt die Verantwortung, wer agiert wie? Aber Kapitalismus ist ja kein persönliches Herrschaftsverhältnis, sondern es sind die Rahmenbedingungen und Zwänge und ausgenutzten Lücken. Und deswegen muss beim System angesetzt werden.

Helfen da Hausprojekte? Dass so viele Häuser wie möglich gekauft werden und in Selbstverwaltung übergehen? Ist das eine Möglichkeit eine Struktur zu schaffen, mit der ein Stadtteil längerfristig stabilisiert werden kann?

Also ich würde sagen, da Leipzig so ein großer Mietermarkt ist, sind Hausprojekte keine Lösung für alle und keine gesamtgesellschaftliche Lösung. Es können damit gute, interessante Erfahrungen in der Selbstverwaltung oder auch architektonisch neue Konzepte erprobt werden. Auch andere, solidarische Miet-Modelle sind da möglich.

Wir hatten bei einer Veranstaltung im Werk 2 Leute aus Berlin eingeladen, die in einem riesengroßen Plattenbau am Kottbusser Tor einen Mieterrat gegründet haben, bei einer landeseigenen, öffentlichen Wohnungsgesellschaft. Die haben einfach gesagt: »OK, es gibt Betriebsräte, es gibt Personalräte, wir gründen jetzt einen Mieterrat. Wir haben uns eine Satzung geschrieben und sagen: hier, wir wollen jetzt mitmachen!« Und das haben sie tatsächlich ein Stück weit geschafft. Und solche Modelle, die vielleicht nicht als Selbstverwaltung gelten die werden ja in Hausprojekten gelernt, sind aber auch auf die Genossenschaften und die kommunalen Wohnungsgesellschaften anwendbar oder müssten dort wieder mehr vorangetrieben werden, um vielleicht doch noch ein anderes Wohnen in den Blick zu bekommen.

Gibt es etwas Connewitz-spezifisches an eurer Arbeit?

Natürlich müssen wir auch teilweise auf die überregionale Projektionsfläche Connewitz reagieren. Also zum Beispiel haben wir, nach Silvester 2019 und der übertriebenen Aufbauschung von Connewitz als gefährlichen linken Ort, bei einer Demo mitgemacht, die wieder die soziale Frage in den Mittelpunkt linker Politik stellte. Und aus der Connewitzer Szene gab es auch Kritik an unserer Praxis. Das eine war ein Kiez-Patriotismus-Vorwurf, der war aber nicht besonders ausformuliert, hing sich an einer Formulierung in unserem ersten Aufruf auf. Aber ich finde nicht, dass unsere bisherige Praxis eine Schollenmentalität heraufbeschwor. Unser Fokus ist stadtteilbezogen, weil Verdrängung auf dieser Ebene erlebt wird. Und wir konzentrieren uns auch aus pragmatischen Gründen auf ein Gebiet, in dem wir selbst wohnen und das halbwegs überschaubar ist. Eine Kooperation verschiedener ähnlicher Stadtteilinitiativen in Zukunft wäre aber sehr wünschenswert.

Und der andere Vorwurf war, dass wir mit staatlichen Institutionen nicht zusammenarbeiten würden. Was einfach schlecht recherchiert war.

Also die Kritik war nicht, dass ihr mit staatlichen Organisationen zusammenarbeitet, sondern dass ihr es nicht tut?

Dass wir so anti-staatlich borniert seien, Radikalinskis, dass wir jeglichen Staat, dessen bürgerliche oder liberale Ausformungen in Leipzig, dass wir da Chancen nicht annehmen, wenn uns der Oberbürgermeister im Herbst 2020 zu einem Stadtteilgespräch mit einlädt. Aber unsere Absage hatte ganz konkrete Gründe. Wenn man richtig recherchiert hätte, könnte man sehen, dass wir, wenn wir wirklich den Bedarf sehen und nicht nur wegen schlechter Berichterstattung über Connewitz und aktuellem Wahlkampf für eine Symbolpolitik herhalten sollen, dass wir da auch mit der Stadtverwaltung ins Gespräch gehen und parlamentarische Mittel versuchen auszuschöpfen. Aber wir sollten uns natürlich nicht allein auf Parlamentarismus verlassen, als Initiative mit dem möglichen Horizont einer wirklich solidarischen Nachbarschaft.

Ich habe natürlich hier auch noch eine provokante Frage, was denkst du über die neuen Nachbar*innen, die in Luxuswohnungen einziehen, also das ist jetzt natürlich schon sehr gefärbt in der Art, das so zu fragen.

Ich würde ja sagen, viele von denen, die gebaut werden sind, gar keine wirklichen Luxuswohnungen, sie sind teurer im Vergleich zu den bisherigen Mieten, aber ich habe mit Leuten gesprochen, die dort wohnen und die sagen, das ist teuer, aber auch keine so tolle Qualität. Viele dieser Leute sind ja auch nur Mieter*innen und z.B. in den Thalysia-Höfen an der Scheffelstraße, da gibt es Indexmieten von der großen Patrizia AG, ein internationales Immobilienunternehmen aus Bayern, und die Mietverträge sind Indexmietverträge, das heißt, die haben wahrscheinlich gerade ziemlichen Ärger, weil die Miete erhöht sich entsprechend der Lebenshaltungskosten und der Inflationsrate.

Wie wäre denn deine Utopie in Bezug auf Wohnen, vielleicht auch Nachbarschaft?

Ich selbst wohne in einer Art Familien-WG und in einer großen Genossenschaft und das ist zumindest auch ein Versuch aus Formen der Kleinfamilie auszuscheren. Und ich glaube, der Wunsch besteht bei vielen, andere Wohnformen auszuprobieren, der Möglichkeitsraum verengt sich aber, wenn Du immer abhängiger von Markt und Vermieter bist.

Genossenschaften wären auch ein Punkt, wo eigentlich eine stadtpolitische Bewegung mehr ran müsste, die müssten noch mal auf ihr ursprüngliches Ziel zurückerinnert werden und eigentlich noch mal radikaler demokratisiert werden.

Und es braucht eigentlich beides: Wohnutopien und die Anpassung an die sozialen und ökologischen Bedingungen, was auch mit Einschränkung auf verschiedenen Ebenen einhergehen muss. Z.B. weniger Raum für den Einzelnen, aber dafür mehr Gemeingüter, weniger lohnarbeiten, geteilte Repro, zu der auch die Nachbarschaft im besten Falle gehört. Das müsste man aber noch weiter ausbuchstabieren..

Aber das alles muss erkämpft werden, das wird nicht von selbst kommen.

Su

04.09.2023
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